Vermehrte Reisewarnungen ähneln einem erneuten Lockdown für die Reisebranche
In vielen EU-Ländern ist die Zahl der Covid-19-Neuinfektionen gestiegen. Daher hat das Auswärtige Amt (AA) zuletzt vermehrt Reisewarnungen ausgesprochen. Zum Teil gelten diese für ganze Länder (aktuell Spanien, Tschechien, Luxemburg). Zum Teil sind nur einzelne Regionen der jeweiligen EU-Staaten mit Reisewarnungen belegt (z.B. große Teile von Frankreich, der Niederlande oder von Österreich). Auslöser für diese Warnungen ist grundsätzlich das Überschreiten der „Corona-Obergrenze“. Das AA führt dazu aus: „Überschreitet ein Land oder eine Region die Neuinfiziertenzahl im Verhältnis zur Bevölkerung von 50 Fällen pro 100.000 Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen, können Reisewarnungen wieder ausgesprochen werden.“
Wer aus einem solchen Risikogebiet (im Ausland) zurückkehrt, muss verpflichtend einen Corona-Test durchführen lassen und sich in häusliche Quarantäne begeben, bis ein negatives Testergebnis vorliegt. Ab dem 1. Oktober ändert sich die Regelung insofern, dass der verbindliche Test bei Rückkehr aus einem Risikogebiet entfällt und stattdessen eine verpflichtende Quarantäne einsetzt, die erst ab dem fünften Tag nach Rückkehr durch einen negativen Test beendet werden kann. Beides ist für Reisende nicht wirklich verlockend. Für Reiserückkehrer aus Landkreisen und kreisfreien Städte in Deutschland, die über der Corona-Obergrenze liegen, gibt es eine derartige automatische Regelung übrigens nicht.
Die Politik betont stets, dass eine Reisewarnung kein Reiseverbot ist. Diese Beruhigungspille schmeckt jedoch bitter. Denn in der Praxis storniert ein großer Teil der Urlauber die Reise, sobald eine Reisewarnung vorliegt. Für manche dürfte dabei das Infektionsgeschehen vor Ort tatsächlich der wesentliche Grund sein. Andere wollen die anschließende Quarantäne vermeiden, selbst wenn diese durch einen negativen Test verkürzt werden kann. Zudem ist es in der Praxis vielerorts gar nicht so einfach, ohne Symptome zeitnah einen Corona-Test zu erhalten.
Gerade in der touristischen Nebensaison führen Reisewarnungen übrigens auch zu Stornierungen von Seiten des Anbieters. Dies gilt etwa für Hotels in den betroffenen Gebieten, wenn diese eine geringe Auslastung befürchten, bei der sich der Weiterbetrieb oft nicht rechnet.
Reisewarnungen schränken im Ergebnis die Reisefreiheit ein
Sollte es bei der aktuellen Grenzwert-Regelung und tendenziell steigenden bzw. hohen Infektionszahlen in der kalten Jahreszeit bleiben, dürften im Winterhalbjahr 2020/21 immer mehr Länder und Regionen in der EU mit einer Reisewarnung belegt werden. Denn der Schwellenwert von 50 Fällen pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen ist durchaus schnell erreicht. In manchen deutschen Landkreisen hat in den letzten Wochen hierfür schon eine große Familienfeier ausgereicht.
Der Tourismusbranche, konkret den Reiseveranstaltern und -büros in Deutschland sowie den Betrieben im Ausland, droht ohne begleitende Maßnahmen damit in den kommenden Wochen und Monaten eine Entwicklung, die einem Lockdown ähnelt. Die Politik dürfte wohl keine formalen Reiseverbote erlassen oder Beherbergungsbetriebe schließen. Gleichwohl ist zu erwarten, dass die Buchungszahlen in den betroffenen Gebieten in den Keller rauschen. In der Wintersaison wäre hiervon der Skitourismus natürlich besonders betroffen, der in vielen Regionen im Alpenraum ein bedeutender Wirtschaftszweig ist. Neben den immensen wirtschaftlichen Einbußen schränken die Reisewarnungen im Ergebnis zudem die Reisefreiheit der Menschen ein.
Im offiziellen Wortlaut des AA wird „vor nicht notwendigen, touristischen Reisen ins Ausland“ gewarnt. Und es gibt nicht wenige, die die Notwendigkeit von touristischen Reisen in Zeiten von Corona gänzlich infrage stellen. Darauf könne man, so das Argument, zum Wohle der Gesundheit aller doch für einige Zeit mal verzichten. Das kann man so sehen, man muss diese Meinung aber nicht teilen. Letztlich liegt hier ein typischer Fall von Güterabwägung vor. Dabei stehen auf der einen Seite die gesundheitlichen Risiken. Für den Staat ist im Falle von Corona weniger das individuelle Infektionsrisiko des Einzelnen relevant, sondern mehr das Risiko einer unkontrollierten Ausbreitung in der Bevölkerung. Dabei haben uns die sprunghaften Entwicklungen in vielen unserer Nachbarländer vor Augen geführt, dass es sich hier eigentlich nicht um eine Frage von (kalkulierbarem) Risiko handelt, sondern dass wir es mit Knightscher Unsicherheit zu tun haben, bei der wir die Wahrscheinlichkeitsverteilung nicht kennen. Diesen gesundheitlichen Risiken/Unsicherheiten stehen auf der anderen Seite die faktischen Einschnitte in die Reisefreiheit sowie die erheblichen wirtschaftlichen Einbußen in der Reisebranche gegenüber. Beispielsweise sanken in Spanien die Ankünfte ausländischer Touristen im Juli, also vor der Reisewarnung, um 75% gg. Vorjahr. Übrigens wird Corona die Geschäftstätigkeit auch in anderen Sektoren vorerst noch weiter lähmen (z.B. Messen, Veranstaltungen, Kulturbetriebe), wo ebenfalls eine fortlaufende Güterabwägung erfolgt.
Für manche Ohren mag die Abwägung der Gesundheitsrisiken durch Corona auf der einen Seite mit den Beeinträchtigungen im Reiseverkehr sowie den negativen wirtschaftlichen Folgen auf der anderen Seite zynisch klingen. Sie ist aber notwendig, zumal wirtschaftliche Schäden bei den Betroffenen ebenfalls negative gesundheitliche Folgen auslösen können. Hinzu kommt, dass die Reisewarnungen auch Geschäftsreisende betreffen, was für exportorientierte deutsche Unternehmen problematisch ist.
Mehr verlässliche Schnelltests – Urlauber oder Reisebranche sollten die Kosten tragen
Es ist offen, wie schnell die Corona-Krise etwa durch die flächendeckende Verfügbarkeit eines Impfstoffs eingedämmt werden kann. Insofern ist eine Rückkehr zur Normalität für die Tourismusbranche bislang vor allem eine Hoffnung, die sich jedenfalls für die kommende Wintersaison noch nicht erfüllen wird. Um die negativen wirtschaftlichen Folgen der aktuell gültigen Bedingungen für Reisewarnungen zu verringern, sollten diese daher von Maßnahmen flankiert werden, die sicheres Reisen – unter den gegebenen Umständen – auch dann gewähren können, wenn Reisewarnungen ausgesprochen sind. Die Tourismusbetriebe selbst haben schon seit längerer Zeit die Hygienemaßnahmen umgesetzt. Die wichtigste zusätzliche Maßnahme wäre der schnelle und unkomplizierte Zugang zu verlässlichen Corona-Tests für Reisende. Die Installation von Testzentren an Flughäfen, Autobahnraststätten und Bahnhöfen über die Sommermonate war daher eine gute Idee. Dass es teilweise zu Verzögerungen bei der Übermittlung der Testergebnisse kam, ist bedauerlich. Aber aus Fehlern der Vergangenheit lässt sich ja lernen. Bei der Entwicklung von Schnelltests dürfte es in den kommenden Wochen weiter erhebliche Fortschritte geben. Auch in den jeweiligen Reisezielen könnten mehr Testmöglichkeiten geschaffen werden. Wenn sich Urlauber am Ende oder zeitnah nach ihrer Reise testen lassen können und das Ergebnis innerhalb kurzer Zeit mitgeteilt bekommen, dürften viele auch im Falle von Reisewarnungen und Quarantänebestimmungen ihren Urlaub antreten. Das Infektionsrisiko selbst hängt nämlich mehr vom eigenen Verhalten und weniger vom Ort ab, an dem man sich aufhält.
Die Testkapazitäten sind begrenzt. Zudem bleiben regelmäßige Tests in Senioren- und Pflegeheimen oder Krankenhäusern künftig notwendig. Zusätzliche Tests für Reisende stehen also in Konkurrenz zu den Tests in den zuvor genannten Einrichtungen. Aus ordnungspolitischer Sicht spricht daher viel dafür, dass die Reisenden die Kosten für den jeweiligen Test selbst tragen oder sich die Kosten mit dem Reiseveranstalter, der Unterkunft oder der Gebietskörperschaft des Reiseziels teilen. Wie auch immer: Diejenigen sollten die Kosten tragen, die von der Reise immateriell oder materiell profitieren. Wenn sich ein solches Regime etabliert, dürften die Prüflabore ihre Testkapazitäten weiter hochfahren.
Reisen in Zeiten von Corona: Letztlich eine weitere Risikoabwägung
Ja, ein negativer Test bietet keine absolute Sicherheit. Wir lernen aber gerade, mit dem Virus zu leben. Daher muss man wohl oder übel akzeptieren, dass Risiken gegeneinander abgewogen werden. Letztlich wägen Menschen bei ihren täglichen Entscheidungen stets den Nutzen ihres Handelns gegenüber den Kosten und Risiken ab – zumeist vollkommen unbewusst. Bei Reisen in Zeiten von Corona werden wir künftig schlicht mehr darüber nachdenken.
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