Syria 2087. Fossilien der Zukunft
Für ihr Experiment greift die Designerin auf überlieferte Kulturgüter der Archäologie, auf Objekte des traditionellen Lebens in Syrien und auf Sammlungsobjekte des MKG zurück, die auf kulturelle Werte, Rituale oder historische Ereignisse verweisen. Sie dienen ihr als Vorlage für die neu gestalteten Objekte, in denen Banout verschiedene Erzählstränge, Beziehungen und Assoziationen zu einem dichten Erinnerungskosmos zusammenführt. Augenamulette – Alltagsobjekte, die bei einer ersten Grabung 1936 im syrischen Tell Brak gefunden wurden und über deren Verwendung bis heute geforscht wird – erinnern sie etwa an den Außerirdischen E.T.. Ein Brotstempel, einst traditionelles Handwerkszeichen von Bäckereien, zeigt im neu gestalteten Objekt den Mars mit seinen Monden Deimos und Phobos, und wird mit den Verweis auf die imaginierte neue Lebenswelt zum Symbol für die Ausstellung. Ein Ton-Modell bezieht sich auf einfache Lehmkuppelbauten nach historischen Bauformen, die der persischen Architekt Nader Khalili (1936–2008) in den 1980er Jahren wieder aufgriff. Die einfachen Behausungen könnten eine Vorlage für mögliche Siedlungsmuster auf der Mars werden.
Mit Bezügen zu historischen Ereignissen und zu fiktionalen oder mythischen Motiven ordnet Anna Banout ihr Experiment ein in die große Erzählung vom Bedürfnis des Menschen seit der Antike, sich mit seiner Rolle im Universum auseinanderzusetzen. Inspiriert vom Fußabdruck des Astronauten Neil Armstrong (1930–2012) auf dem Mond 1969 bringt sie mit Keilschrift die Koordinaten des Syria Planum auf dem Mars auf einen Stein. Die staubige Oberfläche des Mondes ist der der Marsoberfläche sehr ähnlich und erinnert die Designerin an die syrische Wüste. Das Areal erhielt wiederum seinen Namen vom ersten Marskartografen, dem italienischen Astronomen Giovanni Schiaparelli (1835–1910). Er übertrug 1877 die Geografie der griechischen Sage der Ilias von Homer auf den Mars. Tatsächlich, so fand Anna Banout heraus, stürzte im gleichen Jahr auch ein Asteriod in Syrien ab. Durch die Verknüpfung dieser Bilder und Ereignisse in einem Objekt spielt Anna Banout mit der Vorstellung, Dinge und Geschehnisse seien über Zeiten und Räume hinaus miteinander verbunden und trügen historische, aktuelle und zukünftige Erinnerungen in sich.
Eine magische Schale, deren aramäische Zauberformeln Alpträume verscheuchen sollen, wenn man aus ihr trinkt, verbindet die Designerin mit einer Mokka-Schale und dem Ritual des Weissagens aus dem Kaffeesatz. In das neue Objekt graviert sie statt Zauberformeln eine filigrane Karte der Marsoberfläche ein. Damit verknüpft sie die traditionellen Bräuche mit der neuen Lebenswelt und gibt dem Objekt eine weitere Bedeutungsebene: Sie verweist auf die Voyager Golden Records, die 1977 mit den US-amerikanischen interstellaren Raumsonden Voyager 1 und Voyager 2 in den Weltraum geschickt wurden. Die zwei vergoldeten Kupferplatten enthalten Daten und Informationen über die Menschheit für intelligente Außerirdische. So verdichtet Banout in diesem Objekt die Auseinandersetzung mit der Zukunft, mit Utopien und dem derzeit viel diskutierten Futurismus in der arabischen Kunst.
Anna Banout ist die erste Künstlerin, die mit ihrer Intervention eine Neuorientierung der Sammlung islamische Kunst im MKG mit dem Schwerpunkt auf zeitgenössische Design- und Gestaltungspraktiken markiert. Dahinter steht die Frage, wie Museen zukünftig islamische Kunst ausstellen wollen, um in einem zunehmend polarisierten Umfeld Gesprächsangebote zu schaffen. Das MKG versteht die Vorstellungskraft und Experimentierfreude der Designerin als wertvollen Impuls für die Neubefragung der Sammlung: Ziel ist es, die Kunstwerke nicht mehr nur als historische Objekte zu betrachten, sondern ihnen neue Bedeutungen zu geben. Das Projekt von Anna Banout erlaubt neue Räume für Erfahrungsaustausch und Wissensproduktion und geht weit über die herkömmliche Ausstellungstätigkeit hinaus.
Anna Banout wurde 1993 in einer syrisch-polnischen Familie in Polen geboren und wuchs in einem polnischen Dorf auf. Im Jahr 2017 schloss sie ihr Studium an der Akademie der Bildenden Künste in Warschau ab. Heute lebt und arbeitet sie Berlin.
Die Ausstellung wird gefördert vom Polnischen Institut Berlin.
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