Familie & Kind

Kinderarmut: Eine unbearbeitete Großbaustelle

Seit Jahren ist Kinderarmut eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen in Deutschland. Eine neue Analyse der Bertelsmann Stiftung zeigt, dass es im bundesweiten Durchschnitt keine grundlegende Verbesserung gab. Die Corona-Krise droht das Problem der Kinderarmut zu verschärfen.

Nach wie vor überschattet Armut den Alltag von mehr als einem Fünftel aller Kinder in Deutschland. Das sind 21,3 Prozent bzw. 2,8 Mio. Kinder und Jugendliche unter 18, die oft viele Jahre ihrer Kindheit von Armut bedroht sind. Das ist das Ergebnis eines kombinierten Messansatzes, der sowohl die Armutsgefährdungsquote als auch Kinder im Grundsicherungsbezug berücksichtigt. Die Kinder- und Jugendarmut bleibt trotz der vor der Corona-Krise jahrelang guten wirtschaftlichen Entwicklung ein ungelöstes strukturelles Problem in Deutschland. Damit verbunden sind erhebliche Folgen für das Aufwachsen, das Wohlbefinden, die Bildung und die Zukunftschancen der Kinder.

Wirft man alleine einen Blick auf die Kinder, die Grundsicherung (SGB II/Hartz IV) beziehen (das sind bundesweit 13,8%), können auch regionale Entwicklungen der Kinderarmut aufgezeigt werden. Demnach haben sich etwa in Ostdeutschland Verbesserungen eingestellt. Waren dort 2014 noch 22,1 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Grundsicherungsbezug, sind dies 2019 nur noch 16,9 Prozent. In Westdeutschland stagniert die SGB II-Quote von Kindern hingegen bei 13 Prozent. Auf Kreisebene leben in einigen Kreisen bzw. Städten bis zu 40 Prozent der Kinder im Grundsicherungsbezug, in anderen sind es nur 2 Prozent. Die materielle Versorgung von Kindern in der Grundsicherung hat sich in den letzten fünf Jahren etwas verbessert – der relative Unterschied zu Kindern in gesicherten Verhältnissen ist jedoch bestehen geblieben. Insbesondere in den Bereichen Mobilität, Freizeit und soziale Teilhabe sind Familien im SGB II-Bezug teils erheblich unterversorgt. Diese Erkenntnisse zeigt ein aktuelles Factsheet der Bertelsmann Stiftung zu Kinderarmut in Deutschland, das unter anderem auf aktuellen Auswertungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) basiert.

Corona-Krise verschärft die Situation armer Kinder

Die Eltern der benachteiligten Kinder und Jugendlichen trifft die Corona-Krise besonders hart: Sie arbeiten häufiger in Teilzeit oder als Minijobber und gehören deswegen zu der Gruppe, die als erste ihre Jobs verlieren oder nur vergleichsweise wenig beziehungsweise gar kein Kurzarbeitergeld erhalten.

Laut Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung, drohen viele arme Kinder „durchs Raster zu fallen“. Zahlreiche außerhäusliche Unterstützungsangebote staatlicher oder zivilgesellschaftlicher Natur konnten während des Corona-Lockdowns nicht fortgesetzt werden – mit Folgen für die bedürftigsten Kinder und Jugendlichen. Auch beim Homeschooling sind Kinder aus armen Verhältnissen benachteiligt, verfügen sie doch seltener über die notwendige technische Ausstattung und haben zum Teil auch keine Rückzugsräume zum ungestörten Lernen. 24 Prozent der Kinder im Grundsicherungsbezug haben keinen internetfähigen PC im Haushalt, 13 Prozent keinen ruhigen Platz zum Lernen. Fast die Hälfte der Kinder wohnt in einer Wohnung, in der nicht ausreichend Zimmer zur Verfügung stehen. Insgesamt kritisiert Dräger die zu geringen Anstrengungen der Politik, um Kinderarmut zu reduzieren: „Die Politik tut zu wenig, um Kindern Armut zu ersparen. Gerade die Corona-Krise droht die Situation noch zu verschärfen. Die Politik muss jetzt handeln!“

Mit einem Teilhabegeld Kinderarmut verhindern

Dräger sorgt sich, dass in der Krise nicht genug gegen Kinderarmut unternommen wird: „Die Vermeidung von Kinderarmut muss gerade in der Corona-Krise politische Priorität bekommen.“ Er fordert deshalb neue sozial- und familienpolitische Konzepte. Notwendig ist eine transparente und Teilhabe-sichernde finanzielle Leistung für Kinder und Jugendliche, die Armut vermeidet. Vorschläge für ein Teilhabegeld oder eine Grundsicherung für Kinder liegen auf dem Tisch. Dazu gehörten laut Dräger auch Strukturen für eine konsequente Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Denn auch hier habe die Corona-Krise gezeigt, wie die Wünsche und Bedarfe von Kindern und Jugendlichen von der Politik nicht richtig erfasst und sie auf ihre Rolle als Schülerinnen und Schüler reduziert würden.

Die Bertelsmann Stiftung will sich in den kommenden Monaten intensiv mit der Perspektive von Kindern und Jugendlichen auf das Thema auseinandersetzen und startet eine Initiative #StopptKinderarmut in den sozialen Medien.

Zur Methodik:

Unter Zuhilfenahme des repräsentativen Panels Arbeitsmarkt und Soziale Sicherung (PASS) kombinieren Torsten Lietzmann und Claudia Wenzig vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zwei gängige Definitionen im Bereich der Armutsforschung – die Armutsgefährdungsquote sowie die SGB II-Hilfequote. Im Ergebnis wachsen 21,3 Prozent aller Kinder in einer Armutslage auf, d.h. in Armutsgefährdung und/oder im SGB-II-Leistungsbezug.

Auf regionaler Ebene ist eine kombinierte Armutsbetrachtung nicht möglich. Hier wird auf den Anteil der Kinder im SGB II-Bezug an der Wohnbevölkerung zurückgegriffen, der in der Statistik der Bundesagentur für Arbeit ausgewiesen wird.

Um etwas über die materielle Versorgung von Kindern und Familien in Armutslagen aussagen zu können, wird im PASS für 23 Güter und Teilhabeaspekte für Haushalte sowie 4 spezifische Aspekte für Kinder abgefragt, ob diese im Haushalt bzw. beim Kind vorhanden sind oder aus finanziellen oder aus sonstigen Gründen fehlen.

Über Bertelsmann Stiftung

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