COVID-19 bietet eine einzigartige Chance, postinfektiöse Krankheiten wie ME/CFS in seinen Spuren zu erfassen
Auch heute kämpft die Menschheit wieder mit einer schweren Infektionserkrankung, die mittlerweile weltweit als Covid-19-Pandemie bekannt geworden ist. Angesichts der Tatsache, dass die Krankheit Myalgische Enzephalomyelitis (ME) häufig einen infektiösen Ausbruch hat, gibt es zwangsläufig bereits eine beträchtliche Diskussion darüber, ob die gegenwärtige Pandemie einen Anstieg der Zahl der Fälle von "ME" auslösen wird. Alarmierende Daten liefern die früheren SARS- und MERS-Epidemien von 2003 und 2015, die die Virusausbrüche mit dem verstärkten Auftreten von ME/CFS in Verbindung bringen.
Von 233 Hongkonger Krankenhaus-SARS-Überlebenden, die vier Jahre nach dem Virusausbruch untersucht wurden, berichteten 40,3% über ein chronisches Erschöpfungsproblem und bei 27,1% wurde ME/CFS diagnostiziert. (1) Ähnliche Daten wurden von 229 Toronto-SARS-Überlebenden erhoben, von denen 10% drei Jahre nach der Infektion ME/CFS-Symptome aufwiesen. (2)
„Wir wissen seit der Dubbo-Infektionsstudie von 2006, dass bei einer schweren Infektion (bakteriell oder viral) ein bestimmter Prozentsatz infizierter Personen mit einer ME/CFS-ähnlichen Erkrankung zurückbleibt“, sagt Prof. Scheibenbogen von der Charité Berlin. (3)
Die Myalgische Enzephalomyelitis (ME), die oft auch als Chronisches Fatigue Syndrome (CFS) bezeichnet wird, wird von der Weltgesundheitsorganisation bereits seit 1969 als neurologische Erkrankung eingestuft und ist seit mindestens den 1930er Jahren sowohl in epidemischer als auch sporadischer Form aufgetreten. Es betrifft Menschen aller ethnischer Gruppen, aller Alterskohorten und unabhängig vom sozioökonomischen Status. (EUROMENE Gruppe). (4) Es gibt zwei Altersgipfel, in der Jugend zwischen dem 10. und 19. Lebensjahr und zwischen 30 und 39 Jahren. Frauen sind etwa dreimal so oft betroffen wie Männer. (5) Es wird geschätzt, dass ca. ein bis vier von 1000 Erwachsenen diese Erkrankung haben. (6)
Die Pathophysiologie von ME/CFS ist nicht gut verstanden, jedoch gibt es Evidenzen für immunologische, endotheliale und metabolische Anomalien. Zu den Symptomen gehören nach einem meist infektiösen Beginn (viral oder bakteriell) schwere Erschöpfung (Fatigue), nicht erholsamer Schlaf, Schwäche, Muskel- und Gelenkschmerzen, Gedächtnis- oder Konzentrationsstörungen, druckempfindliche Lymphknoten, Halsschmerzen, Kopfschmerzen und Schlafstörungen. Hauptsymptom ist eine Zustandsverschlechterung nach körperlicher oder geistiger Belastung, meist zeitverzögert 24 bis 48 Stunden nach Aktivität. Es kommt zu multiplen Funktionsstörungen (endokrine, neuromuskuläre, kardiovaskuläre, verdauungsfördernde und andere). (7)
EUROMENE, ein europäisches Netzwerk zu ME/CFS, schätzt die Zahl der an ME/CFS Erkrankten in Europa zwischen 730.000 und 4,1 Millionen Menschen. Oft führt die Erkrankung zu schweren Behinderungen, hohen Gesundheitskosten und großem Leid. (4)
Die wirtschaftliche Belastung durch die Krankheit wurde europaweit auf 40 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. (9) Weltweit wird vermutet, dass mehr als 17 Millionen Menschen an ME/CFS erkrankt sind.
Obwohl die Daten zu ME/CFS nach wie vor begrenzt sind, wurde ein Zusammenhang zwischen Viruspandemien und ME/CFS-ähnlichen Symptomen von Forschern des Johns Hopkins Hospital durch eine retrospektive Analyse von Militärkohorten während der asiatischen Grippepandemie 1957-1958 hergestellt (10). In jüngerer Zeit zeigte eine nationale norwegische Studie, dass sich der Prozentsatz des Auftretens von ME/CFS nach der Influenza-A-(H1N1)-Pandemie 2009 verdoppelte. (8)
Acht Jahre nach dem Ausbruch in Toronto war eine Gruppe von 50 ehemaligen Beschäftigten im Gesundheitswesen immer noch arbeitsunfähig und litt an „Schmerzen des Bewegungsapparates, ausgeprägter Schwäche, leichter Ermüdbarkeit und Atemnot.“ (2)
In der jetzigen kritischen Zeit konzentriert sich die Welt zu Recht auf den Umgang mit den unmittelbaren Auswirkungen der COVID-19-Pandemie. „Ich hoffe, dass sich die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen“, so die Vorsitzende der Lost Voices Stiftung, Nicole Krüger. „ME/CFS wird bis heute weltweit als Krankheit ignoriert, ihr wird zum Teil die Existenz abgesprochen. Vielfach kommt es zu Stigmatisierung und Vernachlässigung. Warnung von Patientenorganisationen zu ungeeigneten und potenziell gefährlichen Therapieempfehlungen fanden viele Jahre kein Gehör. Wir benötigen bei Covid-19-Erkrankten eine Nachverfolgung über die nächsten 24 Monate und es gibt Hinweise, dass die ersten drei Jahre eine Schlüsselrolle bei einer möglichen Chronifizierung spielen. Nicht die Trainingsprogramme können die Chronifizierung von ME/CFS verhindern, sondern das strikte Einhalten der zum Teil krankheitsbedingt sehr niedrigen Energiegrenzen. "Das Thema ME/CFS führt ein Schattendasein im deutschen Gesundheitssystem. Ein normales Leben mit ME/CFS ist nicht möglich. Wir brauchen stationäre und ambulante Versorgungsstrukturen“, so Frau Stamm-Fibich, MdB SPD, anlässlich eines Parlamentarischen Fachgesprächs am 05.03.2020 in Berlin. (11)
„Wir wollen anlässlich des Internationalen ME/CFS-Tages sensibilisieren! Es dürfen nicht wieder Erkrankte auf der Strecke bleiben, die zwar eine Covid-19-Erkrankung überwunden, aber eben nicht wieder zu voller Gesundheit zurückgefunden haben. Postinfektiöse Erkrankungen dürfen nicht mehr länger durch alle Raster der Forschung und Versorgung fallen“, so die Vorsitzende der LVS. Es erscheint wahrscheinlich, dass die gegenwärtige Coronavirus-Pandemie, die durch die ssRNA SARS-CoV-2-Virus verursacht wird, in den kommenden 6-18 Monaten einen weltweiten Anstieg der neuroimmunologischen Erkrankung ME/CFS auslösen könnte.
Frau Professor Scheibenbogen vom Charité-Fatigue-Centrum und Frau Professor Behrends von der Kinderklinik der Technischen Universität München planen eine Registerstudie für die Erfassung des Verlaufs von SARS-CoV-2-Infektionen bei ME/CFS-Erkrankten aller Altersgruppen. Die geplante Registerstudie wird von der Lost Voices Stiftung unterstützt. Im Rahmen eines LVS-Stipendiums soll in einer Masterarbeit über 12 Monate die Immunantwort von ME/CFS Patienten nach einer Covid-19-Infektion untersucht werden. (12) Frau Prof. Behrends, TU München, Kinderklinik Schwabing, verwies während des Parlamentarischen Fachgesprächs darauf, dass bei einer geschätzten Prävalenz von 0,3% aktuell von circa 250.000 ME/CFS Betroffenen in Deutschland und von 40.000 Kindern und Jugendlichen ausgegangen werden kann. Bei jüngeren Betroffenen führt ME/CFS zu sehr langen Fehlzeiten in der (Hoch-)Schule oder Ausbildungsbetrieben. Wichtig sei es, eine zeitnahe Diagnose zu stellen, um sekundäre körperliche und seelischen Schäden durch Fehldiagnosen und langen Arztodysseen zu reduzieren. Am Ende betonte Prof. Behrends, dass die Arbeit der beiden Anlaufstellen ohne die Förderung von Stiftungen überhaupt nicht möglich wäre.
Doch eine Registerstudie kann nur ein erster Schritt sein, so die Vorsitzende Krüger. „Eine längerfristige, groß angelegte Studie ist erforderlich. COVID-19 bietet eine einzigartige Gelegenheit, das Auftreten von postinfektiösen Krankheiten in seinen Spuren zu erfassen. Noch wirkungsvoller wäre es, die entstehende Gesamtkohorte nach COVID-19 genau zu verfolgen und zu untersuchen, um zu verstehen, wie postinfektiöse Krankheiten entstehen und wie sie zu behandeln sind. Hier ist vor allem die Politik gefragt. Forschungsbemühungen zu ME/CFS sind weltweit und auch in der EU unterfinanziert. So zeigte sich der EU-Petitionsausschuss jüngst besorgt über die Unterfinanzierung der EU-Forschung zu ME/CFS. Ohne den privaten Sektor sähe die Lage noch schlechter aus. Beispielsweise gab das US-amerikanische Institute of Health 2014 gerade einmal fünf USD pro ME/CFS-Patient/in für Forschung aus. Zum Vergleich bei MS waren es 255 USD und bei HIV 2482 USD. (13) Seit dieser Zeit haben sich die Förderungen in den USA vervielfacht. In Deutschland gibt es aber bis heute keine staatliche Förderung.
Die Dame mit der Lampe, Florence Nightingale, konnte mit einfachen Hygienemaßnahmen die Sterblichkeitsrate in den britischen Lazaretten auf der Krim dezimieren. (14) Forschungsförderung und klinische Studien weltweit könnten einen Paradigmenwechsel generieren, um postinfektiöse Erkrankungen wie ME/CFS verstehen und heilen zu können.
Literaturverzeichnis:
3. Hickie I,Davenport T, Wakefield D, Vollmer-Conna U, Cameron B, Vernon SD, Reeves WC, Lloyd A. Dubbo Infection Outcomes Study Group. Post-infective and chronic fatigue syndromes precipitated by viral and non-viral pathogens: prospective cohort study. BMJ. 2006;333(7568):575. 1
9. Underfunding of biomedical research into Myalgic Encephalomyelitis is unjustified, say MEPs [Pressemitteilung]. Abgerufen von https://www.europarl.europa.eu/news/en/press-room/20200425IPR77906/underfunding-of-biomedical-research-into-myalgic-encephalomyelitisis-unjustified
11. http://stamm-fibich.de/4300/verbesserung-der-me-cfs-versorgung-dringend-notwendig/
12. https://www.lost-voices-stiftung.org/startseite/aktuelles/
13. S. Institutes of Health. “Estimatien of Funding for Varius Resarch, Condition an Diseases Categories [RCDC] NIH, published March 7, 2014 http://report.nih.gov/categorical_spending.aspx
Die bisher unheilbare neuroimmunologische Multisystemerkrankung Myalgische Enzephalomyelitis ME (oft auch als Chronic Fatigue Syndrome CFS bezeichnet) ist eine Krankheit, die alle Dimensionen sprengt. Es existiert hierzulande keine medizinische, soziale und pflegerische Versorgung für ME/CFS-Erkrankte. Für diese "verlorenen Stimmen" setzt sich die Lost Voices Stiftung als eine von wenigen Organisationen in Deutschland ein, um sie ins Blickfeld des Gesundheitssystems zu rücken und Lösungen für die unerhörte Situation zu finden. Es sind vor allem junge Menschen, die durch einen Infekt aus dem Leben gerissen werden und an ME/CFS erkranken.
Wir möchten das Thema in die Öffentlichkeit tragen, engagieren uns für eine bessere Versorgungslage, wir kämpfen um ein höheres Forschungsbemühen, um dringend benötige Forschungsgelder und um eine bessere Arztausbildung.
Ein Beispiel unseres aktuellen Engagements ist, unsere Förderung junger Wissenschaftler mit besonderem Schwerpunkt auf die Erkrankung. Diese erhalten ein einjähriges Stipendium und wir ermöglichen ihnen die Teilnahme an einer internationalen Fachtagung zu ME/CFS. Wir leisten damit einen aktiven Beitrag, um die Versorgungssituation in Deutschland künftig zu verbessern.
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