Grünewalds Flucht nach Halle und Zeitungstexte eines sympathischen Weltverbesserers
Ein ganz großes Thema hat auch Opa Zausel in seinem Kinderbuch für „Menschen ab sechs Jahren“ angefasst – Opa Zausel erzählt unterstützt von zwei ebenso neugierigen wie lebensklugen Mäusen „Die endlose Geschichte von Glück und Leid“. Übrigens hat Opa Zausel sein Buch auch höchstpersönlich illustriert. Eine typische Doppelbegabung.
„Elitepartner und Omatyp“ – unter diesem zunächst etwas überraschenden Titel hat Martin Meißner zumindest einen Teil seiner Zeitungskolumnen versammelt und sie somit vorerst vor dem Vergessenwerden gerettet. Für diese Texte wäre das Vergessenwerden aber auch wirklich zu schade. Sogar ein leibhaftiger Landespolitiker zollte den Meißnerschen Kolumnen und deren Verfasser seinen Respekt.
Schließlich bringt der heutige Newsletter noch einen historischen Krimi, einen Hansekrimi. Jan Eik hat „Kurisches Gold“ geschrieben.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. Diesmal gehen wir ein Stück zurück in die Weltgeschichte, als es noch eine DDR gab, die hier einem kleinen Inselstaat solidarische Hilfe leistet. Dann aber geraten die Dinge in diesem erfundenen Land durcheinander, allerdings nicht ohne das Zutun ausländischer Kräfte, genauer gesagt ausländischer Unternehmern, und das Militär putscht … Und es bleibt die alte Frage, die sich nach wie beim Beurteilen politischer Vorgänge bewährt: Cui bono – Wem nützt es eigentlich?
Erstmals 1976 veröffentlichte Wolfgang Held im Verlag Das Neue Berlin den Abenteuerroman „Visa für Ocantros“: „Der Platz hinter dem Pfeiler des Triforiums war überlegt gewählt. Selbst außerhalb des Blickfeldes der Gläubigen bleibend, konnte der untersetzte, rotblonde Mann im verschwitzten Kakianzug das Kirchenschiff bis zum Altar überschauen. Er hatte die Kathedrale einige Minuten nach Beginn der Messe betreten und war auf dem Weg über die steinerne Treppe zur säulengetragenen Galerie von niemandem bemerkt worden . Nun verfolgte er gleichgültig das religiöse Zeremoniell, warf ab und zu einen Blick auf die Uhr und wickelte schließlich eine UZI-Maschinenpistole aus einem Stück verblichenen Sackleinens …“
Henry Kulaman soll erschossen werden. Doch der Premierminister des kleinen, fast ganz vom Dschungel bedeckten Inselstaates entgeht durch Zufall dem Attentat. Wenige Tage später putscht, geschürt von ausländischen Unternehmen, ein Teil der Streitkräfte. In die blutigen Auseinandersetzungen werden auch Unbeteiligte verwickelt, darunter drei Monteure, die in einer der größten Städte eine aus der DDR importierte Druckerei aufbauen sollen. Als Martin Katrup auf der Insel landet, sind seine beiden vorausgeflogenen Kollegen jedoch spurlos verschwunden.
Das Buch entstand nach dem gleichnamigen zweiteiligen DEFA-Fernsehfilm, der 1974 im Auftrag des Fernsehens der DDR im DEFA-Studio für Spielfilme hergestellt wurde. Hauptdarsteller sind Gojko Mitić, Alfred Müller, Barbara Brylska und Angel Stojanow. Die Erstausstrahlung beider Teile war am 25. Dezember 1974. Der am Szenarium beteiligte Schriftsteller Wolfgang Held entwickelte aus der Vorlage den gleichnamigen Roman, der 1976 erschien und bis 1990 mehrmals aufgelegt wurde. Ein hübsches Zitat aus dem Film soll hier noch angefügt werden, das von dem von Alfred Müller gespielten Monteur Martin Katrup stammt: „Ich bin doch nicht James Bond.“ Und damit zurück zum Buch. Als Vorgeschmack darauf hier der Beginn des zweiten Kapitels, in dem sich der Monteur aus der DDR in ungewohnter Gesellschaft wiederfindet:
„Das Hotel Westminster befindet sich im Zentrum der Hafenstadt Port Albert. Unaufdringlich ordnet sich das um die Jahrhundertwende errichtete Gebäude in die graue Häuserfront ein. Allein der in Bronze geprägte Name neben dem Portal hebt das Etablissement anspruchsvoll aus der anonymen Fassadenzeile hervor. Durch sieben Jahrzehnte haben hier alle Inselbesucher von Rang und Namen Unterkunft gefunden. Von einem kleinen Hotel gleichen Niveaus in der Hauptstadt abgesehen, gibt es auf Ocantros für das erste Haus von Port Albert keine Konkurrenz. Die Preise sind entsprechend. Man kann auf der Insel zwar noch einige Gasthäuser oder Pensionen finden, in denen es sich billiger wohnen lässt, doch der Besucher muss dort auf fließend Wasser, Bettwäsche und Sicherheit vor Ungeziefer verzichten. Niemand mutet ausländischen Experten und Facharbeitern derartige Behausungen zu, und so kommt es nicht selten vor, dass im Gästebuch des „Westminster“ der Name eines Monteurs aus Europa zwischen solchen millionenschwerer Leute aus der Welt des internationalen Kapitals und des Hochadels steht. Martin Katrup zum Beispiel ist in dieser Liste zwischen einem Mitglied der königlichen Familie Schwedens und einem japanischen Großindustriellen eingetragen.
Das Zimmer des Monteurs liegt auf der Rückseite des Hotels. Von einem Balkon aus sieht er in einen engen, muffigen Hinterhof, der im offenen Rechteck von verwitterten Hauswänden begrenzt wird. Eine Ausfahrt mündet in eine schmale Nebengasse. Küchengeruch, vermischt mit dem Gestank faulender Abfälle, steigt aus der Schattenschlucht. Martin Katrup begreift schon in den ersten Minuten, weshalb es keinen seiner Hotelnachbarn aus der drückenden Schwüle der. Zimmer zu dem auf jedem Balkon stehenden Liegestuhl zieht. Auch er bleibt nicht lange, doch ihm entgeht nicht, dass an der hinteren Ausfahrt des Hotels zwei bewaffnete Männer in Uniform vorüberschlendern, die er bei seiner Ankunft am Portal gesehen hat. Das „Westminster“ wird von Militär bewacht!
Martin Katrup bringt den Inhalt seiner beiden Koffer in Schrankfächern und auf Kleiderbügeln unter, doch seine Gedanken bleiben währenddessen noch eine Weile bei den Uniformierten. An und für sich hat er nichts gegen besondere Schutzmaßnahmen für Ausländer. Im Gegenteil. Im Verlauf seiner Einsätze ist er schon einige Male bestohlen worden. In Colombo zum Beispiel hatte man ihm auf nie geklärte Weise das gesamte Reisegepäck aus dem Hotelzimmer entwendet. Die Diebe hatten nicht einmal seine Zahnbürste und den Rasierpinsel zurückgelassen. Sie waren spurlos verschwunden, obwohl dort in jedem Etagenkorridor ein finster blickender Aufpasser gesessen hatte. Gegen die eidesstattliche Erklärung, die Polizei aus dem Spiel zu lassen und über den bedauerlichen Vorfall Stillschweigen zu bewahren, hatte ihm die Hoteldirektion damals den Schaden sehr großzügig ersetzt, aber richtig freuen konnte er sich nicht über die neuen Anzüge, Schuhe und Reiseutensilien. Er gehört, sehr zum Leidwesen seiner Frau, zu den gar nicht seltenen Männern, die sich von einer abgetragenen Hose genauso ungern trennen wie von einem gesunden Zahn. Es gibt eine Menge Sachen, die wesentlich schlimmer sind, als beklaut zu werden, denkt Martin Katrup und hat das unangenehme Gefühl, dass die beiden Bewaffneten vor dem Hotel keine sehr zuverlässige Garantie für einen gefahrlosen Aufenthalt in diesem Land bieten.“ Und damit zur ausführlicheren Vorstellung der anderen Sonderangebote dieses Newsletters.
Gerade eben ist als Eigenproduktion von EDITION digital und zwar sowohl als gedruckte Ausgabe wie auch als E-Book „Die endlose Geschichte von Glück und Leid“ von Opa Zausel erschienen: Eigentlich erzählt gar nicht Opa Zausel in dem reich bebilderten Kinderbuch die einfachen und kurzen Märchen zum Vorlesen und Selbstlesen für Kinder ab 5 oder 6 Jahren. Er lässt die Mäuse Louis & Louise plaudern, denn die stecken immer bis über beide Mäuseohren im Geschehen über Gut und Böse mit den Figuren Glück und Leid. Glück und Leid kämpfen in verschiedenen Episoden gegeneinander. Das Glück beschützt die Menschen vor der grenzenlosen Bosheit des Leides. In einem leidenschaftlichen Kinderbuch-Szenario lernen die Kinder, Recht und Unrecht zu unterscheiden. Die spannenden Kurzgeschichten sind Mutmach-Geschichten. Leicht gruselige Texte wechseln mit Traumgeschichten zum Einschlafen. So verhexte das Leid die einzige Kuh, um deren Zustand sich die Bauerskinder sorgenvoll kümmerten. In einer Gruselgeschichte im Wald raubte ein Bösewicht ein Kleinkind und keine Stadtwache schaffte es, dies zu finden. Das Leid beseitigte fast einen Medicus, der auf der langen Reise zu einem schwerkranken Kind war. Schließlich verbündete es sich mit dem Teufel, um das Glück für immer aus der Welt zu schaffen. Unendlich viel Arbeit für das Glück. Lest selbst in den spannenden mit sehr schönen Bildern versehenen Geschichten, ob das zu schaffen ist. Und so geht es los:
„Vom Glück, vom Leid und den beiden Mäusen Louis und Louise
Hinter einer kleinen Wiese, vor einem kleinen Wald, wohnt in einem kleinen Haus das Glück.
Das Glück hat keine Augen. Trotzdem findet es sich gut zurecht. Man sagt, darum bringt es seinen Segen auch für Menschen, die es vielleicht nicht verdient haben.
Am liebsten isst das Glück Spinat. Deshalb hat es so gute Muskeln. Das Glück verspricht oft Dinge, die es nicht halten kann. Weil es so einen großen Mund hat. Das sollte man eigentlich nicht, aber wie das Glück so ist …
Es ist überall auf der Welt unterwegs, um Glück zu bringen. Ihr könnt es an seinen Stiefeln sehen. Sie sind schon alt und kaputt. Auch für dich hat es schon viel getan. Bestimmt hast du schon öfter Glück gehabt.
Der Feind des Glückes ist das Leid. Man nennt es auch Elend, Kummer oder Not. Das Leid wohnt in einem finsteren Sumpf. Wo genau, weiß niemand.
Das Leid kann es nicht ertragen, wenn Menschen glücklich sind. Es neidet den glücklichen Menschen ihr Glück und will ihnen sein Leid bringen.
Das Leid ist von Natur aus böse. Immer wenn es Glück und Frohsinn wittert, lässt es seinen Raben „Krax“ in die Höhe steigen. Der weist ihm dann seinen Weg dorthin, wo es Böses zu tun gibt.
Darum hütet euch vor ihm und geht ihm aus dem Wege, wo ihr nur könnt.
Diese beiden, das Glück und das Leid, gibt es schon ganz lange. Solange die Menschen denken können!
… und dann sind da auch noch die beiden Mäuse Louis & Louise. Sie machen dumme Sprüche und treiben Schabernack ohne Ende. Louise muss ihren Mäusemann oft zur Vernunft ermahnen – ihr werdet schon sehen. Erkennt ihr es auch, beide lieben so gar keine Hausarbeit!
Louis & Louise schlafen gern richtig lange, essen recht gut und viel. Besonders gern lesen sie im Buch von „Glück und Leid“. Im Sommer immer draußen auf der Wiese vor ihrer Höhle, manchmal tief bis in den Herbst hinein. Ihre wichtigste Eigenschaft ist eine unbezähmbare Neugier. Es gibt kaum etwas, das uninteressant für sie wäre.
Wenn sie dem Glück auf seinen Wegen folgen, wird es manches Mal auch gefährlich. Besonders, wenn es auf das Leid stößt. Dann gibt es fast immer einen Kampf – Gut gegen Böse. Und nicht immer gewinnt das Glück. Nun seid auch ihr neugierig, schaut und hört.“
Erstmals 2010 erschien im Verlag Janos Stekovics Dößel der große Grünewald-Roman „Nach dem großen Aufstand“ von Erik Neutsch, dessen Text auf ausdrücklichen Wunsch des Autors nicht auf neue Rechtschreibung umgestellt wurde: Erik Neutschs Geschichtsepos handelt von dem in den Jahren der Reformation und der Bauernkriege schöpferisch tätigen Maler Mathias Grünewald, sichtbar gemacht an seinem genialen Hauptwerk, dem „Isenheimer Altar“. Alles, was von diesem neben Dürer und Cranach größten Künstler jenes Zeitenumbruchs bekannt ist, blieb rätselhaft: sein wirklicher Name, seine Herkunft, die Entstehungsgeschichte seiner Bilder und Altäre. Dabei stand er als Hofmaler des Kardinals Albrecht von Brandenburg, Erzbischofs von Mainz, Magdeburg und Halberstadt, bis zu seiner Flucht nach Halle an der Saale an höchst exponierter Stelle. Erik Neutsch sucht in seinem mit großem Atem und sprachlich brillant erzähltem Roman nach den Wurzeln und Kräften, die Grünewalds Werk beflügelt haben, nach den Quellen seines über die Jahrhunderte fortwirkenden Schaffens und den Ursachen seines erzwungenen Scheiterns. Allegorisch versucht er dabei auch auf die stets aktuelle Frage zu antworten, wie sich Künstler im gesellschaftlichen Umbruch verhalten und zu welchen Leistungen sie, ohne sich selbst zu verraten, fähig sind. Hier zunächst das aufschlussreiche Vorwort und der Anfang des ersten Kapitels:
„Vorwort
Vieles, was Aufklärung geben kann über diesen oder jenen Verlauf der Geschichte, auch über Verstrickungen von Personen in die Gewalt der Ereignisse, findet sich oft erst nach Jahren, manchmal gar erst nach Jahrhunderten, und dann formt sich ein Bild, das allem bisher Geglaubten, Behaupteten und teils längst als gesichert Angesehenen entgegensteht. Weniger mag es vielleicht die Überlieferung historischer Fakten betreffen als vielmehr den Menschen, den einen und unverwechselbaren, der in seiner Zeit zu leiden, niederzustürzen oder zu überleben hatte. Der Zufall – oder bleibt es nicht oft genug doch der fleißigen Arbeit eines wahrheitsliebenden Chronisten zu danken? – bringt’s an den Tag, unvermittelt, plötzlich, und alles Begutachten, Urteilen, Schauen gerät in ein anderes Licht.
So auch geschah es, als 1991 und danach, mit dem restaurativen Bestreben, die alten Verhältnisse wieder zu ordnen, die Bestände der vor fast vierhundertundfünfzig Jahren gegründeten Marienbibliothek in Halle neu gesichtet wurden. Man war auf der Suche nach Handschriften der Reformatoren, Luthers, Wincklers, Müntzers vielleicht, und Humanisten wie Melanchthon – und stieß im untersten Verlies auf eine, die von Johan Glaser stammt, Bornmeister der Salzquellen einst, Promotor beim städtischen Rat und vor allem lange Zeit Kanzleischreiber im Dienste Kardinal Albrechts.
Glaser starb 1552. Sein Protokoll, wie wir es heute wohl nennen würden, abgesegnet übrigens von dem damals sehr einflußreichen Finanz- und Handelskaufmann Hans Schenitz, ist nahezu pedantisch geführt, wurde jedoch nie an den eigentlichen Auftraggeber, den Kardinal, dem die Stadt längst zuwider geworden war, abgeschickt. Glaser muß es geheimgehalten haben, und erst seine Erben aus der marktnahen, später in Brüderstraße umbenannten Prüfel, wo er im Hause „Zum Weißen Hirsch“ wohnte, an der Stelle der heutigen Nummer 15, überließen es offenbar nach seinem Tode der schon erwähnten Marienbibliothek.
Die Aufzeichnungen Glasers beziehen sich allein auf den Maler Mathis, der über die Jahrhunderte hinweg irrtümlich Grünewald genannt wurde, den Schöpfer – unter anderem – des Isenheimer Altars, in Wirklichkeit aber, wie die Forschung belegen konnte, Neithardt hieß, geschrieben auch Nithardt, und der später seinem Namen den des Gothardt hinzufügte, nachdem ihm einer seiner Geistesverwandten, Johannes de Indagine, eine dem Doktor Faustus ähnliche Gestalt zu Beginn des 16. Jahrhunderts, dazu geraten hatte.
Auch darüber ist in der Akte zu lesen, deren erster Eintragung am 21. Juni 1527 erfolgte, jenem Tag, an dem Johan Glaser die Ankunft des Meisters Mathis Gothardt-Nithardt in Hall, d. i. Halle an der Saale, erwartete.
Erstes Kapitel
Sei getreu bis an den Tod,
so will ich dir die Krone des Lebens geben.
(Offenbarung 2/10)
Soll man den Worten Johan Glasers glauben (und nichts spricht zunächst dagegen), so muß Meister Mathis achtundvierzig Jahre alt gewesen sein, als er im Spätfrühling von 1527, Hals über Kopf, wohl mitten in der Nacht und in einem wilden Ritt, zu Pferde Frankfurt am Main verließ. Nichts außer dem Nötigsten nahm er mit, dazu etwas Wegzehrung und seinen Wappenring, der ihn als hochgestelltes Mitglied dereinst am Hofe des Kardinals Albrecht auswies. Alles andere, was ihm noch gehörte, ließ er in Kästen und Truhen verpackt zurück, bei Hans von Sarbrücken, dem Seidensticker und Wirt der Herberge „Zum Einhorn“ in der Barfüßergasse, bei dem er zuletzt Asyl gefunden hatte. Selbst sein Testament, in dem er seinen gesamten Nachlaß auf seinen Adoptivsohn Andreas überschrieben hatte, blieb dort verwahrt.
Glasers Aufzeichnungen geben Auskunft darüber, daß er bereits am ersten Tage, nachdem ihn ein Jahr später, Ende August, die Krankheit befallen hatte und das Schlimmste befürchten ließ, auf dieses Testament den größten Wert legte. Immer wieder, heißt es, habe er von seinem Sohn gesprochen und ihn liebevoll Endres genannt, was dem Namen einen welschen Anklang verliehen und womöglich aus jener Zeit herstamme, in der er im Elsaß geweilt und daselbst für das Antoniterkloster zu Isenheim den Altar geschaffen habe. Denn schließlich sei der Knabe ja auch dort zur Welt gekommen.
Die Flucht aus Frankfurt, so nach den wiederholten Aussagen des Meisters, sei aus zweierlei Gründen erfolgt. Zum einen habe der Kardinal immer entschiedener und schon unter Androhung härtester Strafen vom Rat der Freien Reichsstadt die Auslieferung aller Aufrührer gefordert, die sich in ihr seit dem Gottesgericht wider die mörderischen Bauern versteckt hielten. Und zum anderen habe er, Mathis, sich daraufhin, nachdem ihm bereits ein ähnliches Angebot aus Magdeburg aus der Hand geschlagen, der Werbung des Kaufherrn Schenitz entsonnen, der ihm noch kurz zuvor versichert habe, er könne fortan hier, in Hall und im Solde der Stadt, als Wasserkunstmeister wirken und sein Leben in Ansehen und pekuniär vollkommen unbesorgt verbringen. Was er dann male, nun freilich ohne die Aufträge der Heiligen Römischen Kirche, das liege allein in seinem Ermessen. Auch darüber könne man reden, sobald es spruchreif sei…
Mathis hatte angenommen. Und was hätte er denn auch sonst tun sollen, nachdem der Kardinal ihm sein gesamtes Vermögen in Seligenstadt geraubt, er gerade noch mit dem Sack und Pack, was auf ein Wäglein gepaßt, die schützenden Mauern Frankfurts erreicht hatte und der Kurie als Widergott galt? Er, ein Ketzer, Lutheraner, Bauernfreund, ein Ausgestoßener nach dem großen Aufstand!
Achtundvierzig, und er fühlte sich in den besten Jahren, die besten, die einem Manne zuteil werden konnten. Vielleicht würden sie noch mit der Gnade des Allmächtigen bis zu den Sechzigern reichen. Und danach?
Mathis lag auf dem Bett, in seiner Kammer bei Rumpe. Ihn hatte ein teuflischer Schwindel ergriffen. Am Abend, als er aus dem Kanal gekommen war, gekrochen. Aus dem Dreck und der Seuche. Von den Ratten, die dort wimmelten, pfiffen und heckten.
Heinrich Rumpe ließ ihn seit Monaten bei sich wohnen. Er verehrte ihn. Er hatte auf seiner Wanderschaft die Gemälde des Altars in der Kirche zum Klosterhospital von Isenheim im Entstehen gesehen. Nie würde er, selbst wenn der Kardinal nun auch ihn verfluchen sollte, seiner Bewunderung für den Meister abtrünnig werden. Mathis war für ihn, im Malerischen, im Einsatz und im Gestalten der Farben, mit ihrer Leuchtkraft, dem Feuer, der genialste seinesgleichen, genialer als Cranach aus Wittenberg und der Nürnberger Dürer, der ohnehin immer nur, mit unübertroffenem Können zwar, kühl und genau, zu zeichnen verstand.
Mathis, so jedenfalls schien es Rumpe, erfaßte überdies wie kein anderer den Geist der Zeit, die Herkunft des Menschen, seine Mühsal in diesen Jahren, gelegen zwischen dem Gestern und dem Heute. Sein Heiland am Kreuz. Ein Geknechteter, ein Geschundener. Sebastian… Auf der linken Tafel der vorderen Schauseite. Vielleicht sah der Meister in ihm sein Ebenbild? Hatte auch er sich damals schon so empfunden? Von Pfeilen durchbohrt… Und später erst recht? Am Hofe Albrechts und zunehmend unter der wankelmütigen Herrschaft seines Fürsten leidend? Aber zog er denn nicht auch die tödlichen Geschosse aus seiner Brust? Sich zu befreien? Wenngleich blutüberströmt von Wunden?“
Erstmals 2014 veröffentlichte EDITION digital als Eigenproduktion das E-Book „Elitepartner und Omatyp“ mit gesammelten Kolumnen von Martin Meißner aus der Magdeburger Zeitung „Volksstimme“: Am 21. März 2013 hatte die Volksstimme Magdeburg ihre Kolumne eingestellt. War es eine Art von schlechtem Gewissen, dass der Vorhang mit einem Beitrag von Martin Meißner fiel : „Autoren wie Pilze?“ Immerhin hatte Meißner über zehn Jahre lang mit seinen Kolumnen eine gewisse Leserschaft bei der Stange gehalten, wie mal ein Redakteur im Überschwang bemerkte. Oder reiner Zufall nur? 140 der 200 Beiträge hat der Autor in diesem Band zusammengefasst, damit diese nicht das Schicksal schnellen Vergessens von Zeitungsartikeln erleben, sondern sich einschleichen, wenn nicht gleich in die unsterbliche so doch haltbare Existenz richtiger Literatur. Dabei muss man sich bei einigen Beiträgen nicht einmal Gewalt antun. Sie kommen Geschichten gleich, Kurzgeschichten, ungetrübt von strenger Reflexion, die die Kolumne an sich eher behäbig macht.
Meißners Kolumnen sind Satiren im besten Sinne. Ohne sarkastisch zu sein, greifen sie menschliche Schwächen und Missstände in der Gesellschaft an. Sie sind spannend und unterhaltsam. Meißner tritt als Weltverbesserer auf, der wie alle Weltverbesserer scheitert. Man muss ihn einfach mögen, so Karl-Heinz Reck, der Kultusminister a.D. von Sachsen-Anhalt (von 1990 bis 2008 Mitglied der SPD). Und auf Facebook schrieb dem Autor die Userin Susanne Hergesell diese lobenden Worte: „Ihre Kolumnen sind bemerkenswert. Die seltsame Mischung zwischen Hochsprache und Alltagssprache erzeugt einen unglaublichen Humor. Die Geschichten sind komisch. Ich muss lachen und freue mich, wenn Meißner in der Zeitung an der Reihe ist.“ Und jetzt sind Sie an der Reihe, einige der Kolumnen von Martin Meißner genießen zu können. Bitte schön, hier sind ein paar Kostproben:
„Unkrank
Warum ich mir über die Gesundheitsreformen ständig Gedanken machte, fragte meine Frau. Hätte einer wie ich gar nichts mit zu tun.
„Du hast doch die Natur eines Ochsen!“
Sie stellte das fest in einem Ton, als fügte ich mit meinem robusten Körper anderen einen Schaden zu.
Da ich gesellschaftliche Vorgänge stets hellwach verfolgte, wollte ich auch persönlich teilhaben an den Auswirkungen einer so einschneidenden Reform. Die Position des Außenseiters akzeptierte ich nicht gern.
So tat ich alles, dass mein Gesundheitszustand nicht überbewertet wurde. Die braune Gesichtsfarbe zum Beispiel legte ich ab, indem ich die Sonne gänzlich mied. Außerdem unterließ ich den Sport, verzichtete auf Obst und Vollkornbrot und aß süß und fett.
Meinen Körper beobachtete ich intensiv, um ebenfalls Gebrechen zu entdecken. So atmete ich auf, wenn mein Hals rau wurde und ein Husten wohl nicht mehr lange auf sich warten ließ.
„Ich befürchte, eine Erkältung ist im Anzug“, sagte ich dann zu meiner Frau mit entsprechendem Kratzen in der Stimme.
„Habe ich jeden Tag“, hielt sie ihr Mitleid zurück.
Und als ich sagte, dass sie immer kränker sein wollte als ich, legte sie mir sofort das Fieberthermometer hin. Obwohl sie wusste, dass ich niemals Fieber bekam. In meiner Körperfunktion war eine solche Überhitzung nicht vorgesehen.
Meine Theorie, es kommt allein und geht allein, musste ich endgültig begraben. Wenn ich die Medizin nicht nahm, die meine Frau vor mir aufhäufte, sagte sie: „Dann geht es dir noch nicht schlecht genug.“
Zum Glück war ich aber eines Tages von der Leiter gefallen und hatte mir wohl den Arm gebrochen. Ich schrie und blieb auch unter der Leiter liegen.
„Was schreist du denn so?“, fragte meine Frau, die erst noch ein Telefonat beendete, ehe sie dann nach draußen kam
„Ich habe mir meinen Arm gebrochen, falls dich das interessiert“, sagte ich und fasste mir mit schmerzverzerrter Miene an den Arm.
„Und?“, wollte meine Frau wissen. „Warum liegst du dann auf der Erde, wenn du doch gesunde Füße hast?“
Noch verzögerter erschien meine Tochter an der Unglücksstelle. Ob sie mir das Fieberthermometer holen sollte, fragte sie nicht ohne Hintersinn.
Festgestellt wurde einhellig, dass ich unbedingt ins Krankenhaus müsste. Und meine Frau packte einen Koffer für einen längeren Aufenthalt.
„Ich lege den Roman von Dan Brown mit hinein“, sagte sie. “Jetzt hast du endlich Zeit, dass du ihn zu Ende liest.“
Meine Angehörigen gaben mich in der Anmeldung ab. Sie verzichteten auf einen langen Abschied, da die Gelegenheit günstig war. In dieser Stadt gäbe es ein Einkaufszentrum mit einem Bombenangebot.
Gebrochen wäre nichts, diagnostizierte der Röntgenarzt. Und auch nicht angebrochen. Eine Prellung vielleicht. Die aber auch von eher minderer Art.
Meine Bitte, trotzdem einen Gipsverband anzulegen, belustigte ihn, und sein Interesse an mir war wie weggeblasen. Er sprach mit der Schwester schon über den nächsten Fall.
Als ich zu Hause anrief, um wieder abgeholt zu werden, ging keiner ans Telefon. Ich nahm mir ein Taxi. Traf aber dann auf ein leeres Haus. Gegen Mitternacht erst polterte es in der Tür. Frau und Tochter kehrten in ziemlich ausgelassener Stimmung heim. Sie kicherten und tanzten wohl sogar durch den Korridor. Der kranke Vater in der Klinik war ihnen einerlei.
Als sie mich vor dem Fernseher entdeckten, war die Enttäuschung groß.
„Wir denken, du bist im Krankenhaus“, sagte meine Frau eingeschnappt. „Jetzt bist du ja wieder hier. Nicht zu fassen. Du bist richtiggehend unkrank. Hab ich doch immer gesagt, dass du niemals umzubringen bist. Dass du die Gesundheit von einem Ochsen hast. Du bist einer, von dem ein Gesundheitsminister nur träumen kann.“
Die Entdeckung des Nichts
Mitternachtssonne!
Um diesem Naturschauspiel beizuwohnen, das es in meiner Heimat nicht gab und auch niemals geben würde, hatte ich mit meiner Frau und der Tochter eine lange Reise auf mich genommen. Wir hatten uns diesen Wunsch erfüllt und standen nun endlich auf dem hohen Felsen des Nordkaps, 71° nördlicher Breite, 10’ und 21’’.Geduldig schauten wir auf das kalte Meer, um etwas zu sehen, was man aber nicht sah.
Es war die Stunde der Stunden gekommen – 24 Uhr. Und wie erwartet taghell, dass man noch im Reiseführer gut lesen konnte. Von der versprochenen Sonne aber keine Spur. Dafür sorgten ein grauer bedeckter Himmel und zusätzlich ein schwarzer Wolkenberg. Unsere Stimmung war entsprechend gedrückt. Genau wie die der anderen aus den Bussen und Wohnwagen, die zu Hunderten vor dem Touristenzentrum der Nordkaphallen abgestellt waren.
„Meinst du wirklich Norden?“, fragte ich bald vorsichtig meine Frau, da ich mir eine Sonne jetzt und hier nicht richtig vorstellen konnte. Immerhin stammte von ihr die Idee der Reise zur Mitternachtssonne.
Ich erinnerte mich an meinen Heimatkundeunterricht und die Merksätze, dass die Sonne im Osten aufging, im Süden ihren Mittagslauf hielt und im Westen unterging. Norden kam in diesen Sprüchen nicht vor. Auch unsere Tochter meldete nun Zweifel an. Von der langen Fahrt an den Fjorden entlang, durch baum-, strauch- oder gänzlich pflanzenlose Tundra sowieso schon ziemlich gestresst. Unterstützt wurde sie von einem kleinen Mädchen in unserer Nähe, das immer heftiger quengelte und ihre Eltern mit der wiederholten Frage löcherte: „Wo ist die liebe Sonne denn? Ich will die liebe Sonne sehen!“
Darauf aber nahte die große Stunde meiner Frau. Als Astronomielehrerin spürte sie Verantwortung für das Geschehen am Himmel vor und über uns. Entschlossen stellte sie sich neben das stählerne Gerippe des monumentalen Globus und gab ihrer Familie Erläuterungen, wie man es aus ihrer Klasse kennt. Als das noch nicht richtig anschlug, hockte sie sich hin, griff einen Stein und ritzte Linien und Kreisbögen in den Fels.
Während sie die Schrägstellung der Erdachse ins Bild brachte und darstellte, wie die Sonne die Polkappe ganztägig beschien, wurden immer mehr der zahllosen Besucher aufmerksam und schoben sich heran. Bildeten einen Kreis. Das Interesse an dem grauen Horizont erlosch.
Alle hatten nur noch das Schaubild und meine Frau im Blick. Dabei blieb der Wissensdurst nicht auf Deutsche beschränkt, die nur am Anfang in der Überzahl waren. Touristen aus aller Herren Länder drängten sich. Aber sie hielten noch respektvoll Abstand.
Erst als das quengelnde Mädchen an meine Frau herantrat, sie an die Schulter fasste und fragte: „Tante, wo ist sie denn die liebe Sonne? Ich will die liebe Sonne sehen!“ war das Eis gebrochen. Nun zuckten die ersten Blitzlichter. Und mir wurde klar, wie zahlreich Japaner den nördlichsten Punkt Europas in ihr Herz geschlossen hatten. Schüchtern und beinahe demütig traten sie an meine Frau heran und baten mit Gesten um ein gemeinsames Bild. Wie sie sich vorher wechselweise vor dem stählernen Globus ablichteten, taten sie es nun zusammen mit der deutschen Lehrerin.
Und bald schlug allgemein die Stimmung um. Erstes Lachen erklang. Die missmutigen Gesichter hellten auf. Kaum einer noch schien die Sonne zu vermissen. Die Idee, dass es sie gäbe, obwohl man sie nicht sah, war den Leuten genug.
„Seht ihr! Hat sich doch gelohnt“, sagte meine Frau auf unserer Fahrt durch die taghelle Nacht zum Hotel.
„Hast recht“, stimmte ich ihr zu.
Der alte dumme Mann
Da ich sehr interessiert war, besuchte ich gern Vorträge. Und gerade diese eher positive Gewohnheit wurde mir zum Verhängnis. Führte zu einer Niedergeschlagenheit, zu einer Depression, die in eine regelrechte Lebenskrise zu münden versprach.
Die Bevölkerungsentwicklung meines Bundeslandes in den nächsten 20 bis 70 Jahren war das interessante Thema. Wurde vergleichsweise gut besucht. Dabei überraschte es mich, wie tief die Liebe zur Statistik und besonders zur Demografie im allgemeinen Volk verankert war.
Dass Geburten, Sterbefälle, Zuzug und Abwanderung die Bevölkerungsstruktur und Zahl eines Bundeslandes bestimmten, hatte ich mir schon gedacht. Aber an den Einzelheiten mangelte es mir noch und so war ich froh, das endlich zu erfahren.
Mit den jungen hübschen Frauen begann der Referent und ihrem dramatischen Rückgang. Es fehlte nicht mehr viel und man hielte vergeblich Ausschau nach dem letzten verbliebenen Exemplar. Vergleichbar nur den Auerhennen im Harz. Um das zu beweisen, entrollte der Mann ein Schaubild, auf dem symbolisierte Superweiber an fetten Pfeilen entlang nach Westen und Bayern rannten.
Als nächstes verpissten sich, wie er es besonders volkstümlich rüberbrachte, die kräftigen jungen Männer. Die aber schon weniger als die übermobilen Frauen, da sie von Natur aus bodenständiger waren, also ziemlich bequem. Außerdem kriegten sie ihr Gesäß von Mamas Tisch nicht weg.
Die letzte Tendenz aber machte dem Referenten sichtbar Kopfschmerzen. Und er zögerte, mit einer scheinbar sehr ungeliebten Tatsache herauszukommen. Mehrfach nahm er ein Taschentuch und wischte sich die Stirn. Bei den Kindern war er angekommen, die rasend weniger wurden. Was den Kindergärten und Schulen leicht anzumerken war. Zusammen hing das mit denen, erläuterte der Experte. Er zeigte noch einmal zu den Superweibern auf dem Schaubild, die nicht nur attraktiv waren, sondern gebärfähig auch.
Aber noch etwas wollte uns der Mann mitteilen, wusste aber nicht recht wie. „Die verbleibenden Kinder werden immer …“, druckste er. Größer würde der Anteil der … Wie sollte man es sagen, ohne jemanden persönlich weh zu tun. Jedenfalls war nicht zu übersehen, dass es nur eine Schulform gab, die boomen würde. Und die Statistik wäre eben schonungslos und könnte sich kein übertriebenes Taktgefühl leisten. Da nahm ihm ein Zuschauer seine Seelenqualen ab. Ein ziemlich grobschlächtiger und unsensibler Typ, den ein Feingeist nicht gern zum Spießgesellen hätte. „Sprechen Sie es doch aus“ platzte er hervor. „Die Nachzucht wird immer dümmer.“
Entsetzt schauten alle auf diesen Mann. Besonders der Referent; der aber umgekehrt auch irgendwie erleichtert war, dass es nicht von ihm kam. Dass die schlimme Wahrheit nicht seine Lippen verließ. Ich persönlich schämte mich für diesen Grobian.
Als ich zu Hause davon erzählte, hielt sich die Empörung meiner Familie allerdings in Grenzen. Im Gegenteil, statt mich emotional zu unterstützen, verwendeten meine Lieben die Botschaft gegen mich.
„Gut, dass wir es nun wissen“, sagte der eine. Und der andere fügte hinzu, froh zu sein, den zukünftigen Bewohner unseres Landes nun zu kennen. Statistisch gesehen und überhaupt war er alt, männlich und im Kopf nicht besonders hell. Auf den Punkt gebracht also: Der Prototyp des Bewohners unserer Region in der Zukunft war der – alte dumme Mann.
Ich ließ es mir nicht anmerken, aber das schadenfrohe Gelächter der Familie kränkte mich schon.
Für mich jedenfalls wurde eines klar: Mein Bedarf an Vorträgen war erst mal gründlich gedeckt.
Idealgewicht
In unserem Kleiderschrank hing eine Vielzahl von Männerhosen. Weit mehr als sie üblicherweise in einem mitteleuropäischen Haushalt vorhanden waren. Diese Beinkleider gehörten mir, hatte die meisten aber lange nicht mehr getragen. Jahrzehnte, behauptete meine Frau. Trotzdem zögerte ich, mich von ihnen zu trennen.
„Lass ruhig hängen“, wehrte ich mich, wenn meine Gattin mal wieder mit ihren Röcken und Blusen zur Altkleidersammlung fuhr und meine Hosen mit einbeziehen wollte.
Ich konnte mich von diesen Kleidungsstücken nicht trennen, in der Hoffnung, dass sie mir eines Tages wieder passen müssten; spätestens nach der nächsten Diät.
Damit war ich bei meinem Problem – einem deutlich erhöhten Bodymaßindex. Ich war also ein wenig zu kräftig in den Hüften, einfach zu fett.
Dieses Leiden verfolgte mich eigentlich schon von Kindesbeinen an. Obwohl ich eine schöne Kindheit hatte, macht der Gedanke an den Sportunterricht wieder alles kaputt. Manchmal kam es mir vor, als hätte meine Schulzeit überhaupt nur aus Sportstunden bestanden. Aus Übungen am Reck. Aus diesem Feldaufschwung, bei dem der Lehrer zwei Mitschüler heranwinken musste, die mir, mein Gesäß nach oben schiebend, gemeinsam assistierten. Klar, welche Spuren das Hängen an diesem Foltergerät bei einem sensiblen Jungen hinterließ.
Später analysierte ich oft die Gründe für mein Übergewicht. Als Hauptübeltäter erkannte ich die Gene, denen ja im Nachhinein nicht mehr beizukommen war. So beruhigte es mich zum Teil, wenn ich im Familienalbum einen fetten Urahnen sah. Worin mich meine Frau aber nur verhalten bestärkte. „Quatsch Gene!“, sagte sie. „Du isst einfach zu gerne. Und viel zu viel.“
Um wieder an Attraktivität zu gewinnen, kniete ich mich richtig rein. Las Zeitschriften und ganze Bücher über Wunderdiäten und wandte sie auch versuchsweise an. Aber schon der Anblick von Rohkost bereitete mir extreme Übelkeit, die nur noch beim Verzehr von Körnern aus dem Bioanbau übertroffen wurde. Einleuchtend, dass ich alle Energie zum Durchhalten bald wieder verlor.
Mein letzter bedeutender Anlauf bestand nun im Besuch eines Vortrages, den ein Ernährungswissenschaftler in der Volkshochschule hielt. Vor einem großen Publikum übrigens, das aus zwei säuberlich getrennten Fraktionen bestand. Den Übergewichtigen wie mir einerseits, die man ja hier erwartete und die beim Erscheinen verschämt die Bäuche einzogen und rasch Platz nahmen. Die andere Abteilung stolzierte laut herum und wollte sich erst gar nicht setzen, damit man ihre heruntergehungerten Leiber auch lange genug sah.
Der Professor aber präsentierte sich bald als Genie. Jedenfalls für meine Fraktion. Die ganzen Wunderdiäten wären ein Unfug, wetterte er. Scharlatanerie! Und sie machten nur die Zeitschriften und Autoren reich. Milliarden für gedruckte unwirksame Ernährungstipps.
Welches Tier richtete seine Nahrungsaufnahme nach Büchern aus? Man brauchte Hunger und Durst und einen klaren Kopf. Und über die Schädlichkeit von Rohkost wollte er gar nicht erst reden. Wenn man nur bedachte, wie sich fast jede Pflanze dagegen schützte, dass sie ein Tier vertilgt. Mit Gift nämlich. Mit Unmengen schädlicher Substanz!
Kein Wunder, dass durch diesen Professor für mich die Wende kam.
Zur Überraschung meiner Frau steuerte ich schon am nächsten Tag die Kleiderkammer an. Wozu war klar.
„Ich habe das Idealgewicht“, erklärte ich.
„Seit wann?“, fragte sie und wanderte mit ihrem Blick an meiner Hüfte entlang.
„Schon immer“, sagte ich. „Das Idealgewicht eines jeden ist genau das, das er gerade hat.“
Seitdem ich dies nun wusste, fühlte ich mich ganz leicht. Richtig schwerelos.
Erstmals 2002 veröffentlichte Jan Eik bei Die Hanse. Sabine Groenewold Verlage Hamburg seinen Hansekrimi „Kurisches Gold“: Mit der Kälte aus den Wäldern Schamaiens und des fernen Rus hatte der schneidende Ostwind nur wenig Schnee gebracht, sonst wäre der Tote erst mit der Schneeschmelze im späten Frühjahr entdeckt worden. So jedoch fiel an jenem trüben Herbstmorgen des 12. November 1524 der noch vom Wein getrübte Blick des Ritterbruders Martin auf vier dicht beieinander aus der Eisfläche aufragende Aststümpfe. Nichts anderes als der blanke Übermut seiner neunzehn Jahre und die gebotene Kühlung seines schmerzenden Schädels hatten Martin von Barnhusen-Asseberg auf die gefährlich knisternde Eisdecke des Wallgrabens getrieben, auf der es sich trefflich rutschen ließ. Martin kannte die Stelle unterhalb der Wallmauer hinter der Kapelle gut. Sie ließ sich von den schmalen Fenstern des Hohen Schlosses nur schlecht einsehen. Schon im Winter zuvor hatte er sich dort gelegentlich auf dem Eis vergnügt, solange der Schnee noch nicht zu hoch lag, und im Sommer traf ihn der Priesterbruder Simon gar in der Zeit des vorgeschriebenen Stundengebets schlafend auf dem schmalen Rasenstreifen am Graben an, den Oberkörper schamlos entblößt! In der warmen Sonne hatte Martin Lust zum Baden empfunden. Nur der üble Geruch des dunklen Gewässers hielt ihn zurück. Immerhin flossen die stinkenden Abwässer des Danzkers, des Turmaborts der Burg, in diesen Graben. Blicken wir einmal an den Anfang des zweiten Kapitels, das wie alle anderen auch mit einer klaren Überschrift daherkommt:
„Wer nicht zulangt, kriegt nichts
Die hochbordige Kogge lag fest vertäut an den hölzernen Uferbohlen. Auf dem Vordeck scheuchte der alte Reymer die Bootsknechte herum, als gelte es noch an diesem Abend auszulaufen, während achterwärts in der schmalen Kajüte der Schiffsherr Johann Tigges über den Büchern saß. Die Zahlen sahen nicht schlecht aus, befand er aufatmend. Aber Zahlen waren nicht alles. Im Augenblick vertrieb sich Johann Tigges nur die Zeit damit, die Bilanz zu überprüfen. Er wartete. Einmal musste der Mann erscheinen und die bestellte Ware abholen. Erst dann war Zeit für die wahren Geschäfte.
Seufzend goss er zwei Daumenbreit Branntwein in einen zierlichen Zinnbecher und trank. Ein Kaufmann hatte sich notfalls in Geduld zu üben.
Tigges, schwergewichtig und mit silbrigen Fäden im struppigen Bart, wusste, worauf es in der Welt ankam. Auf den soliden Handel nämlich. Deshalb hatte es ihn mit der „Möwe“ ausgerechnet zum Winter in die nördlichste Stadt des kriegerischen Ordenslandes Preußen verschlagen. Andere Kaufleute der wendischen Hansestädte mieden Memel und die preußischen Städte, seit der höchste Gebietiger des Ordens, der Hochmeister Albrecht, Krieg gegen den König von Polen führte und die dem Polen hörigen Danziger den Seeweg nach Kräften blockierten. Die Memeler, aber auch die Kreuzherren benötigten das eine oder andere, was sich in Kriegszeiten schwer heranschaffen ließ. Nicht einmal durch das Kapern hansischer Schiffe, wie es schon wieder Brauch war hier oben. Nichts traf einen ehrlichen Hansekaufmann mehr als diese blindwütige Kaperei.
Der Waffenstillstand zwischen dem Hochmeister Markgraf Albrecht von Brandenburg-Ansbach und seinem Oheim, dem Polenkönig Sigismund, ging ins letzte Halbjahr. Vier Jahre waren vereinbart worden, bis Ostern 1525. Vergeblich reiste der Hochmeister noch immer im Reich herum, auf der Suche nach Geld und Verbündeten. Beide waren gleich rar in deutschen Landen. Früher, so hieß es, hatten die Ritter selber gekämpft – und verloren, wie seinerzeit bei Tannenberg. Ein Reizwort noch heute für jeden Ordensmann. Inzwischen schlugen sich auf beiden Seiten längst Söldnerscharen, die nach Beute und klingender Münze gierten und ihre Auftraggeber unter Druck setzten, zahlten die nicht pünktlich. Auf diese Weise hatte der Orden die verpfändete Marienburg verloren. Man stelle sich das vor: das stolze Schloss des Hochmeisters von den Söldnern einfach an den Polenkönig verkauft. Welch eine Schande.
Der Krieg war zum Geschäft herabgesunken, und zu keinem guten, wenn man ihn fragte, Johann Tigges, privilegierter Kaufherr der Hanse und Bürger von Lübeck, gebürtig aus der westfälischen Hansestadt Soest. Das war ein Glück, denn wegen seiner Kapergeschäfte mit dem Norweger Severin stand der Orden mit Lübeck auf Kriegsfuß. Man hatte Tigges gewarnt, einen preußischen Hafen anzulaufen. Noch dazu einen, der den Schweden Severins wegen im Visier lag. Wie immer in den letzten Jahren war es schwierig gewesen herauszufinden, wer gerade wieder gegen wen rüstete, und Tigges musste sich einmal mehr auf sein gutes Gespür verlassen, das ihn auch diesmal nicht getrogen hatte.
Im Grunde fochten ihn die dänisch-schwedischen Streitigkeiten und der Händel zwischen dem fernen Hochmeister und seinem polnischen Oheim nicht an. Seine Geschäfte blieben hoffentlich unberührt davon. Von Gotland her war er mit der „Möwe“ gerade noch rechtzeitig durch das Memeler Tief ins Haff hinter der Kurischen Nehrung und in die Dangemündung eingelaufen, bevor der Schiffsverkehr zwischen Martini und Petri Stuhlfeier wie in jedem Winter zur Ruhe kam, während der Frost das wilde, weglose Land nur wenig begehbar machte. Zu seiner unangenehmen Überraschung lagen neben der Ordensjacht „Sperber“ und allerlei kleineren Schuten zwei größere Schiffe am Kai, ein Holländer, der das dringend benötigte Salz von der Loiremündung billiger lieferte als die Hanse und nun hier festlag, und ein protziger Hamburger Holk, der ihm Sorgen bereitete. In den nächsten Tagen musste er herausfinden, was es mit diesem Nebenbuhler auf sich hatte.
Die flügellahme „Möwe“ war alles andere als ein prächtiger Hansesegler. Eine altmodische Dreimast-Kogge nur, der man die Jahre ansah, in der Breite ein wenig plump geraten und insgesamt nicht im besten Zustand. Die Schiffsknechte und die hiesigen Schiffszimmerleute würden allerhand Arbeit haben in den langen Wintermonaten. Hier im Norden waren die Tage noch kürzer als in Lübeck, aber dafür die Löhne geringer und das Eichenholz billig. Obwohl es Tigges nicht an Geld mangelte. Dafür war er schließlich Kaufmann. Im Handel mit England hatte er manches Pfund Gulden verdient, bis man seinem besten Nebenverdienst auf die Schliche gekommen war. Die gesalzene Buße, mit der ihn die Lübecker belegten, konnte er verschmerzen, auch wenn er einen Teil seiner Schiffsparten verkaufen musste. Hauptsache, der Bürgerbrief und das Kaufmannsrecht blieben ihm erhalten, so sehr auch die Steinmollers und Mulichs und andere Hanseherren in den zehn Kompanien gegen ihn hetzten. Ihm gehörten immer noch fünf Achtel der „Möwe“. Ein Viertel hielt der alte Reymer, das letzte Achtel wollte der Londoner Kompagnon nicht hergeben. Dennoch: Damit ließ es sich von Neuem klein anfangen.
Lange hatte es ihn nicht in dem dumpfen Kontor an der Trave gehalten, wo er die scheelen Blicke der missgünstigen Widersacher durch die Fenster spürte. Da fuhr er lieber mit der „Möwe“ und dem alten Reymer hinaus und bahnte neue Geschäfte an, wie es einem wahren Kaufmann anstand, der sich nicht auf andere verließ.“
Und damit zurück in die Gegenwart, die einen schönen Mai verheißt und viel Zeit zum Lesen. Stoff genug dafür bietet auch dieser Newsletter wieder – egal, ob es ein Kinderbuch, ein großer historischer Roman, zeitkritische Kurzgeschichten oder auch ein spannender Krimi sind. Sie brauchen sich nur das für Sie Passender herauszusuchen und schon können Sie loslegen …
Viel Vergnügen beim Lesen und weiter eine gute, gesunde und Corona-freie Zeit, passen Sie auf sich (und auch auf andere) auf und bleiben Sie vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.
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