Ulrike Draesner und Esther Kinsky erhalten Deutschen Preis für Nature Writing 2020
Die Jury setzte sich in diesem Jahr aus den amtierenden Preisträgerinnen Daniela Danz und Martina Maria Kieninger, dem Literaturwissenschaftler und Autor Ludwig Fischer, der leitenden Programmkuratorin der Stiftung Nantesbuch Annette Kinitz, der Literaturvermittlerin Brigitte Labs-Ehlert sowie dem Literatur- und Kulturwissenschaftler Steffen Richter zusammen.
Würdigung
Ulrike Draesner beschäftigt sich seit Jahren mit der Frage, wie angemessen ›von der Natur‹ zu schreiben sei. Ihr Text »Radio Silence« radikalisiert die Ansätze, eine Sprache für Naturwahrnehmung und Naturbegegnung zu finden, die über ›deskriptiv‹ oder ›homogenisierend‹ hinausgeht. Sie überschreitet entschieden Genre- bzw. Gattungsgrenzen: Elemente von Essay, Bericht, Theorie, autobiografischem Notat, Gedicht sind ineinander verwoben, der Wechsel von Innen- und Außenwahrnehmung wird meisterlich gehandhabt, und in der Variation der Sprechweisen verbinden sich äußerste sprachliche Präzision und sinnliche Anschaulichkeit. Es gelingt Ulrike Draesner, hohes theoretisches Bewusstsein und genaue naturkundliche und zeitgeschichtliche Kenntnisse mit einer außerordentlichen Nähe zur wahrgenommenen Mitwelt in der avancierten Textgestaltung zu einem hervorragenden Beispiel für zeitgenössisches Nature Writing zu verweben.
Esther Kinsky widmet ihre Aufmerksamkeit in vielen Büchern dem Gelände und weist auf Dynamik und Vielschichtigkeit, auf Beharren und Verändern, auf die Wechselbeziehung von menschlichem Vorstoß und natürlichem Widerstand hin. Sie schafft damit ein Neugelände.
In ihrem Text »Tagliamento«, in dem sich Prosa und Lyrik verschränken, schreitet Esther Kinsky sprachlich eine der letzten wilden, unregulierten Flusslandschaften Europas ab. Ihr Text folgt dem Lauf des Flusses, der in den Friulanischen Dolomiten entspringt und in das Adriatische Meer mündet, seinen Evolutionen, den Menschen, ihren Sprachen und ihrer Geschichte. Sie hört dem Wasser zu, liest im Stein und betrachtet das Spiel von Licht, Schatten, Farben. Sie bringt die Dinge selbst zum Sprechen, sie geben etwas preis, das älter als ihre Namen ist. In der scheinbar distanzierten Betrachtung gelingt es ihr, durch die Sinnlichkeit und Genauigkeit der Sprache eine überaus große Nähe und Empathie herzustellen. Wie der Fluss unter dem Schotter mäandert, so fungieren bei Esther Kinsky einzelne Wörter – auch poetisch anverwandelte geologische Fachbegriffe – wie Gelenke, Abzweigungen, Verzweigungen, an denen eine konkrete Wahrnehmung überführt wird in eine andere Bedeutungsebene. Und immer wieder entdeckt man Sprachfährten, die auf die Versehrtheiten und Erschütterungen am Tagliamento hindeuten. Esther Kinskys intensive sprachliche Erkundung und »Befragung« der Naturwahrnehmung zeigt: Keine Landschaft ist unschuldig.
Ulrike Draesner, geb. 1962, schreibt Gedichte, Erzählungen, Romane, Essays, Hörspiele, Libretti. In ihren Werken fasst sie in Sprache, was kaum sagbar ist, Sehnsüchte, Abgründe und Traumata. Mit bissigem Humor und poetischem Blick spürt sie auch neuesten wissenschaftlichen Entwicklungen nach und erkundet die Natur. Ulrike Draesner hat sechs Romane, zuletzt »Sieben Sprünge vom Rand der Welt« (Luchterhand, 2014) und »Kanalschwimmer« (mare, 2019), fünf Gedichtbände, mehrere Erzählungs- und Essaybände veröffentlicht. Seit 2018 ist sie Professorin am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Draesner erhielt für ihr literarisches Werk zahlreiche Auszeichnungen und Preise, zuletzt den Gertrud-Kolmar-Preis (2019), den Preis der Literatour Nord (2020) sowie den GEDOK Literaturpreis (2020). Sie ist Mitglied des PEN Deutschland und der Akademie der Künste Berlin. Im Herbst 2020 erscheint ihr Roman »Schwitters« (Penguin).
Esther Kinsky, geb. 1956 in Engelskirchen, ist bei Bonn aufgewachsen. Sie arbeitet seit 1986 als literarische Übersetzerin aus dem Polnischen, Russischen und Englischen. Nach verstreuter Lyrik und Kurzprosa (englisch) in verschiedenen Zeitschriften war der Roman »Sommerfrische« (Matthes & Seitz Berlin, 2009) ihre erste eigenständige Buchveröffentlichung. Es folgten mehrere Romane und Gedichtbände, geopoetische Erzählungen, ein langes Essay zum Übersetzen (»Fremdsprechen«, Matthes & Seitz Berlin, 2013) ein Kinderbuch (»OpOs Reise«, Matthes & Seitz Berlin, 2016). Zuletzt erschienen: »Hain. Geländeroman« (Suhrkamp, 2018), der Gedichtband »kő növény kökény« (edition Thanhäuser, 2018) sowie der Gedichtband »Schiefern« (Suhrkamp, 2020).
Über den Deutschen Preis für Nature Writing
Der einmal jährlich vergebene Preis zeichnet Autorinnen und Autoren aus, die sich in ihrem literarischen Werk auf ›Natur‹ beziehen. Der Preis knüpft an die vor allem in den USA und in Großbritannien ausgeprägte schriftstellerische Tradition des Nature Writing an, in der sich Autorinnen und Autoren mit der Wahrnehmung von Natur, mit dem praktischen Umgang mit dem Natürlichen, mit der Reflexion über das Verhältnis von Natur und Kultur und mit der Geschichte der menschlichen Naturaneignung auseinandersetzen. Genreübergreifend findet dabei sowohl essayistisches als auch lyrisches und episches Schreiben Berücksichtigung. Die Thematisierung von ›Natur‹ schließt die Dialektik von äußerer und innerer Natur ebenso ein wie die Auflösung der Grenzen von Kultur und Natur, aber auch die Möglichkeiten oder Probleme des Schutzes von Naturerscheinungen und natürlichem Geschehen. Nature Writing spricht nicht von ›der Natur als solcher‹, sondern von der durch Menschen wahrgenommenen, erlebten und erkundeten Natur. Die leibliche Präsenz, die konkrete Tätigkeit des Erkundens und die Reflexion auf die gewonnenen Erkenntnisse werden in der Regel im Text fassbar.
Seit 2020 wird der Preis gemeinsam durch den Verlag Matthes & Seitz Berlin und die Stiftung Nantesbuch vergeben, die neben der Beteiligung am Preisgeld einen Schreibaufenthalt der Preisträger*innen in ihren Räumlichkeiten sowie zwei zusätzliche Stipendien für eine Teilnahme am ihrer jährlichen Nature Writing Schreibwerkstatt ermöglicht. Die Stiftung Nantesbuch möchte damit einen Beitrag zur Entwicklung des literarischen Schreibens im deutschsprachigen Raum auf der Grenze zwischen Natur und Kunst leisten.
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