Ein Drache ohne Feuer-Kraft, der Sohn von Dornröschen und Tine, die den Löwen reitet – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
Zwei weitere Angebote des heutigen Newsletters stammen aus der gemeinsamen Feder (oder schrieben sie vielleicht mit zwei Federn oder überhaupt mit moderneren Schreibgeräten) des verstorbenen Schriftstellerehepaares und Autorenkollektivs Hildegard und Siegfried Schumacher: In „Wie Daniel Dornröschen wachküsst“ geht es darum, wie viel Zeit man füreinander hat und märchenhafte Lösungen für dieses Problem. In „Der Zauberlöwe“ berichten die beiden Schriftsteller unter anderem von den geradezu unglaublichen Fähigkeiten der Verkehrspolizisten der früheren DDR. Hanno Coldam lässt grüßen, falls Ihnen dieser Name noch etwas sagt.
Ebenfalls die Polizei ist in der Sammlung mit Kriminalerzählungen „Eine Stadt sucht einen Mörder“ von Jan Flieger im Einsatz. Allerdings handelt es sich hier um die Kriminalpolizei, und die wird bei ihren Ermittlungen auch mit sehr, sehr traurigen Tatsachen konfrontiert.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. Die Gattungsbezeichnung des heutigen Angebotes lautet Novelle. Und wer sich ein bisschen in Literaturtheorie auskennt, der weiß, dass in einer Novelle immer von einer unerhörten Begebenheit die Rede ist. Und so ist es auch in diesem Falle. Dazu kommt, dass sich das geschilderte Geschehen unter den wohl unmenschlichsten Umstände abspielt, die sich denken lassen – im Krieg oder zumindest kurz danach. Da haben es Glaube, Liebe, Hoffnung und Vertrauen schwer, sehr schwer. Und dennoch …
Erstmals 1978 veröffentlichte Max Walter Schulz im Mitteldeutschen Verlag Halle – Leipzig seine Novelle „Der Soldat und die Frau“. Das in diesem Buch zitierte Gedicht „Die Sterne“ entstammt der Feder der Sowjetdeutschen Lyrikerin Nelly Wacker. (Almanach Sowjetdeutscher Lyrik „Ein Hoffen in mir lebt“, Progress Verlag, Moskau 1972): Tief in der Steppe, mitten im Zweiten Weltkrieg, begibt sich eine außergewöhnliche Geschichte: Der Soldat Röder, der als Gefangener mit einem Kommando die gefallenen Soldaten begräbt, wird von dieser Gruppe getrennt, und er findet sich wieder allein in der Nähe eines Dorfes, nunmehr als Gefangener von Frauen, die beginnen, ihre Häuser und Höfe wieder aufzubauen. Was erwartet ihn, was kann er erwarten? Er erwartet Hass und erfährt zunächst Hass. Aber im Verlauf des Geschehens verwandelt sich der Hass, und auch er selbst gewinnt neue Erfahrungen, und er wird nicht nur überleben, sondern eigentlich erst wirklich zu leben beginnen. Und so spiegelt sich im Außergewöhnlichen das historisch Bedeutsame, das sich wandelnde Verhältnis zwischen sowjetischen und deutschen Menschen. In ungewöhnlicher Dichte, spannungsgeladen, wird diese Geschichte erzählt, die den Autor wiederum als reifen Erzähler ausweist. Hier ein spannender Auszug aus diesem Buch, das für Hoffnung und Zuversicht wirbt – trotzdem:
„Warum wählte der Starschina nur die Marschroute, die genau an der Steinhütte vorüberlief? Der junge Soldat musste ihm doch über die beiden Frauen nicht eben das Beste berichtet haben. Hatte der junge Soldat ein schlechtes Gewissen gegenüber den Frauen? Wollte er etwas gutmachen? Es war gedacht, das Kommando bei der Hütte kampieren zu lassen. Unterwegs wurde Brennholz gesammelt. Bei dem zerschossenen, verödeten Vorwerk, etwa anderthalb Stunden von der Steinhütte entfernt, fanden sich verkohlte und unverkohlte Hölzer. Der Starschina wollte nicht mit leeren Händen kommen. Das gehört sich auch nicht. Vielleicht hatte der Starschina auch gedacht, eine scharfzüngige Frau, mit der man nicht verheiratet zu sein hat, schärft den männlichen Verstand. Als es auf die Hütte zuging, man sah sie noch gar nicht, obwohl das Schneetreiben stark nachgelassen hatte, wurde das Pferd schon wieder unruhig. Aber durchgehen konnte der Fresser diesmal nicht. Der Karren war zu schwer beladen. Alle vier Kriegsgefangenen waren beigespannt: Zugstricke über die Schultern.
Die jüngere Frau sagte kaum Danke, als das Holz abgeladen vor ihrer Behausung lag. Der Starschina hat lange mit ihr geredet. Ihren Landsleuten hätte sie wahrscheinlich ohne Zimperlichkeit ein warmes Nachtquartier geboten. Doch Deutsche duldete sie in ihrer Nähe nicht. Die Babuschka stand ganz auf ihrer Seite. Der kleine Junge spielte mit dem großen jungen Wachsoldaten Krieg. Die beiden waren ein Stück fortgegangen und schossen auf irgendetwas. Wenn einer getroffen hatte, schrie der kleine Junge jedes Mal Hurra mit seiner Kinderstimme.
Schließlich begann die Jüngere mit dem Starschina zu streiten. Sie hatte dabei ein Gesicht, als ob sie zu allem entschlossen wäre. Es ging um das Pferd. Die Frau wollte das Pferd. Sie hätte jetzt das größere Recht auf ein Pferd. Wenn sie im Frühjahr kein Zugtier hätten – und woher sollten sie eins bekommen -, brächten sie nichts in den Boden. Dann müssten sie verhungern. Oder fortziehen. Aber wohin? Und hier wären sie zu Hause. Von hier gingen sie nicht mehr fort. Von hier hätten sie die Deutschen fortgetrieben wie Vieh. Sie wären die einzigen von allen Leuten auf dem Vorwerk, die es überlebt hätten. Überlebt und ein Kind verloren. Das Mädchen, dreijährig. Und den Mann, der Vater – bei Smolensk gefallen. Die verdammten Faschisten könnten den Karren auch ohne Pferd ins Lager zerren. Sollte der Starschina doch melden, das Pferd sei unterwegs krepiert. Plischke hat im Flüsterton übersetzt, und der Starschina hat vor sich hingebrütet. Hat immer wieder nur den Kopf geschüttelt. Immer wieder. Und nichts weiter. Da ist der Frau der Geduldsfaden gerissen. Sie ist hingegangen zu dem Pferd. Sie wollte es ausspannen. Fing schon damit an. Das Pferd fraß ruhig weiter. Mit dem Starschina ging es durch. Er schrie die Frau im Kommandoton an. Als die Frau sich davon nicht beeindrucken ließ, ist er selber hingegangen, ganz beherrscht, kein schneller Schritt. Er hat die Frau vom Pferd getrennt. Weggeschoben. Nicht gewalttätig, aber bestimmt. Die Frau trug an diesem Tag den rechten Arm in der Binde. In einem zerschlissenen schwarzen Kopftuch. Sie hat sich aber mit dem Arm in der Binde gewehrt. Vielleicht war es nur eine Prellung. Oder die Hand war übergriffen. Dann ist es mit der Frau durchgegangen. Gut, hat die Frau gesagt, dann gib mir einen von diesen deutschen Hengsten. Er soll sein Fressen haben. Und die Kandare. Sie wolle ihn auch wieder umtauschen, hat die Frau gesagt, gegen ein anständiges Pferd. Der Starschina fing wieder an vor sich hinzubrüten. Obwohl er diesmal auf den Beinen stand und nicht saß, wie vorher, auf dem Heu unter dem Vordach. Worauf die Frau ein andermal gehandelt hat. Auf dem Karren lagen noch die Zugstricke der Gefangenen. Die Frau nahm einen solchen Strick zur Hand. Die vier Gefangenen standen betont unbeteiligt in der Nähe des Erdkellers. Sie sahen die Frau, den Strick schwingend, auf sich zukommen. Keiner traute dem Wahnsinn. Jeder dachte, die Frau spielt nur verrückt. Die Gesichter zueinander gekehrt, stellten sich die Gefangenen eng zusammen, als die Peitsche auf ihre Mantelrücken klatschte. Drei haben gefeixt. Einer nicht. Der Starschina wollte sie wieder zurückhalten. Nicht gewalttätig. Da hat die Frau die Hand gegen den Starschina gehoben. Er hat stumm zugesehen, als die Frau den einen, der nicht feixen konnte, diesen Röder, beim Kragen fasste, aus der Runde stieß und in das Kellerloch peitschte. Die Babuschka stand in der Hüttentür. Sie schrie zum Gottserbarmen. Der kleine Junge schrie auf dem Schießplatz hinter der Hütte wieder einmal ein dünnes Hurra. Und erst dann brüllte der Starschina los. Die Ziege sprang auf einmal wie ein gehetztes Reh aus dem Kellerhals. Dem Starschina ist sie ausgewichen. Die Frau, die schnell wieder aus dem Keller herauskam, hat die Tür von außen zugeriegelt. Der junge Wachsoldat hatte das Schreien gehört. Er kam angelaufen und wurde befohlen, die Frau in ihre Hütte zu bringen. Die Frau ging aber von allein. Der Wachsoldat folgte ihr streng auf den Fersen, den Daumen unterm Gewehrriemen. Was muss nur der kleine Junge gedacht haben.“ Und damit zur ausführlicheren Vorstellung der anderen Angebote dieses Newsletters.
Erstmals 1944 erschien in der der Benzinger Edition im Arena Verlag Würzburg „Der kleine Drache auf dem Berg“ von Maria Seidemann: Alle lachen den kleinen Drachen aus. Nichts kann er, nicht einmal Feuer spucken. Also zieht er aus, um das Feuerspucken zu lernen. Er fliegt in die Stadt, fragt in jedem Haus. Er fliegt zum Zirkus. Doch auch dort kann ihm niemand helfen. Über der Wiese stößt er mit einem Papierdrachen zusammen. Und plötzlich wird alles ganz anders. Aber machen wir uns doch erstmal miteinander bekannt. Hier der Anfang der fast unglaublichen Geschichte:
„Der kleine Drache auf dem Berg
Auf dem Berg wohnen die Drachen. Sie reißen Bäume aus und bauen sich daraus ein Nest. In dem schlafen sie. Morgens fliegen die Drachen über die Stadt. Sie spucken Feuer und erschrecken die Menschen.
Der kleinste Drache kann kein Feuer spucken. Die alten Drachen lachen ihn aus.
Der kleine Drache bläst und bläst, aber aus seinem Maul kommt kein Feuer. Er muss es noch lernen.
Die alten Drachen fliegen allein über die Stadt.
Der kleine Drache muss auf dem Berg bleiben. Deshalb weint er. Aus seinen Augen tropfen riesige Tränen auf die Stadt.
Die Menschen rufen: „Es regnet, es regnet!“ Sie ziehen ihre Schuhe aus und rennen durch die Pfützen.
Der kleine Drache will auch durch die Pfützen rennen. Er fliegt vom Berg herunter.
Die Menschen schreien: „Hilfe, ein Drache!“ Sie verstecken sich hinter einem Gartenzaun.
Der kleine Drache sagt: „Ich spucke kein Feuer!“
Trotzdem werfen die Menschen mit ihren Schuhen nach ihm.
Der kleine Drache wird wütend. Jetzt will er Feuer spucken. Er bläst und bläst.
Aber aus seinem Maul kommt kein Feuer.
Die Menschen lachen ihn aus.
Der kleine Drache fliegt davon.
Später ruht sich der kleine Drache auf einem Dach aus. Aus dem Schornstein steigt Rauch. Der kleine Drache überlegt. Woher kommt der Rauch? Spuckt da unten im Haus jemand Feuer?
Schnell fliegt der kleine Drache vom Dach herunter. Er schaut durch ein Fenster und sieht einen großen Herd. Auf dem Herd stehen viele Töpfe und Pfannen.
Vor dem Herd läuft ein Koch hin und her. Er trägt eine weiße Mütze und hält einen Löffel in der Hand. Aus jedem Topf kostet er ein wenig. Der Herd spuckt Feuer.
Der kleine Drache freut sich und klettert durch das Fenster. Aber der Koch erschrickt. Er wirft den Löffel nach dem Drachen und versteckt sich unter dem Tisch.
Der kleine Drache fragt: „Lieber Herd! Wie spuckt man Feuer?“
Der Herd antwortet nicht.
Jetzt schleicht der Koch herbei. Er hat ein Messer in der Hand.
Der kleine Drache flüchtet.
Er sucht ein anderes Haus mit einem anderen Feuer.
Aber alle Menschen fürchten sich vor dem kleinen Drachen. Sie schließen Fenster und Türen.
Der kleine Drache fliegt über die ganze Stadt. Hinter der Stadt liegt der Wald. Am Wald steht ein Zelt. Im Zelt spielen Geigen. Und Trompeten.
Der kleine Drache schleicht sich in das Zelt. Hier sitzen viele Menschen. Sie lachen über einen Affen. Der Affe fährt auf einem Fahrrad.
Der kleine Drache versteckt sich unter einer Bank. Jetzt tanzt ein Mann auf einem großen bunten Ball.
Auf einmal macht der Mann seinen Mund auf. Er spuckt Feuer.
Die Menschen rufen: „Ah!“
Der kleine Drache ist begeistert. Er kriecht unter der Bank hervor. Die Bank kippt um.
Die Menschen schreien und fliehen vor dem kleinen Drachen. Alle drängen aus dem Zelt hinaus. Das Zelt wackelt.
Der kleine Drache sagt zu dem Mann mit dem Ball: „Ich will doch nur wissen, wie man Feier spuckt.“
Aber der Mann rennt auch davon.
Traurig fliegt der kleine Drache weg. Seine Tränen tropfen auf eine Wiese.
Auf einmal denkt der kleine Drache: „Menschen erschrecken ist ganz langweilig. Ich will gar kein Feuer spucken.“ Zu den alten Drachen auf den Berg will er auch nicht zurück. Er wischt seine Tränen mit der Pfote ab.
Auf der Wiese spielen Kinder. Der kleine Drache schaut hinunter und fliegt lauter Kreise. Plötzlich stößt etwas an seinen Kopf. Der kleine Drache sieht nichts mehr. Er verfängt sich in einer Schnur. Er muss auf der Wiese landen.“
Es folgen gleich zwei Titel von Hildegard und Siegfried Schumacher, zunächst „Wie Daniel Dornröschen wachküsst“.
Dieses Buch erschien erstmals 1993 im Franz Schneider Verlag: Daniels Eltern studieren. Weil sie wenig Zeit haben, ist Daniel manchmal bei den Urgroßeltern. Dort denkt er sich in dem alten Haus mit dem großen Garten tolle Märchenspiele aus: Uropa ist der König, Uroma die gute Fee. Und wenn Mutter kommt, ist sie Dornröschen. Liest sie dann in ihren Büchern, statt mit Daniel zu spielen, braucht er sie ja nur wachzuküssen! Dieses poetische Büchlein ist für Kinder ab 4 Jahren gedacht, vielleicht zum Nachahmen, wenn die Mutter im Home Office keine Zeit für ihr Kind hat. Und so fängt es an. Natürlich mit – Daniel:
„Wie Daniel Dornröschen wachküsst
Am liebsten ist Daniel bei den Großeltern. Nicht, dass er seine Eltern nicht liebt. Daniel findet seinen Vater groß und stark und seine Mutter wunderschön. Mit den Eltern hat Daniel viel Spaß. Sie spielen und lachen mit ihm. Leider fehlt für Spiel und Spaß oft die Zeit. Daniels Vater studiert und seine Mutter auch. Wer studiert, braucht Zeit zum Lernen. Dabei stört Daniels Fröhlichkeit. Sogar seine Fragen stören. Weder Vater noch Mutter schimpfen deshalb. Sie machen nur gequälte Gesichter. Dann weiß Daniel Bescheid und verschluckt die nächste Frage, die schon auf seiner Zunge liegt. Daniel will seinen Eltern beim Studieren nicht im Wege sein. Doch es ist schwer, still dazusitzen, wenn das Lachen und hunderttausend Fragen herauswollen. Daniels Eltern fanden eine Lösung: die Urgroßeltern. Denn die Eltern von Daniels Eltern, also die Omas und Opas kamen auch nicht in Frage. Sie studieren zwar nicht, aber sie arbeiten. Die Urgroßeltern jedoch sind längst Rentner, die nicht mehr arbeiten müssen. Sie haben Zeit für Daniel. Sie leben in einer kleinen Stadt. Die ist so klein, dass kaum jemand sie Stadt nennen will. Sie liegt zwischen Wäldern und Wiesen.
Die Urgroßeltern wohnen in einem kleinen Haus. Dort haben sie viel mehr Platz als Vater und Mutter in ihrer Studentenwohnung. Zu dem kleinen Haus gehört ein großer Garten. Ein riesengroßer Garten. Wer weiß, wenn Wolf nicht wäre, ob Daniel überhaupt immer wieder zum Haus zurückfinden würde. Ja, so groß ist der Garten! Er ist ein Märchengarten, und Wolf ist kein Hund, sondern der Wolf vom Rotkäppchen. Aber ein lieber Wolf. Die Urgroßmutter kennt ganz viele Märchen. Sie ist das reinste Märchenbuch. Der Kopf des Urgroßvaters steckt voller wahrer Geschichten. Daniel hört den beiden gerne zu. Der Urgroßvater ist der König vom Märchengarten, auch wenn er es gar nicht weiß. Und die Urgroßmutter weiß nicht, dass sie die gute Fee ist.
Wenn Vater und Mutter zu Besuch kommen, gehören sie auch zu den Bewohnern des Märchengartens. Daniels Mutter sitzt gern auf der Bank hinter dem Holunderbusch. Diese liegt versteckt wie Dornröschens Schloss hinter der Dornenhecke. Aber jetzt lässt der Königssohn nicht hundert Jahre auf sich warten. Er späht in jeden Winkel. Von Dornröschen keine Spur! Da kann sie nur hinter dem Holunderbusch verborgen sein.
Also macht sich der Königssohn leise auf den Weg. Er kämpft sich durch die Dornenhecke. Genauer gesagt, er umgeht den Holunderbusch und tritt auf Dornröschen zu. Von seinem Ausguck auf dem Kirschbaum hat Daniel alles beobachtet. Er weiß, was kommt. Es ist eben wie im Märchen. Der Königssohn beugt sich vor und küsst Dornröschen. Sie zieht ihn an sich und schlingt ihre Arme um seinen Hals. Es ist genau wie im Märchen.
Sie küssen sich lange. Daniel macht keinen Muckser. Er findet das Küssen schön. Manchmal zieht der Königssohn Dornröschen auch auf seinen Schoß. Davon steht nichts im Märchen. Vielleicht wurde es nur vergessen. Dauert Daniel das Küssen zu lange, steigt er vom Hochsitz und nähert sich laut singend dem Holunderbusch.
„Da seid ihr ja“, sagt Daniel und setzt sich zwischen die beiden. So sind sie eine Märchenfamilie. Dann ist Daniel der Prinz, der später mal König wird.
Zum Märchengarten gehört auch Jasmin, die Nachbarin. Weil sie ein zu kurzes Bein hat und deshalb humpelt, ist sie die Hexe. Eine Hexe muss sein. Aber eine böse Hexe ist sie eigentlich nicht. Daniel findet sie sogar sehr nett. Wenn er sie besucht, hat sie stets etwas Schokolade oder Bonbons. Und Hundekuchen für Wolf. Daniel nimmt Wolf immer mit, wenn er zum Hexenhaus geht. Daniel hat Jasmin nie verraten, dass sie seine Hexe ist. Er will sie nicht kränken. Mit Jasmin ist es wie mit Wolf. Der ist auch kein böser Wolf, und trotzdem ist er der Wolf im Märchengarten.
Er hat Rotkäppchen nicht gefressen. Und die Großmutter auch nicht. Daniel würde das nie zulassen. Mit Rotkäppchen verstehen sie sich prächtig. Rotkäppchen ist Anke. Sie ist mit Hexe Jasmin verwandt. Wie Daniel kommt sie manchmal zu Besuch in die kleine Stadt. Anke, Daniel und Wolf spielen dann im Garten Rotkäppchen. Aber anders. Daniel ist der Jäger. Wolf ist der Wolf. Wer Anke ist, wisst ihr schon. Die drei beschützen die Großmutter vor dem bösen Zauberer. Wolf hat dabei eine sehr wichtige Rolle. Er ist am schnellsten und hat die schärfsten Zähne.
Huiii, wenn er dem Zauberer an die Hose fährt, saust der wie ein gebissener Affe davon.
Danach stärken sich die drei mit Kuchen und Wein bei der Urgroßmutter. Der Kuchen sind Kekse.
Urgroßmutter kann köstliche Kekse im Backofen zaubern. Der Wein ist Himbeersaft in einer echten Weinflasche mit Korken. Die Kekse werden genau durch drei geteilt, Für Freunde gehört sich das.“
Das zweite Angebot von Hildegard und Siegfried Schumacher hat inzwischen schon sage und schreibe 51 Jahre auf seinem Buchbuckel. „Der Zauberlöwe“ erschien erstmals 1969 im Kinderbuchverlag Berlin: Tine wünscht sich einen richtigen Löwen zum Geburtstag. Ihre Enttäuschung ist groß, als sie statt des Löwen den Kater Bimbo bekommt. Tines Zauberer Simsalabim ist machtlos, er kann gar nicht zaubern. Tine denkt sich einen Zauberspruch aus, aber mit dem kleinen Zauberstab der Puppe Simsalabim klappt es nicht. Doch der Vater ist Verkehrspolizist und besitzt einen richtigen großen Zauberstab, mit dem er sogar ganz große LKWs zum Halten bringt. Heimlich holt sich Tine in der Nacht den Stab und ein riesengroßer Löwe liegt plötzlich statt der Katze in ihrem Bett. Tine erlebt nun mit Bimbo und ihrem Freund Emil spannende Abenteuer. Zum Schnuppern ist hier eines davon:
„Dreimal lässt sich Tine um den Dorfplatz tragen. Niemand schaut aus dem Fenster, nur die Gardinen bewegen sich. Haben die Dorfleute etwa Angst? Sehr freundlich winkt Tine mit ihrem Stab nach allen Seiten. Jeder kann sehen, Bimbo ist ein lieber Löwe, ein zahmer Löwe, der niemand ein Härchen krümmt. Umsonst, die Straße bleibt wie ausgekehrt. Das Dorf ist stumm, kein Traktor bottert, kein Eimer klappert. Die Kühe muhen nicht, die Schweine quieken nicht. Der Hahn allein kräht gellend seine Hennen in den Stall zurück. In Mückenburg wird es weniger langweilig sein. Über Felder, Koppeln, Gräben, über Hügel und durch weite Wiesentäler reitet Tine querfeldein. Sie wird Emil zur Schule abholen. Dort hinter den Pappelbäumen wohnt er. Gerade drückt er seinem Fahrrad Luft in die Schläuche. Die Mappe hängt ihm schon auf dem Rücken.
„Hallo, Emil!“, ruft Tine.
Er dreht sich um, klappt den Mund auf wie ein Fisch im Trocknen und weicht Schritt um Schritt zurück, bis ihn die Hauswand aufhält. Schnell rückt er sein Fahrrad als Deckung zwischen sich und Bimbo. „Du, ist der bissig?“, fragt Emil hastig.
„Keine Spur“, versichert Tine und krault Bimbo die Mähne. „Er ist so zahm wie eine Ofenkatze. Du kannst ruhig herkommen.“
Doch nur zögernd schiebt sich Emil näher. Die schwarze Luftpumpe hält er erhoben, als hätte auch er einen Zauberstock. „Ist dieser Löwe dir zugelaufen?“
Tine erzählt, und Emil guckt ihr fast die Wörter aus dem Mund. Laut pustet er die Luft aus, als sie fertig ist. „So viel Kraft steckt in dem Autostock?“, fragt er und holt tief Atem. „Das hätte ich nie gedacht. Wenn ich groß bin, werde ich Verkehrspolizist wie dein Vati.“ Und er sieht von Bimbo auf den schwarz-weißen Stab und von dem Stab auf Bimbo.
„Ja, mein Vati ist wirklich ein ganz besonderer Mann“, sagt Tine. „Er ist sehr klug und hat überhaupt keine Angst. Und in Mückenburg hat nur er so einen Zauberstab.“
Emil schnallt seine Schulmappe ab und lässt sie samt Fahrrad auf dem Hof liegen. „Schnell, zur Schule!“, ruft er und klettert hinter Tine auf den Soziussitz, denn den Fahrerplatz gibt sie nicht her. „Die werden staunen, besonders Heinrich. Der ist ein Löwenkenner.“
„Halt dich gut fest, damit es keinen Verkehrsunfall gibt“, sagt Tine. Dann schnalzt sie mit der Zunge, und Bimbo fällt in seinen flotten Löwentrab.
Schon reiten sie in Mückenburg ein. Hastig verschwinden Väter und Mütter mit ihren Flaschenkindern in der Krippe. Sie zerren die Größeren in den Kindergarten und bumsen die Tür zu.
Aus dem Konsum-Bäckerladen duftet es nach frischen Semmeln. Warmer Kuchenhauch weht auf die Straße. Tine schnuppert. Hm, Kringelschnecken und zuckerglasierte Mandelschnitten!
Bimbo streckt witternd die Nase in die Höhe. Er zieht einen tiefen Schnaufer ein. Die Katzenmahlzeit vom Geburtstagsabend füllt einen Löwenmagen wie ein Regentropfen den Ozean. Fast von ganz allein lenkt Bimbo nach links und tappt die drei Stufen zum Laden hinauf.
Eine Oma möchte mit zwei weichen Mummelsemmeln im Plastebeutel nach Hause, wo der Kaffee in der Kanne dampft. Da versperrt ihr der Löwe den Weg. Einen Schrei will die Oma aus ihrer Kehle reißen, sie seufzt nur bang, tapert rückwärts und drückt die Türflügel breit auf. Bimbo braucht bloß hindurchzumarschieren, doch er ist ein höfliches Tier. Einen Schritt tritt er zurück und gibt der Oma den Weg frei.
Im Laden sind alle wie gelähmt vor Schreck. Selbst die Kuchenbienen setzen mit dem Summen aus. Die Leute starren Bimbo an, der bescheiden vor der weit geöffneten Tür wartet. Er weiß, was sich gehört, die Oma soll den Vortritt haben. Aber sie klebt in ihrer grauen Kittelschürze gleich einer Fledermaus an der Tür. Aus purer Verlegenheit klopft Bimbo mit seiner Schwanzquaste auf die Stufen. Er hechelt kurz, weil er das Wasser im Maul nicht mehr zu bändigen weiß. Es tropft ihm vor lauter Appetit heraus. Nein, nicht vor Appetit auf die Oma, der Kuchenduft sticht ihm in die Nase. So stehen sie sich gegenüber, Löwe und Brötchenkäufer. Lange stehen sie so.
Da löst die Oma den Bann. Sie stürzt davon, den Beutel mit den Semmeln schleudert sie fort. Er trifft Bimbos Hinterteil, und mit einem Satz ist er im Laden.
„Rette sich, wer kann!“, kräht ein Maurerlehrling und hechtet ins oberste Brotfach.
Das Fräulein mit dem Strohhütchen hüpft in das Auslagenfenster. Hier kauert sie mit dem einen Knie in der Buttercremetorte und drückt mit dem anderen eine Zitronenrolle nieder. Ihr Rocksaum wedelt einen Windbeutelberg um.
Mätzchen Birnebaum springt auf den Verkaufstisch, schwingt sich auf die dicke Hängelampe und schaukelt wie ein Uhrpendel hin und her.
Die anderen fliehen mit lautem Geschrei, fegen Kuchenbleche zu Boden, werfen Brötchenkörbe um. Sie rasen durch die Backstube und retten sich durch das offene Fenster hinten hinaus.
Eingeklemmt im Warengang, zittert Fräulein Mehlstaub, die Verkäuferin. Heute sagt sie nicht, erst kommen die Erwachsenen dran. Unhörbar schiebt sich Bimbo auf seinen Polstersohlen vorwärts. Kreisrund weitet sich Fräulein Mehlstaubs Mund. Ohne Mühe würde ein Doppelbrötchen hineinpassen. Sie streckt dem riesigen Löwen die gespreizten Finger entgegen, um ihn aufzuhalten. Aber es hilft nichts. Er stapft über Brote, Semmeln, Kuchenstücke genau auf sie zu.
Da befiehlt Tine mit hoch erhobenem Zauberstab: „Setz dich, Bimbo, schenk Pfötchen!“
Wie ein geschulter Hund nimmt er Platz, und Emil und Tine rutschen von seinem Rücken. Dem Bäckerfräulein bietet Bimbo seine tellergroße Pfote und damit Freundschaft an. Kalkweiß setzt sich Fräulein Mehlstaub in einen Schneckenkorb.
„Sie brauchen keine Angst zu haben“, beruhigt Emil sie. „Tine hat den Autostock von ihrem Vati mit.“
Das tröstet Fräulein Mehlstaub nicht. Sie äugt mit schiefem Kopf auf die Löwenpranke. Wieder und wieder wischt sie sich ihre Hand an der weißen Schürze ab. Bimbo wird die Pfote schwer vom langen Halten. Er legt sie dem Bäckerfräulein in den Schoß.
„Bestimmt hat er Hunger“, sagt Tine leise, um Bimbos Schwäche zu entschuldigen.
„Hunger!“, stößt Fräulein Mehlstaub hervor. „Hunger hat er“, sagt sie noch einmal und langt ins Brotfach.
Was ist ein Vierpfünder für einen leeren Löwenmagen? Ein Happs, und das Brot versinkt wie in einem Kellerloch. Kurz wischt Bimbo mit der Zunge über Maul und Nase und sperrt wieder seinen Rachen auf. Erneut will das Bäckerfräulein ins Regal greifen.
„Hier liegt genug herum. Wenn es recht ist, räumt Bimbo auf“, sagt Tine hilfsbereit.
Fräulein Mehlstaub nickt. Bimbo geht an die Arbeit. Er räumt gründlich auf. Brot um Brot, Semmeln haufenweis lässt er verschwinden. Kuchen happst er hinunter, ohne auszusuchen.
Emil spürt das Strohhutfräulein in ihrem Versteck voll zerstörter Tortenstückchen auf. „Hierher, Bimbo!“, ruft er. Mit einem Aufschrei entflieht das Fräulein aus der Ladentür. Auf dem Fußboden lässt sie ihre Buttercremetapsen zurück. Bimbo leckt sie sauber auf, und dann steckt er seinen dicken Kopf ins Schaufenster.
Draußen an der großen Glasscheibe drücken sich Menschen dicht bei dicht die Nase platt. Bimbo stört es nicht. Er macht sich über den Nachtisch her. Zum Schluss schleckt er zart die Sahnetropfen von der Scheibe. Sofort ziehen sich die Zuschauer zurück. Sehr dünn scheint ihnen plötzlich die Glaswand.“
Unter dem vielversprechenden Titel „Eine Stadt sucht einen Mörder“ veröffentlichte Jan Flieger erstmals 1987 im Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik eine Sammlung von sechs Kriminalgeschichten, denen authentische Fälle zugrunde liegen, die sich in den Jahren 1951 bis 1980 in der DDR zugetragen haben: Hier schreibt ein Autor, der die Arbeit der Kriminalpolizei genau kennt. Kindesmord (der legendäre Kreuzworträtselmörder und andere), Brandstiftung und Raubmord sind die Hauptthemen seiner Erzählungen, und der Autor zeigt das stille Heldentum der Männer, die die Verbrechen aufklären, ihre nie erlahmende Einsatzbereitschaft, ihre Arbeit bis über die physischen Grenzen hinaus, wenn es darum geht, einen komplizierten Fall zu lösen. Beginnen wir gleich mit dem ersten und zugleich am meisten ans Herz gehenden Fall dieses spannenden Buches. Der Leser ist unmittelbar bei den Ermittlungen dabei:
„Eine Stadt sucht einen Mörder (Tatjahr: 1959)
- Kapitel
Bamberg sitzt in der Badewanne, als der Anruf kommt. Er springt hoch, wirft sich den Bademantel über und stürzt, ohne sich abgetrocknet zu haben, ins Wohnzimmer.
Es ist Däuerling.
„Einsatz, Ernst.“
„Was liegt an?“
„Ein sechs Jahre altes Mädchen wird vermisst. Seit zehn Uhr. Der Vater ist hier im VPKA. Ich schicke das Auto los.“
„Gut“, sagt Bamberg und legt auf.
Es ist achtzehn Uhr dreißig. Er wird Gisela einen Zettel auf den Tisch legen. Er wundert sich, dass sie noch nicht da ist, aber sie könnte bei einer Freundin sein.
Im VPKA überfliegt er die Vermisstenanzeige. Das verschwundene Mädchen heißt Rosemarie Lehmann und wurde am 20.2. 1953 in Rostock geboren. Es ist 110 cm groß, hat ein ovales Gesicht, eine Stupsnase und eine hohe Stirn, dichtes braunes Haar und einen kurzen Pony. Das Mädchen sieht auffallend bleich aus und hat Sommersprossen. Bekleidet ist es mit einem schwarzblauen Trägerrock, einer blauen Bluse, einem grünseidenen Unterrock, rosa Hemd und Schlüpfer, blau-weißen Söckchen und braunen Riemchensandaletten.
Alle erforderlichen Maßnahmen, so erfährt Bamberg, sind sofort nach der Anzeige eingeleitet worden. Sämtliche Reviere, Funkwagen, Schnellkommandos, die Transportpolizei und die Wasserschutzpolizei sind verständigt worden, alle Endstellen der Straßenbahn, die im Dienst befindlichen Taxen, die Unfallbereitschaft und alle Krankenhäuser.
[*] Kapitel
Bamberg öffnet leise die Tür des Vernehmungsraumes, in dem Däuerling mit dem Vater der Vermissten sitzt, grüßt und setzt sich auf den freien Stuhl. Der Vater blickt zu Bamberg, unterbricht aber seine Worte nicht.
„Zu unserer Familie gehört noch ein Junge im Alter von dreizehn Jahren aus der ersten Ehe meiner Frau. Meine Frau geht halbtags arbeiten. Vormittags. Ihre Arbeitsstelle ist fünf Minuten von unserer Wohnung entfernt. Rosemarie wird früh vom Jungen in den Kindergarten gebracht, und um zwölf Uhr dreißig wird sie von ihm oder von meiner Frau wieder abgeholt.“
„Wie ist der Kontakt Ihrer Tochter zu fremden Menschen?“, fragt Däuerling.
„Rosemarie ist sehr kontaktfreudig.“
„Mit welchen Kindern spielt sie?“
„Eigentlich mit jedem. Wenn Rosemarie vom Kindergarten zurück ist, spielt sie meist auf dem Hof oder in der Köbisstraße. Wie die Spielgefährten heißen, können Ihnen sicher mein Junge oder meine Frau sagen.“
„Haben Sie sie schon suchen müssen?“
„Bisher noch nicht.“
„Wie war das mit Ihrer Schwiegermutter?“
„Meine Frau und ich sind am zweiten Juli in Urlaub gefahren. Da hat meine Schwiegermutter Rosemarie mit nach Rostock genommen. Am fünfzehnten Juli sind wir zurückgekommen. Die Schwiegermutter brachte unsere Tochter am sechzehnten Juli.“
„Sie gaben in Ihrer Anzeige ein Federballspiel an?“, fragt Däuerling.
Der Mann nickt. „Meine Frau hat es ihr am siebzehnten Juli gekauft.“
„Beschreiben Sie es bitte.“
„Die beiden Schläger haben einen weißen Griff. Auf dem Griffansatz steht die Firmenbezeichnung. Die Teller beider Schläger sind mit Perlonfäden gewebt. Zum Spiel gehören zwei Bälle, einer ist bräunlich, der andere silbergrau. Rosemarie hatte noch einen weißen Igelitbeutel bei sich mit einer roten Schnur zum Zuziehen.“
„Kann sich Ihre Tochter bei anderen Familien aufhalten?“
„Ich wüsste nicht, wo Rosemarie hingegangen sein könnte.“ Plötzlich stutzt der Mann. „Da ist etwas. Am achtzehnten Juli haben wir alle abwechselnd mit Rosemarie auf dem Hof Federball gespielt. Nach dem Mittagessen, so gegen vierzehn Uhr, hat Rosemarie mit einem Mann aus der Leninallee Federball gespielt. Der hielt sich in dieser Zeit auf seinem Hof auf und hatte seinen Hund bei sich. Die Höfe der Schillerstraße, in der wir wohnen, und der Leninallee bilden einen Komplex. Wie der Mann heißt, weiß ich nicht.“
„Schildern Sie bitte den heutigen Tag“, beginnt Däuerling wieder und wirft Bamberg einen kurzen Blick zu. „Möglichst genau.“
„Gegen acht Uhr kam Rosemarie an unser Bett. Wir haben ihr ein Bilderbuch gegeben und sind alle so gegen acht Uhr dreißig aufgestanden. Gegen neun Uhr ging Rosemarie zum Konsum an der Leninallee und holte Brötchen und Butter. Dann haben wir gemeinsam gefrühstückt. Rosemarie nahm sich ein Brötchen und ging mit dem Federballspiel auf den Hof. Sie rief einige Mal, ob nicht die Mutti mit ihr Federball spielen würde. Meine Frau hatte aber noch häusliche Arbeiten zu erledigen und konnte nicht sofort runtergehen. Von der Küche aus habe ich Rosemarie auf dem Hof stehen sehen. Ich bin dann mit dem Jungen in den Keller gegangen und habe den Handwagen rausgeholt. Ich weiß aber nicht, wie spät das war. Als ich noch am Wagen hantierte, kam der Herr Dörner, holte sein Fahrrad aus dem Keller und sagte, dass es regnen würde. Ich fuhr dann mit dem Handwagen los in Richtung Bahnhof zum Altstoffhändler. Der Junge begleitete mich. Es nieselte. Um elf Uhr zehn waren wir wieder in unserer Wohnung.
Kurz nach drei viertel zehn wollte meine Frau mit meiner Schwiegermutter einkaufen gehen. Da haben sie Rosemarie das erste Mal gesucht. Meine Frau dachte, dass sie bei einer Freundin sei. Als beide Frauen vom Einkauf zurückkamen, das muss so gegen elf Uhr dreißig gewesen sein, haben sie in der Köbisstraße und in der Reichpietschstraße vergeblich nach Rosemarie gesucht. Als ich nachher zurückkam, haben wir intensiv in der ganzen Gegend nach unserer Tochter Ausschau gehalten. Ich glaube, dass Rosemarie nur vom Hof gegangen sein kann, als ich im Keller war. Oder sie ist zu diesem Zeitpunkt noch auf dem Hof gewesen und erst dann weggegangen, als ich mit dem Handwagen zum Bahnhof fuhr. Sie muss in der Gegend der Köbisstraße verschwunden sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Tochter im Regen weit weggelaufen ist. In der Köbisstraße sind alle Hauskeller, aber nicht alle Böden durchsucht worden. Ergebnislos. Meine Schwiegermutter ist gegen zwölf Uhr zum Bahnhof gegangen und um zwölf Uhr dreiundvierzig mit dem Zug nach Rostock gefahren.“
Däuerling blickt Bamberg an. „Ernst, ein Blitztelegramm nach Rostock.“
Bamberg erhebt sich und verlässt den Raum.
[*] Kapitel
Von dem Mädchen fehlt auch am Morgen des 21. Juli jede Spur. Däuerling befiehlt, dem Kreisfahndungsbevollmächtigten Fotos der Vermissten zu übergeben. Ein Sonderkommando mit Hunden soll die Gartenanlagen und besonders offenstehende Lauben und Stallungen durchsuchen.
Aber Rosemarie bleibt unauffindbar.
Nachfragen in allen Kindergärten der Stadt bringen kein Ergebnis.
Wo war Rosemarie Lehmann?
Wo?
Die Morduntersuchungskommission besteht zu diesem Zeitpunkt aus fünf Genossen: Hauptmann Däuerling, dem Leiter, Leutnant Ernst Bamberg, Leutnant Martin Sperber, dem Kriminaltechniker, Leutnant Hartmut Rautenstein, Oberleutnant Peter Reisig.
Gegen fünfzehn Uhr fehlt von dem Mädchen noch immer jede Spur, und Däuerlings Unruhe wächst stündlich.
[*] Kapitel
Kurz nach fünfzehn Uhr verlässt der Lagerverwalter Egon Huppert seinen Betrieb. Er will mit dem Fahrrad nach Hause fahren. In der Gaststätte „Zur Perle“ trinkt er noch ein Glas Bier und raucht eine Zigarette.
Dann radelt er weiter, steht ein paar Minuten vor den geschlossenen Schranken, weil ein D-Zug kommt, biegt dann nach rechts ab und fährt am Bahndamm entlang. Schließlich verspürt er die Wirkung des Bieres. Er steigt ab, legt das Fahrrad auf den Boden und tritt an ein Gebüsch. Plötzlich erschrickt er. Seine Hände beginnen zu zittern: In dem Gebüsch liegt ein Kind, ein Mädchen.
[*] Kapitel
Sechzehn Uhr vier. Es klingelt.
Däuerling hebt den Hörer ab. Der Bezirksfahndungsbevollmächtigte ist am Apparat. Däuerlings Gesicht ist starr, als er auflegt.
„Sie haben das Mädchen gefunden, Ernst“, sagt er zu Bamberg und erhebt sich. „Am Bahnkörper in der Nähe der Mühsamstraße. Ruf alle an.“
Bamberg benachrichtigt Peter Reisig, Martin Sperber und Hartmut Rautenstein.
[*] Kapitel
Das Auto braucht nur zwanzig Minuten. Das Mädchen liegt unmittelbar in der Nähe der Bahnkilometer 3,8 bis 3,9. Die Kriminalisten können nicht ganz heranfahren und parken hinter der Schranke an der Mühsamstraße.
Rosemarie liegt in einem Holundergebüsch unmittelbar am Fuße des Bahndammes. Vom Bahndamm aus ist sie nicht zu sehen. Die Genossen der Morduntersuchungskommission treffen zusammen mit dem Arzt und dem Staatsanwalt ein.
Bambergs Kehle ist trocken, als er vor der Leiche steht. Das Kind liegt auf dem Rücken, nackt, die Beine gespreizt und angezogen. Nur am rechten Fuß befindet sich ein Söckchen. Über Brust und Kinn liegt ein weißer Igelitbeutel. Ein Trägerrock ist halb über das Kind gebreitet. Eine Bluse, ein grünseidener Unterrock und ein rosa Hemd liegen zusammengeknüllt auf dem linken Oberarm. Auf dem Bauch stehen ein paar braune Sandaletten.
Um den Hals des Kindes liegt ein Strick, und ein rosa Schlüpfer bedeckt Mund und Nase.
Minutenlang stehen sie wie erstarrt.
Der Arzt tritt zurück. „Erwürgt“, sagt er. „Möglicherweise auch vergewaltigt. Das wird die Autopsie zeigen.“
Däuerling beugt sich noch tiefer hinab. Als er sich aufrichtet, sagt er: „Sämtliche Kleidungstücke sowie der Oberkörper, die Beine und die Arme sind mit einer weißgrauen Substanz beschmutzt. Diese pulverartige Substanz liegt auf dem Haar und über der Stirn. Es ist wohl nicht hier geschehen. Die Äste und ihre Verzweigungen“, ergänzt er, «lassen ein solches Verbrechen in diesem Strauch auch nicht zu.»
„Ja“, sagt Bamberg. Sein Gesicht ist bleich. Er reibt sich das Kinn.
„Wir brauchen einen Fährtenhund, noch ehe eine genaue Besichtigung des Fundortes vorgenommen wird“, ordnet Däuerling an.“
Ja, so ist es also traurige Gewissheit, dass das kleine Mädchen nicht mehr lebt. Und damit fangen die Ermittlungen erst an. Wer hat sie umgebracht? Wer hat ein so gemeines und grausames Verbrechen auf seinem Gewissen? Hauptmann Däuerling, der Leiter der zuständigen Morduntersuchungskommission, und seine Genossen setzten alles daran, den Mörder des Mädchens zu finden. Und mit ihnen eine ganze Stadt …
Viel Vergnügen beim Lesen und Mitfiebern mit den Kriminalisten, weiter eine gute, gesunde und Corona-freie Zeit und bis demnächst. Im Moment haben wir ja umständehalber viel Zeit für eine der schönsten Vergnügungen der Menschheit – für das Bücherlesen, meine ich, egal ob als gedruckte Ausgabe oder als E-Book. Hauptsache, die Autoren schreiben gut und verstehen ihr Handwerk, spannende und berührende Geschichten zu erzählen. Jan Flieger gehört zweifellos dazu. Und Rosemarie Lehmann aus Rostock wäre übrigens vor wenigen Tagen 61 Jahre alt geworden …
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