Neue Erklärung für die extreme Komplexität der Mutationen im Tumorgenom
Tabakrauch, viele Chemikalien oder die UV-Strahlung des Sonnenlichts: Zahlreiche Umwelt- und Lebensstilfaktoren schädigen das Erbgut unserer Zellen und können dadurch Krebs auslösen. Diese Faktoren können einzelne DNA-Bausteine, Nukleotide genannt, in einer Weise modifizieren, dass sie bei einer anschließenden Verdopplung der DNA nicht mehr korrekt erkannt werden und ein falsches "Gegenüber" in den neu synthetisierten Strang eingebaut wird.
Zellen verfügen über eine Vielzahl an Reparatursystemen, die solche defekten Nukleotide erkennen, ausschneiden und ersetzen können. Doch welche Defekte werden repariert und welche entgehen der Reparatur und werden zu möglicherweise krebsfördernden Mutationen? Welche Auswirkungen hat das auf das Mutationsmuster der Tumorzellen? Und wie vererben sich diese Mutationen während der klonalen Expansion der einzelnen Zellen?
Das wollten Duncan Odom vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und vom Cambridge Institute des "Cancer Research UK" an der Universität Cambridge mit seinen Kollegen Martin Taylor und Collin Semple von der Universität Edinburgh mit ihrer aktuellen Arbeit herausfinden. An der Studie waren außerdem Wissenschaftler vom EMBL und vom IRB Barcelona beteiligt. Dazu induzierten die Forscher bei Mäusen mit der DNA-schädigenden Chemikalie Diethylnitrosamin Lebertumoren und analysierten das Erbgut der Krebszellen. Im Mittel hatte diese chemische Mutagenese im Erbgut jeder Krebszelle rund 60.000 Punktmutationen zur Folge.
Zu ihrer Überraschung endeckten die Wissenschaftler bei der Analyse der Mutationssignaturen, dass die von der Chemikalie ausgelösten Schäden über mehrere Zellgenerationen weitestgehend unrepariert bleiben. Die beiden unabhängig voneinander geschädigten DNA-Stränge werden bei der Zellteilung voneinander getrennt. Die beiden resultierenden Tochterzellen entwickeln daraufhin zwei unterschiedliche Mutationsprofile. Die Forscher sprechen hier von "Schadens-Segregation".
Bei weiteren Replikationsrunden führen die Schäden immer wieder zu neuen, andersartigen Mutationen, da an der defekten Stelle ja vier unterschiedliche DNA-Bausteine eingebaut werden können. Krebszellen sind in der Regel mehreren mutagenen Ereignissen ausgesetzt, so dass sich dieser Prozess der DNA-Schädigung und Segregation im Laufe der Zeit mehrfach wiederholt. Daraus resultiert am Ende ein extrem komplexes Muster an Mutationen im Tumorerbgut.
Die Mutationen betreffen natürlich auch wichtige, als Krebstreiber bekannte Gene: Die Wissenschaftler fanden bei ihrer Studie Defekte in Genen der BRAF-, RAS- und RAF-Signalwege. "Es setzen sich am Ende diejenigen Krebszellen durch, die das günstigste Muster an Mutationen tragen. Sie können am schnellsten wachsen, dem Immunsystem entkommen und möglicherweise Therapien besser überleben", sagt Erstautorin Sarah Aitken von der Universität Cambridge.
"Auch bestimmte Chemotherapeutika können DNA-Schäden induzieren, die ebenfalls segregieren und über mehrere Zell-Generationen weitere Mutationen erzeugen. Dieser Tatsache müssen wir uns bei der Entwicklung künftiger Krebsmedikamente bewusst sein", sagt Martin Taylor von der Universität Edinburgh.
"Durch das Konzept der Schadens-Segregation verstehen wir jetzt besser als vorher, wie die erstaunliche Komplexität an Mutationen in Krebszellen entstehen kann", fasst Duncan Odom zusammen. "Das erklärt uns, wie es zu der extremen Anpassungsfähigkeit der Tumoren kommen kann. Sie hilft ihnen wiederum dabei, schnell Resistenzen gegen Medikamente zu entwickeln oder sich an Umgebungen in fremden Geweben anzupassen."
Das Projekt wurde finanziert durch Mittel von Cancer Research UK sowie durch Zuschüsse des Europäischen Forschungsrats ERC, der Helmholtz-Gemeinschaft und des britischen UKRI/Medizinischen Forschungsrats.
Sarah J. Aitken, Craig J. Anderson, Frances Connor, Oriol Pich, Vasavi Sundaram, Christine Feig, Tim F. Rayner, Margus Lukk, Stuart Aitken, Juliet Luft, Elissavet Kentepozidou, Claudia Arnedo-Pac, Sjoerd Beentjes, Susan E. Davies, Ruben M. Drews, Ailith Ewing, Vera B. Kaiser, Ava Khamseh, Erika López-Arribillaga, Aisling M. Redmond, Javier Santoyo-Lopez, Inés Sentís, Lana Talmane, Andrew D. Yates, Colin A. Semple, Núria López-Bigas, Paul Flice, Duncan T. Odom, Martin S. Taylor: Pervasive lesion segregation shapes cancer genome evolution.
Nature 2020, DOI: 10.1038/s41586-020-2435-1
Das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) ist mit mehr als 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die größte biomedizinische Forschungseinrichtung in Deutschland. Über 1.300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erforschen im DKFZ, wie Krebs entsteht, erfassen Krebsrisikofaktoren und suchen nach neuen Strategien, die verhindern, dass Menschen an Krebs erkranken. Sie entwickeln neue Methoden, mit denen Tumoren präziser diagnostiziert und Krebspatienten erfolgreicher behandelt werden können.
Beim Krebsinformationsdienst (KID) des DKFZ erhalten Betroffene, interessierte Bürger und Fachkreise individuelle Antworten auf alle Fragen zum Thema Krebs.
Gemeinsam mit Partnern aus den Universitätskliniken betreibt das DKFZ das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) an den Standorten Heidelberg und Dresden, in Heidelberg außerdem das Hopp-Kindertumorzentrum KiTZ. Im Deutschen Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK), einem der sechs Deutschen Zentren für Gesundheitsforschung, unterhält das DKFZ Translationszentren an sieben universitären Partnerstandorten. Die Verbindung von exzellenter Hochschulmedizin mit der hochkarätigen Forschung eines Helmholtz-Zentrums an den NCT- und den DKTK-Standorten ist ein wichtiger Beitrag, um vielversprechende Ansätze aus der Krebsforschung in die Klinik zu übertragen und so die Chancen von Krebspatienten zu verbessern.
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