Eine Tote an der Autobahn, Notizen über einen Freund und eine Pilgerfahrt nach Compostela – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
Im Kriminalroman „Tödliches Alibi“ von Hans-Ulrich Lüdemann löst eine Tote an der Autobahn intensive Ermittlungen aus. Allerdings scheinen sie keine konkreten Ergebnisse zu liefern. Oder werden sie absichtlich gestört?
In „B.B., der Augenmensch“ schreibt ein Schriftsteller über das Leben seines Freundes, einen Malers.
Der Roman „Die stumme Braut“ von Renate Krüger führt uns in das spätmittelalterliche Mecklenburg und zu den Hintergründen eines grausamen Verbrechens an Juden, geschehen im Jahr der Entdeckung Amerikas – jedenfalls der durch Columbus. Und da ist da noch eine Pilgerfahrt nach Santiago del Compostela.
Die Handlung von „Vermisst am Rio Tefé“ von Alexander Kröger spielt in Südamerika. Im Dschungel findet ein grausiges Massaker statt. Ein Monster soll zugeschlagen haben …
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. In dem aktuellen Buch geht es um ein höchst umstrittenes, vor allem ethisch höchst umstrittenes Thema – um das Thema Genmanipulation. Was ist gerade noch erlaubt? Was nicht? Und welche noch nicht abschätzbaren Gefahren sind mit solchen Manipulationen verbunden?
Erstmals 2001 erschien „Herr Fischer und seine Frauen. Der Mann, der aus dem Dschungel kam“ von Hannes Hüttner im Verlag Neues Leben Berlin: Eine unerwartete Karriere wird erzählt: Thomas Fischer, Tierarzt, kommt aus den Tropen zurück, von einem harten und entbehrungsreichen Leben. Er ist ein Mann, der die Welt verbessern wollte und dies auch immer noch will. In Deutschland erhofft er sich einen seinen Fähigkeiten angemessenen Arbeitsplatz. Die Welt kennt ihn. Deutschland kennt ihn nicht. Enttäuscht von mühevoller Jobsuche nimmt er schließlich eine langweilige Arbeit in einem biochemischen Labor an. Nun hat er Zeit, seinen Erfindungen nachzugehen, sie zu vervollkommnen, genetisch zu experimentieren. Er könnte die Menschheit verändern, er müsste es allerdings außerhalb aller ethischen Grenzen realisieren…
Ein aktuelles Thema, ein spannender Roman. Hier das 5. Kapitel, in dem wir etwas über die nicht immer leichte Kindheit von Thomas Fischer, von einer verständlichen, aber gewagten Erfindung des Jungen und von einer daraus resultierenden schwierigen Begegnung seiner Mutter erfahren, die sie aber souverän meistert:
„Manchmal hätte Thomas gern einen Vater gehabt. Lehrer sind nicht immer taktvoll.
„Heute reden wir über Berufe. Nun, Thomas Fischer, welchen Beruf übt dein Vater aus?“
Thomas Mutter hatte gesprächsweise erfahren, dass Franz Kampfmüller inzwischen den Domchor in einem niederdeutschen Städtchen namens Keldorf leitete, aber es interessierte sie nicht, sie verdrängte es sofort. Sie schloss die Ereignisse ihrer Jugend weg, weil sie es nicht ertrug, hintergangen worden zu sein. Als Thomas zum ersten Mal nach seinem Vater fragte, wehrte sie ab und vertröstete auf später; als er dann hartnäckiger wurde, erklärte sie, dass jener Vater in einem anderen Land lebe.
Wer keinen Vater hat, erfindet sich einen. Als der Lehrer, der in einer Stunde nur vertrat, aber unwissentlich eine schwärende Wunde aufriss, indem er den elfjährigen Thomas nach dem Beruf seines Vaters fragte, erklärte der Junge kühl, er dürfe darüber nichts erzählen, das sei geheim. Längst hatte er ihn zu einem bedeutenden Kundschafter verklärt, der in den Hochburgen des Feindes nach den immer neu geplanten Anschlägen auf den Sozialismus fahndete.
Die Antwort erregte einiges Aufsehen in der Klasse. Sie brachte zunächst die Stichler und Spötter zum Verstummen, die an einem fehlenden Vater die eigene Überlegenheit festmachten. Aber sie wurde auch im Lehrerkollegium eifrig beredet und wohl auch weitergemeldet, denn bei Brigitte Fischer erschien ein Genosse des Ministeriums für Staatssicherheit, so unauffällig, dass sie ihn hinterher nicht hätte beschreiben können, und fragte sie, wer der Vater ihres Kindes sei? Ob sie ihn überhaupt kenne?
Brigitte Fischer konnte nett lächeln, sie hatte ja immer noch die schwelenden Lippen und sah mit achtundzwanzig Jahren zum Anbeißen aus. Sie antwortete freundlich: „Ja, ich kenne den Vater meines Kindes!“
„Und wer ist es?“
„Was interessiert Sie das?“
Der Bote des Ministeriums konfrontierte sie mit der Antwort ihres Sohnes und fügte an, dass man daraus durchaus den Schluss ziehen könne, sie unterhalte einen Kontakt zu einem amerikanischen Agenten beispielsweise, denn warum dürfe sonst ein Kind nicht über den Vater reden? Ja, er ging noch weiter und deutete an, es wäre ihr Schade nicht, wenn sie über die Kontakte mit jener Person regelmäßig berichten würde. Nun wurde es Brigitte Fischer zu dumm.
Sie sprach: „Es gibt einen Vater, da haben sie völlig richtig vermutet. Aber ich erinnere mich nicht mehr an ihn, ich habe sogar seinen Namen vergessen und habe keinerlei Kontakte zu ihm, seiner Familie, seinen Kindern, falls er welche hat oder zu Personen aus seiner Umgebung. Alles klar?“
Sie hatte das Ministerium für Feindberührung unterschätzt.
Die hatten längst, um auch die kleinste Einfallstelle des Klassengegners aufzudecken, in Kantow recherchiert. Und wenn auch das Jugendamt in seinen Akten keinen Vater kannte, so doch die geschwätzigen Kantower.
„Der Vater ihres Kindes heißt Franz Kampfmüller, geht dem Beruf eines Kirchenmusikers nach und reist auffällig oft nach Berlin. Treffen Sie sich mit ihm?“
Nun, sie traute Kampfmüller jeden Verrat zu, auch dass er die ostdeutschen Kirchenmusiker allesamt für den CIA anwarb, aber es interessierte sie nicht.
„Tut mir leid!“, sagte sie. „Ich wiederhole, keinen Kontakt zum Kindesvater zu haben! Ich nehme an, Sie können das problemlos überprüfen?“
„Können wir!“, sagte der Genosse stolz und hatte so das Gesicht gewahrt. Frau Fischer schärfte abends dem Sohn ein, über seinen Vater nichts als „keine Ahnung!“ zu sagen, was ja auch der Wahrheit entsprach. Sie ließ auch kein Aber gelten – im Grunde war sie sehr autoritär.“ Und damit zur ausführlicheren Vorstellung der anderen Angebote dieses Newsletters.
Erstmals 1974 veröffentlichte Hans-Ulrich Lüdemann in der DIE-Reihe (Delikte, Indizien, Ermittlungen) des Verlags Das Neue Berlin seinen Kriminalroman „Tödliches Alibi“. Das Buch erzählt aus der Sicht eines der Kriminalisten: In der Nähe eines Rastplatzes an der Autobahn München-Garmisch wird die Leiche einer jungen Frau gefunden. Reifenspuren als einziger Hinweis sind sehr wenig; unsere Ermittlungen scheinen sich ins Uferlose zu verlieren. Als wir endlich die Identität festgestellt haben, fällt die ganze Last des Verdachts auf den Mann, der zuletzt mit der Ermordeten gesehen wurde: Hans Beckmeister, Inhaber eines Eheanbahnungsinstitutes. Die Versicherungsangestellte Katja Krausner war seine Geliebte. Alle Indizien belasten ihn schwer, aber er leugnet die Tat, verzweifelt und beharrlich. Mehrere Spuren führen zu dem Motel „Bavaria“. Die Clique, die sich dort eingenistet hat, könnte durchaus mit dem Mord zu tun haben. Ich, als rechte Hand von Kommissar Bauer, versuche in dieses Wespennest zu stechen. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass Polizei und Justiz gegeneinander arbeiten. Der zunächst schwer belastete Beckmeister wird schließlich auf freien Fuß gesetzt, ich jedoch kann den wahren Mörder nicht präsentieren; auch er wird das Opfer eines obskuren Unternehmens. Hier der Anfang des spannenden Krimis, in dem es zunächst ein kleines Kompetenzgerangel gibt:
„Der Volkswagen verlangsamte seine Fahrt. Ich blinkte links und fuhr vorsichtig über den Rasenstreifen auf die andere Fahrspur der Autobahn. Der Einsatzwagen mit den Technikern folgte dichtauf. Für einen Augenblick kam die Autokolonne ins Stocken. Bremsen quietschten. Zu dieser frühen Morgenstunde lag der Rastplatz verwaist da. Die Autobahn München-Garmisch hatte den ersten Ansturm am 28. August noch vor sich. Gemeinsam mit Kommissar Oskar Bauer und meinem Kollegen Sepp Staff lief ich die Schneise am Wald entlang. Dann standen wir an einem kleinen Wasser, das die Bezeichnung See kaum verdiente. An der beschriebenen Stelle schwamm der Ärmel eines Bademantels zwischen Schilfstoppeln. Bauer winkte einem der nachkommenden Beamten. Der Mann packte hüftlange Fischerstiefel aus und zog sie über. Neben uns bereitete der Fotograf seine Apparaturen vor.
„Zuerst ein paar Totalaufnahmen“, sagte Bauer.
Der Fotograf verzog das Gesicht. Er hatte bereits das Teleobjektiv in der Hand. Anscheinend verspürte er keine Lust, nach dem Weitwinkel im Koffer zu kramen. „Bei Wiedner mache ich nur Details“, warf er mäkelnd ein.
Der Kommissar fuhr herum. „Ich bin nicht Oberkommissar Wiedner. Merken Sie sich das!“
Ich stöhnte innerlich. Kaum hatte die Arbeit am Fall begonnen, gab es bereits Ärger, weil unsere Drei-Mann-Arbeitsgruppe auf Wiedners Techniker angewiesen war. Dabei hatte Bauer überhaupt keinen Grund zu irgendwelchen Minderwertigkeitskomplexen. Er galt als der Experte unter den hiesigen Schriftsachverständigen. Sein Name war ein Begriff.
Ohne Aufforderung waren die Trassologen am Rastplatz an ihre Arbeit gegangen. Der Polizist tastete sich zu der Stelle vor, wo das Schilf bereits abgeschnitten war. Den Hinweis auf die Leiche, die es zu bergen galt, verdankten wir einem Bewohner aus dem in der Nähe befindlichen Dorf. Der Mann hatte sich sofort von einem Auto bis zum Motel mitnehmen lassen, von wo aus er die Kripo alarmierte. Jetzt wartete er dort auf uns.
Kommissar Bauer nickte stumm, als der verschlammte Bademantel, von einem Stock angehoben, den Blick auf einen nackten weiblichen Körper freigab.
Der Chef öffnete den Hemdkragen. Dabei schaute er Staff und mich aus seinen mausgrauen Augen an.
Ich holte tief Luft. Das sah nach Arbeit aus. Viel Arbeit. Eine Tote im Bademantel, ohne irgendwelche Anhaltspunkte für die Identität sicherlich, bedeutete in den meisten Fällen nervenaufreibende Ermittlungen. Als die Leiche im Ufergras lag, begann Dr. Hanflinger mit der ersten Untersuchung. Wir standen abwartend daneben. Staff wandte sich ab und ließ sich einen Perfolbeutel geben, um den Bademantel einzupacken. Der Kriminalassistent war noch nicht lange in unserer Abteilung.
„Wie viel Tage liegt sie schon darin, Hanflinger?“
Der alte Mediziner schraubte sich ächzend hoch. Er nahm seinen Zwicker ab und putzte ihn ausgiebig. „Zwei bis drei Tage. Aber wie gesagt: Angaben ohne Gewähr.“ Er lächelte dabei, als wollte er sich für die Unsicherheit entschuldigen.
„Und die Todesursache?“
Dr. Hanflinger zuckte mit den Schultern. Er begann seine Instrumente sorgfältig in die Tasche zu sortieren. „Äußerliche Merkmale sind kaum festzustellen. So auf die kalte Tour, meine ich. Am Kehlkopf scheint mir was nicht zu stimmen. Aber wie gesagt“, das Schloss der Hebammentasche schnappte laut, „heute Abend kriegen Sie es genau.“ Hanflinger drehte sich um und ging in Richtung Rastplatz davon.
Staff schloss sich ihm an. In seiner Rechten baumelte der durchsichtige Beutel mit dem schmutzigroten Bademantel. Bauer atmete tief aus. Er blickte noch einmal zum Schilf, kniff die Augen zusammen, weil das Wasser in der Sonne gleißte. Ich erschrak, als mit einem lauten Knall der Deckel des Zinksarges niederfiel. Missmutig sahen wir den Trägern nach.
„Zum Motel?“, fragte ich den Kommissar.
Bauer hob das Gesicht direkt zur Sonne und seufzte: „Urlaub müsste man haben, Gorgas.“
[*] Kapitel
„Wenn ich die Herren hier entlang bitten darf?“
Wir nickten, zufrieden über die Hilfsbereitschaft des Motelbesitzers. Gransow hatte ohne Umschweife sein Büro zur Verfügung gestellt, damit wir uns ungestört mit dem Mann unterhalten konnten, der die Leiche entdeckt hatte. Der Dörfler wirkte zerfahren, als würde er noch immer unter dem Eindruck des Schreckens stehen. Aufgeregt stotternd, antwortete der Alte unsicher auf die Fragen des Kommissars. Staff saß am Schreibtisch und stenografierte. Nach wenigen Minuten wussten wir drei, dass sich dieser Abstecher kaum gelohnt hatte. Wesentliches war nicht zu erfahren. Woher auch? Für den Alten war die Frau genauso fremd gewesen wie für uns.
Draußen auf dem Flur wurde es plötzlich laut. Ich hörte, dass sich zwei Männer stritten. Oskar Bauer zog missbilligend die Augenbrauen zusammen und unterbrach sich. Er machte mit dem Kopf eine Bewegung zur Tür hin. Ich sprang auf, um nachzusehen.
Auf dem Flur stand der Inhaber des Motels und verwehrte augenscheinlich jemandem den Zugang zu seinem Büro. Gegen Gransows massige Gestalt nahm sich sein Gegenüber wie eine Hopfenstange aus.
„Ich muss Sie bitten, Herr Gransow, mich nicht an meiner Aussage zu hindern!“, erregte sich der Dürre.
Gransow lächelte mir zu. „Entschuldigen Sie, aber ich wollte nicht, dass man Sie bei Ihrer Arbeit belästigt. Ein Gast meines Hauses …“
„Hören Sie, Herr Kommissar“, ein atemberaubender Alkoholdunst wallte mir entgegen, „ich muss Sie dringend sprechen. Es soll sich hier doch um Mord handeln, oder?“ Ich trat auf den Flur hinaus, drückte die Tür von außen zu und stellte mich mit dem Rücken dagegen. Das fehlte noch, dass Bauer von einem Betrunkenen belästigt wird.
„Da ist doch bestimmt eine Belohnung ausgesetzt worden, Herr Kommissar?“
Der Chef des Hauses und ich grienten.
„Was wollen Sie überhaupt aussagen?“
„Ich wohne schon eine Woche in diesem Motel. Geschäftlich, wissen Sie. Verhandlungen habe ich hier. Ja, und als ich nach München reinfahren wollte, war mein Wagen weg, verstehen Sie.“
„Wann war das?“, unterbrach ich ihn. Mir wurde diese Schnapsfahne mittlerweile unangenehm.
„Vor fünf Tagen. Hier war nichts los, wissen Sie. Und da wollt‘ ich am Abend …“
„Es wird besser sein, Herr Kommissar …“ Gransow stockte.
„Kriminalsekretär Gorgas.“
„Es wird besser sein, Herr Kriminalsekretär“, schaltete sich Gransow höflich ein, „wenn ich Ihnen erkläre, was dieser Herr aussagen möchte. Zumal die Angelegenheit mit dem verschwundenen Auto auch für mein Motel peinlich war.“
„Nach zwei Stunden war es aber plötzlich wieder da!“, rief der Angetrunkene erregt dazwischen.
Gransow fasste dem Gast beruhigend über den Arm. „Das stimmt. Durch ein Versehen meiner Leute ist der Wagen vom Parkplatz zum Service gefahren worden. Und Abschmieren, Waschen und so weiter dauern etwa zwei Stunden, Herr Gorgas.“
Ich nickte Gransow zu. Also ein Wichtigtuer, wie ich ihn in hundert Varianten schon erlebt hatte. Auf meinen Wink hin nahm der Motelbesitzer den Langen an der Schulter und schob ihn vor sich her. Beide verschwanden gerade um die Flurecke, als die Bürotür geöffnet wurde und Staff den Alten aus dem Dorf verabschiedete. Das Angebot, ihn mit einem Wagen zum See zurückzufahren, lehnte der Mann ab. Ihm war die Lust am Schilfschneiden vergangen.
„Was war denn?“, wollte Staff wissen.
Ich winkte ab. „Irgend so ein Blödmann. Erkundigt sich jetzt schon nach der Belohnung.“
Oskar Bauer trat in den Türrahmen und sah dem Alten hinterher, der nach vorn gebeugt die Treppe abwärts stakste.
„Nichts“, sagte er, aber in der Stimme klang keine Enttäuschung mit.“
Erstmals 2002 erschienen 2002 im dr. ziethen verlag Oschersleben unter dem Titel „B.B., der Augenmensch“ Gedanken über den Maler Bruno Beye von Heinz Kruschel. Der Autor schreibt über sein Buch: Er lebt nicht mehr. In seinem letzten Lebensjahr besuchte ich ihn jeden Monat einmal. Er lag da und erzählte. Er konnte wunderbar erzählen und seine Erinnerungen artistisch modifizieren. Als ich ihn das letzte Mal sah, lag er im Krankenhaus, das er nicht lebend verlassen sollte, schimpfte auf die Ärzte, auf das Essen und auf das Älterwerden. Still sollte er liegen, dabei fuhr er nun aus der Haut. Er war über achtzig Jahre alt und hatte noch viel vor. Pläne für ein Menschenleben. Ideen für Bilder, und er wollte noch so viele Bücher lesen. Nun schreibe ich über ihn. Er hat gewusst, dass ich über ihn schreiben werde. Ich schreibe über ihn, weil ich seine grafischen Blätter mag, seine Aquarelle, seine Ölbilder. Aber das ist eine halbe Wahrheit. Ich kann natürlich lange vor einem seiner Bilder stehen, vor der in expressionistischer Manier gemalten Spiegelung von Bäumen auf der Fläche eines Tümpels oder vor einer brutheißen Straße in Sudenburg, einer eigentlich hässlichen Straße, deren Geschichte und deren Stimmung der Maler Bruno Beye einzubringen verstand. Wie er das machte, das weiß ich nicht. Wer weiß schon, wie Kunst entsteht. Viele seiner Arbeiten finde ich natürlich und notwendig. In Wahrheit schreibe ich über ihn, weil ich mit ihm befreundet war, darum werde ich keine Urteile fällen, und ich werde mich auch hüten, ihn in die Kunstgeschichte einzuordnen. Obwohl er in ihr seinen Platz hat. Hier zwei Kapitel aus dem Buch, in dem wir beide näher kennenlernen – den Schriftsteller und seinen Maler-Freund und dessen ganz besonderes Lächeln:
„8.
Ich bin kein Kunsthistoriker, ich bin Schriftsteller, und ich weiß auch, dass man Bilder nicht beschreiben kann. Wenn man Bilder beschreibt, entstehen andere Bilder und Missdeutungen. Nach Matisse: „In einem Bilde darf nichts vorhanden sein, was in Worten beschrieben werden kann.“ Wäre ich ein Kunsthistoriker, so müsste ich aus dieser Zeit des Studiums Beyes SCHIEBERTANZ nennen, die anderen Arbeiten verbrannten später im Phosphor, ich müsste schreiben, wie sich auf dieser Lithographie der Raum, die Figuren und die Atmosphäre zu einer stimmungsvollen Einheit verbinden. Und das hat ein sechzehnjähriger Kunststudent gemacht!
Hell und Dunkel symmetrisch verteilt, müsste ich schreiben, oder ich könnte auch das Wort „rhythmisch“ verwenden, im doppelten Sinne: was den Rhythmus des Schiebertanzes in der dunklen Kneipe von Cracaus Sanssouci betrifft, aber auch den der Verteilung der Schatten und Schraffierungen. Und ich müsste schlussfolgern: Es verrät die genaue Beobachtungsgabe, die ihn nie verlassen hat, und es verrät eine geradezu artistische Fertigkeit im künstlerisch Erlernbaren. Mir kommen die Zweifel, weil ich eine kleine Zeichnung kenne, die er vor dem Besuch der Schule gemacht hat, ohne also schon das Erlernbare kennengelernt zu haben.
Bei Beye stimmte das. Wie die feststehenden Verswendungen eines Klassikers? Wie die Formelsprache eines Rezitativs?
Ich versehe die beiden letzten Sätze mit Fragezeichen. In der ersten Fassung war dem nicht so, aber ich erinnere mich des Lächelns, das Bruno für diese Behauptung übrig hatte, so ein Villonlächeln, das er auch im Schmerz nicht verlernen konnte: Nun nehmt ein Sieb, durch das ihr alles siebt, und die Essenz, die sich daraus ergibt, ist grad die beste, drin von Rechtes wegen die Zungen der Verleumder sieden mögen …
Also hüte ich mich, den Kunsthistoriker zu spielen, also hüte ich mich vor dem Urteil, vor der Behauptung, vor der Verleumdung. Aber immerhin hat er uns seine starken Gefühle aufgedrängt. Aufgedrängt, das ist wieder so ein Wort, aufdrängen kann ein Maler und Grafiker seine Gefühle uns doch nur, wenn wir bereit sind für sie.
Wenn wir meinen, darauf gewartet zu haben.
Weil wir seine Nachrichten und seine Gefühle verstehen. Weil wir glauben, sie zu verstehen.
Aber das ist schon nicht mehr so wichtig.
9.
Fortsetzung der Wiedergabe eines Tonbandes, Fragen und Antworten, während er aufgestanden ist, die schweren Schubfächer aufzieht, Zeichnungen suchend, dass Frau Edit dazwischengeht: „Du bringst mir alles durcheinander, Bruno.“
Der Krieg also, Bruno.
Theodor Beye hatte Recht gehabt. Der Krieg wurde für mich das Gewaltige, das Unheimliche, aber ganz anders, als ich es naiv erwartet hatte, der Krieg machte mich zum Gegner der Kapitalisten.
Hast du gezeichnet?
Immer wenn ich konnte, du, da ist soviel, was noch nicht gezeichnet worden ist, und da ist soviel, was nicht gezeichnet werden kann.
Zum Beispiel.
Ich sehe noch den Talgrund vor mir, den kleinen Bach, einen Judenfriedhof und den Major in schwarzen Reithosen und heller Litewka, er schimpfte uns ,Spitzkaffern‘ und schlug mit der Reitpeitsche auf Soldaten ein. Ich sehe noch, wie er fiel, von über zwanzig Kugeln der eigenen Leute getroffen, es gab keine Untersuchung, wer hat da nicht alles geschossen. Es gab einen Appell, auf dem die eisernen Rationen überprüft wurden, wir hatten sie alle aufgefressen, wir dachten doch, es ist Matthäi am letzten, aber nur der Beye sollte bestraft werden, das war wie in der Schule, ich ging direkt zum Oberst, das war wieder militärwidrig, ich weiß, der Adjutant fing mich auch ab, aber ich sagte, eine Nachricht für Herrn Oberst von seinem Fräulein Tochter, mit der hatte ich in Magdeburg studiert. Oberst Bernhard war der Ortskommandeur von Burg gewesen. Mein Sohn, sagte er zu mir, als ich so von seinem Fräulein Tochter zu schwärmen begann, natürlich werden Sie nicht bestraft. Aber dafür hasste mich fortan der Feldwebel, ich kann dir sagen, ein Feldwebel kann dich mehr schurigeln als ein Oberst. Drei Jahre war ich direkt an den Fronten.
Und wo?
Im Westen, später in Russland und in Rumänien. Ich war inzwischen Vizefeldwebel, zeichnete Geländeskizzen, die mächtig gelobt wurden, aber die zeichnete ich, weil ich deswegen auch anderes zeichnen konnte, österreichische Soldaten im Lazarett, die Rokitnosümpfe. Mein Lehrer Tuch hatte mir Farbe und Skizzenbücher ins Feld geschickt. Meine Temperabilder, die sind alle weg. Mann, die Bilder vor meinen Augen, ich werde die nie los. In Siebenbürgen, in einem Kloster, waren Tausende von Verwundeten und Geschlechtskranken, da bin ich stiften gegangen, wir schmuggelten uns in einen Zug nach Budapest und bummelten zu dritt, verbunden und umwickelt, wie wir waren, durch die Lokale und soffen uns vom Kriege weg.
Du warst also verwundet.
Es hatte mich erwischt. Weil ich dauernd opponierte, wurde ich zu einem Stoßtrupp ausgewählt. Das war in den transsilvanischen Alpen. Wir mussten durch eine Schlucht mit jahrzehntealtem Windbruch, dann durch Stacheldraht, wir kriegten Feuer, wollten zurück, die Hälfte der Männer lag im Stacheldraht und starb. Mir fiel eine rumänische Handgranate vor die Füße, ich nahm sie hoch und warf sie zurück, sie ging in der Luft los. Ich sah auch, wie mein Unteroffizier, der Möbelträger Koslowski aus Sudenburg, mit kaputtem, blutendem Rücken zurücklief, und auch ich blutete überall, am Kopf, am Bauch, an den Armen, hatte fast keine Uniform mehr am Leibe, entweder oder. Ich lief zurück, kam durch den Draht, kam durch die Windbruchschlucht, kam an unseren Graben und rief und holte Atem, da bekam ich noch einen Schuss ab und fiel in Ohnmacht.
Bruno, du, das ist interessant, aber es geht nicht um den Krieg, so schrecklich er war.
Hast du einen Krieg mitgemacht, Heinz?
Nein.
Dann weißt du das nicht. Das gehört nämlich dazu, musst du wissen, das ist nicht bloß interessant, du siehst manches schärfer, und meine Entwicklung, die sonst vielleicht geruhsam verlaufen wäre, forcierte sich wie ein Zeitraffer, also, ich verteilte schon die AKTION unter den Soldaten. Und als ich verwundet war, lag ich zuletzt im Odeum, das war ein Tanzlokal in Magdeburg auf dem Werder, ich habe dem Zahlmeister mein schönes Markenalbum, Altdeutschland und Schlesien, vermacht, damit der mich rausließ, da lernte ich Pinthus kennen, den Cheflektor im Wolf-Verlag, und wir trafen uns nachts bei Bartels im Atelier …
Mal eine Zwischenfrage, wie bist du denn zu der AKTION gekommen?
Durch Wilhelm Stolzenburg, Theodor Beye und durch Katharina Heyse aus Schönebeck, aber Stolzenburg hat die Verbindung fest gemacht.
Hattest du Aufträge für diese AKTION?
Aufträge nie, ich habe immer aus eigener Initiative gezeichnet, zum Beispiel TRIUMPH DES TODES, das war die Reaktion auf das, was ich draußen erlebt hatte, sechzig Sturmangriffe, du kannst dir nicht vorstellen, was das heißt. Mensch, Beye, sagte zu mir einmal der Bataillonskommandeur, Sie sind ja ganz links eingestellt, Sie verteilen die AKTION, und Sie wollen Offizier werden.
Da lege ich keinen Wert darauf, sagte ich zu ihm, Sie wollen mich bloß dazu machen. Und die AKTION, die ist von der Zensur gerade noch erlaubt, und die Partei, sagte ich, die Partei, der ich angehöre, die sitzt nicht mal im Reichstag, so links ist die. Für ein Heft der AKTION, für die APOKALYPSE, da habe ich drei Holzschnitte gemacht, FEUER, SCHWERT und WASSER.
Wie konntest du das als Soldat?
Mann, nach der Verwundung, da sollte ich Rekruten ausbilden, alles siebzehnjährige Jungs mit ganz dünnen Hälsen, die Jungs weinten, ich konnte nicht mal mehr selber meinen Degen ziehen, hatte eine traumatische Hysterie durch die Splitterverletzung, und gegenüber von der Kaserne hatte ich mir in Paderborn ein Zimmer gemietet, in dem machte ich nachts meine Arbeit für die AKTION. Und wenn einer kam, um mich kriegsverwendungsfähig zu schreiben, dann kriegte ich einen Anfall, fuchtelte mit dem Seitengewehr oder warf einen Schemel hoch.
Das war ein Spiel mit dem Feuer, was?
Kannste laut sagen. Einmal, da kam mir ein Vorgesetzter zu nahe, da hatte ich schon das Seitengewehr raus und rief: Drei Schritt militärische Entfernung, wenn ich bitten darf, ja? Da kniff der, der feige Hund, dann wollte der mich ins Zuchthaus bringen, Ungehorsam vor versammelter Mannschaft, Mensch, aber dann kam die Revolution, und sie wählten in den Soldatenrat von Paderborn einen Feldwebel, der menschlich gesehen ein Schwein war.
Wir müssen noch über die AKTION sprechen, Bruno.
Ja, später, Mensch, ich muss mich wieder flach legen und kann heute nicht mehr reden, ich liege hier wie im Knast, weißt du, ich zähle die Tage, nur mit einem Unterschied, wenn du im Knast liegst, weißt du wenigstens, wann du mal wieder rauskommst. Dabei will ich noch soviel tun.
Beye war nie langweilig. Er besaß Charme und Temperament, war genussfroh und vermochte, sein inneres Erleben anderen mitzuteilen. Er brauchte Anregung und war selber anregend und auf eine pessimistische Weise sogar fortschrittsgläubig. Er lebte voll und intensiv, auch dann, wenn er hungern musste.
Als Junge war die Kunst schon seine bevorzugte Domäne. Seht Euch nur jene Blätter an, die aus der Hand eines Fünfzehnjährigen stammen! Schon zu dieser Zeit hatte er seine Tagträume und Visionen, die sich im Alter bestätigten.
Nutzen und Schönheit müssen keine ewigen Feinde sein.“´
Erstmals 2001 veröffentlichte Renate Krüger im Hinstorff Verlag Rostock ihre Erzählung „Die stumme Braut“: Diese Erzählung führt den Leser unmittelbar ins spätmittelalterliche Mecklenburg am Vorabend der Reformation mit seinen farbigen Anschauungen, differenzierten Lebensformen und folgenreichen Konflikten. Die Fabel kreist um den Sternberger Judenpogrom, der im Jahr der Entdeckung Amerikas stattfand, dem 27 Menschen zum Opfer fielen und der schließlich dazu führte, dass Mecklenburg „judenfrei“ gemacht wurde. Der Leser erhält Einblicke in das Schicksal historischer und erfundener Personen. Da ist die niederländische Begine Dorothea van der Gheenst, die vom mittelalterlichen Mantelrecht der Frau Gebrauch macht und damit der schönen Chane das Leben rettet. Da ist der Sternberger Priester Peter Däne, der aus reiner Habgier den in Sternberg lebenden Juden geweihte Hostien überlässt und dafür, wie die jüdischen Mitangeklagten, vom herzoglichen Gericht zum Tode verurteilt und auf dem Scheiterhaufen vor den Stadttoren verbrannt werden, Opfer des sozialen und geistigen Umbruchs. Da kämpft der Emporkömmling Jürgen Kruse gegen den seherisch begabten Maler Henning Schnytker. Da ist vor allem die Jüdin Chane, an deren Hochzeitstag das Verhängnis seinen Lauf nahm und sie so stark traf, dass sie Erinnerung und Sprache verlor. In die Handlung führt eine Pilgerfahrt nach Santiago del Compostela ein. Andere Handlungsorte sind Wismar, vor allem die Georgenkirche, sowie Rostock, Sternberg und das Antoniterhospital Tempzin, in dem die vom tödlichen „Antoniusfeuer“ Befallenen letzte Zuflucht finden. Die vor allem von Frauen getragene Handlung ist eingebettet in zeitgenössische Frömmigkeitsformen, Magie, soziale Konflikte, Politik und Zukunftsvisionen. Die Erzählung ist geeignet, den Lesern wesentliche Bereiche des mecklenburgischen mittelalterlichen Erbes neu zu erschließen und auf Anfangspunkte weitreichender Konflikte hinzuweisen. Somit erhält sie auch einen aktuellen Bezug. Im folgenden Ausschnitt werden wir Zeuge eines unerhörten Ereignisses und vom großen Mut einer Frau, die eine andere beschützen will:
„Doortje tastete weiter, das Recht musste sie sich schließlich nehmen, und sie traute ihren Händen nicht. Doortje spürte es warm und rund und weich unter ihren Fingern: die Gestalt war eine Frau! Und sie gab sich auch bereitwillig als Frau zu erkennen. Eine sehr junge Frau, fast noch ein Kind.
Eine Hure, die sich in den Pilgerzug einschleichen wollte? Doortje verwarf diesen Gedanken gleich wieder. Eine Hure würde wohl anders vorgehen. Und warum sprach sie nicht? Doortje tastete nach dem Mund der Fremden und spürte, wie er sich heftig bewegte, aber keinen Laut herausließ. Eine Stumme? Die Fremde schmiegte sich in Doortjes Hand. Bald danach wurden wieder die ruhigen Atemzüge hörbar, die junge Frau war eingeschlafen. Am nächsten Morgen fand sich Doortje wieder allein auf dem Wagen.
„Fühlst du dich nicht wohl, Doortje?“, fragte Birgitta, während sie die Kranke für den neuen Tag zurüstete. „Hast du Schmerzen? Du bist so still und gar nicht richtig bei uns. Kann ich dir helfen?“
„Nein, nein, mir geht es gut, sogar besser als sonst. Ich bin nur ein wenig nachdenklich, und das geziemt sich ja auch für eine Pilgerfahrt.“
Birgitta war beruhigt und erleichtert, dass sie nicht noch mehr Zeit für Doortje aufwenden musste.
„Sind neue Pilger zu unserem Zug gestoßen?“, fragte Doortje.
„Nein. Warum fragst du?“
„Nur so … Es hätte ja sein können …“
In der nächsten Nacht kam der seltsame Gast atemlos und von Angst getrieben in den Wagen, verfolgt von den Schreien der Wächter.
„Haltet den Dieb! Er ist auf den Proviantwagen gestiegen! Frau Doortje, ist dir etwas geschehen?“
Und schon wurde die Plane auf die Seite gerissen, und im Schein der Fackeln wurde eine knabenhafte Gestalt sichtbar, die sich unter Frau Doortjes Mantel zu verbergen suchte.
„Da ist er! Reißt ihn herunter! Wir haben ihn!“
„Halt!“, rief Doortje van der Gheenst. „Ich breite meinen Mantel über diesen Menschen!“
„Bist du von Sinnen? Über einen Dieb und Räuber? Oder ist dieser da gar dein Liebhaber?“
Und ein andere schrie: „Nun gib uns den Burschen heraus, damit wir Gericht halten und endlich zur Ruhe gehen können!“
„Nein!“, sagte Doortje.
„Dann müssen wir dich samt Mantel und Dieb vom Wagen tragen.“
„Nur zu, ich will sehen, ob das Recht der Faust stärker ist als das Recht des Mantels.“
Vom Mantelrecht wusste Doortje nur vom Hörensagen, und eigentlich stand es lediglich Fürstinnen und besonders vornehmen Frauen zu, Hilfesuchenden unter ihrem Mantel Schutz zu bieten.
Doortje spürte, wie ihr etwas in die Hand gedrückt wurde. Es fühlte sich wie Leder an, aber das war nur eine Hülle für etwas anderes. Schnell ließ sie das flache Päckchen in ihrer Tasche verschwinden. Dann wurde ihr der Mantel von der Schulter gezogen und mitsamt der darunter verborgenen Gestalt vom Wagen gehoben.
Doortje selbst wurde von kräftigen Fäusten gepackt und hinterhergeschoben. Ihre Empörung über dieses ungehobelte Verhalten war groß, aber ihre Neugier auf diese Nachtgestalt noch größer. Fast alle Pilger waren auf den Beinen. Frau Doortje hat einen Liebhaber auf ihrem Wagen! Diese Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und die Angst vor Dieben und Räubern trat dahinter zurück.
Am Feuer stand Henning Schnytker, dem der Schiedsspruch in der Pilgergemeinde anvertraut war.
Die Wächter legten Frau Doortje vor ihm auf die Erde, das Mantelpaket daneben, und dann begannen sie mit ihrer Anschuldigung. Ein Dieb werde von der Begine geschützt! Die Schuld falle also auf die Mantelträgerin. Man müsse untersuchen, ob gar Unzucht vorliege und die Strafe des Himmels die ganze Pilgerschar treffen werde.
„Nichts für ungut, Frau Doortje“, begann Schnytker, „du bist mir und den anderen gut bekannt, aber das Recht verlangt, dass du deinen Namen und deinen Stand bekannt gibst.“
„Nichts für ungut, Henning Schnytker, wenn ich dir und den anderen so gut bekannt bin, dann werdet ihr wissen, dass ich Dorothea van der Gheenst bin, Witwe des ehrenwerten Jan van der Gheenst, Maler und Werkstattbesitzer aus Brügge, Gott erbarme sich seiner Seele.“
„Kannst du beweisen, dass du diesen Mann nicht um niedriger Beweggründe willen begünstigt und geschützt hast?“
„Ich kann es. Seht ihn euch doch einmal genau an, diesen – Mann.!“
„Heda, steh auf und zeig dich.“
Die Gestalt unter dem Mantel rührte sich nicht.
Schnytker zog den Mantel weg und fand die Gestalt zusammengerollt liegen, das Gesicht nach unten auf die Hände gepresst.
„Steh auf, sage ich dir, ich habe die Gewalt.“
Die Gestalt rührte sich nicht. Schnytker beugte sich nieder und versuchte die Hände vom Gesicht zu ziehen, ohne Erfolg. Sofort waren zwei Männer zur Stelle und rissen die Gestalt hoch. So wie Doortje erging es nun den meisten: sie waren betroffen von so viel Schönheit.“
Erstmals 1995 erschien im Krögervertrieb Cottbus „Vermisst am Rio Tefé“ von Alexander Kröger. Dem E-Book liegt die überarbeitete Auflage zugrunde, die 2010 im Projekte-Verlag Cornelius Halle veröffentlicht worden war: In der Provinzstadt Carauari laufen in der Vermisstenzentrale Anzeigen ein; Dolores Sendela fallen gleichgelagerte Fälle auf. Mehr als Routineaufklärung wird jedoch nicht veranlasst. Als sich Dolores Freund auf eine waghalsige Aktion einlässt, kommen ihr die Vorgänge wieder in den Sinn, ihre Mahnungen finden, da hoher Verdienst lockt, jedoch kein Gehör. Der Freund kehrt verwundet zurück, berichtet von einem grausigen Massaker – ein Monster hätte zugeschlagen …
Kröger verquickt in einer äußerst spannenden, fantastischen Geschichte menschliche Größe mit Sichten auf gegenwärtige gesellschaftlichen Probleme auf unserem Planeten. Im 2. Kapitel erleben wir ein Massaker im Regenwald mit und ahnen, um welche Konflikte es geht:
„2. Kapitel
„Achtung!“ Langgezogen und laut schallte der Ruf durch den Wald. Einige Männer in lädierter Arbeitskleidung traten aus dem Dickicht und eilten die Schneise zurück. Das Gekreische einer Motorsäge verstummte.
Dort, wo die Gasse bereits an die zehn Meter breit und bis auf den rotlehmigen Boden beräumt war, sammelten sich die Leute, tauschten Bemerkungen aus, brannten sich Zigaretten an. Manche wischten das schweißnasse Gesicht, tranken aus Korbkrügen.
„Achtung!“ – Der gleiche Ruf in eine plötzlich entstandene Stille hinein.
Entfernt krächzte ein Vogel.
Wenige Sekunden lang heulte noch einmal volltourig, dort, wo auch der Ruf hergekommen war, eine Säge auf. Dann wurde es abermals still, scheinbar stiller als vordem, als hielte die Natur den Atem an. Auch der Vogel ließ sich nicht mehr vernehmen.
Die Männer standen und schauten nach vorn, dorthin, wo sich die Schneise in den Regenwald fraß. Sie schienen in ihren Verrichtungen erstarrt.
Eine kleine Weile hielt die unwirkliche Stille an. Dann setzte ein Rauschen ein, als begänne hoch oben – nicht sichtbar – in der dichten Pflanzendecke auf kleinstem Raum ein Wind zu wirbeln. In Sekundenschnelle verstärkte sich das Geräusch, steigerte sich zum Tosen, hinein mischten sich schussartiges Bersten, Splittern, Krachen, dazwischen ein Sirren, als schnellten Pfeile von Bögen, als rissen Saiten von Riesengeigen.
Dann ein Schlag, dumpf, endgültig.
Doch noch eine Weile hielt Getöse an. Zunächst verstummten das Krachen und Splittern, dann das Rauschen.
Plötzlich ringsum ein Gezeter von Hunderten Vogelstimmen, ohrenbetäubend schrill, und man nahm wahr, wie sich die Tiere in Panik entfernten. Es wurde erneut still.
Von oben begann es zu rieseln: Blätter, Blütenfetzen, Dornen, Teile von Zweigen und – Insekten.
Es kam wieder Leben in die Gruppe der Männer. Sie schlugen um sich, streiften Kleingetier und Pflanzenstücke von ihren Körpern, und mancher Fluch wurde laut, wenn man nicht schnell genug war und Insekten zubissen oder stachen, Dornen die Haut ritzten oder Blätter an den schweißnassen Leibern kleben blieben.
Der Motor des Bulldozers, der einige Dutzend Meter im Hinterland stand, pfoffelte los, das Fahrzeug kam näher, schob sich auf Haufen von Ästen und Unterholz, die sich vor ihm, bevor die unberührte Front des Mato begann, emportürmten.
Doch dann wurde die Maschine abrupt in den Leerlauf geschaltet und Marko, der Sohn des Padron, sprang ab, sichtlich wütend, und er schrie gegen das Gestrüpp: „Ihr Blödmänner, könnt ihr denn nicht aufpassen! Ihr Ochsen sollt die Bäume in Arbeitsrichtung schmeißen, verdammt nochmal! Begreift ihr Rindviecher denn nicht, dass ihr beim Vorrücken dann nur halbe Arbeit habt und beim Ausästen?“
Vorn aus den Büschen krochen zwei Männer, sie trugen gemeinsam eine schwere Motorsäge. Offensichtlich galt ihnen die Tirade. Sie blieben ohne die geringste Verteidigungsgeste in einer devoten Haltung stehen, blickten zu Boden.
Der Sohn des Chefs hatte sich noch nicht beruhigt. „Das arbeitet ihr mir nach!“ Während er das rief, wendete er den Kopf zu der hinter ihm stehenden Gruppe. „Bedankt euch bei denen.“ Er hob lässig die Hand und wies auf die beiden Männer, die noch immer die Säge zwischen sich hielten und ihre Haltung nicht verändert hatten.
Marko schwang sich wütend in die Maschine, gab Gas und steuerte auf die Stelle zu, wo die helle, fast zwei Meter durchmessende Schnittstelle des gefällten Urwaldriesen durch das Buschwerk schimmerte.
Doch da geschah etwas seltsam Schreckliches:
Aus dem Gestrüpp, seitlich vom Bulldozer, blitzten zwei blaue Strahlen. Sie zeichneten in der noch immer mit Schwebepartikeln durchsetzten Luft zwei feine, flirrende Linien. Eine drang funkenstiebend in das Fahrerhaus, drin ein erstickter Schrei …
Der zweite Strahl sägte durch die wie erstarrt stehende Gruppe der Männer, durchdrang die Körper, zerschnitt sie, brannte Gliedmaßen von den Leibern, ließ Schreie ersterben, noch ehe sie die Lippen passiert hatten.
Zwei, drei Mal senste der Strahl hin und her, dabei den Höhenwinkel um ein Weniges verändernd, erwischte noch die letzten, sich gerade zur Flucht wendenden Männer.
Dann trat in diesem Teil der Schneise Ruhe ein. Da und dort kräuselten dünne Rauchsäulen, erhob sich ein letztes Stöhnen, Röcheln.
Vorn aber war der zweite Strahl nicht müßig geblieben. Er war blitzschnell vom Bulldozer auf die beiden davor wie erstarrt stehenden Männer geschwenkt, durchtrennte den einen in Hüfthöhe, geriet an die Säge, erzeugte dort eine übermannshohe Funkengarbe, erwischte offenbar die Benzinleitung; denn eine Stichflamme zischte meterweit auf. Der Strahl schwenkte, als könne er seinen Schwung nicht so plötzlich abbremsen, über die Gruppe hinaus. Das und die den Strahl behindernde Säge gaben dem zweiten Mann seine Chance: Entsetzt hechtete er mit einem Salto in das Gebüsch, aus dem er vor wenigen Augenblicken in Demut gekrochen kam.
Aber da war der Strahl bereits wieder heran. Als sei er wütend, bohrte er sich wendelnd in die Hecke hinein, Dampf und Rauch fuhren auf, kleine Flammen züngelten kurzlebig, abgetrennte Zweige stürzten geräuschvoll zu Boden.
Es dauerte noch etliche Sekunden, bis das Sensende sich endgültig beruhigte. Urplötzlich fiel der Strahl in seine Quelle zurück – ein schwarzes Loch im Blattwerk hinterlassend, groß wie ein Garagentor.
Fast gleichzeitig würgte sich der Motor des Bulldozers ab, der führerlos weitergefahren war und an der weißblutenden Schnittfläche des getöteten Urwaldriesen seinen Halt gefunden hatte.
Totenstille herrschte in der frisch geschlagenen Schneise. Lautlos wirbelte der Rauch, sickerte das Blut der Männer in den entblößten, geschundenen Boden.“
Bleibt abzuwarten, was oder besser gesagt, wer hinter diesem vermeintlichen Monster steckt und wie die spannende Handlung weitergeht. Spannung versprechen aber auch die anderen Angebote dieses Newsletters, die von Menschen in teilweise extremen Situationen erzählen. Da sind die Kriminalisten, die den Tod der jungen Frau aufklären wollen, die an der Autobahn-Raststätte gefunden wurde. Da ist die Biografie des Malers B.B.. Und da ist das Schicksal Dorothea van der Gheenst, Witwe des ehrenwerten Jan van der Gheenst, Maler und Werkstattbesitzer aus Brügge.
Viel Vergnügen beim Lesen und bei den Begegnungen mit diesen unterschiedlichen literarischen Helden und beim Nachdenken über die Geschehnisse in Vergangenheit und Gegenwart, einen vielleicht schon frühlingshaften Februar und bis demnächst.
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