Ein Liebhaber der Freiheit und ein Traum vom Glück, eine Abrechnung und ein kleines Loch im Kopf – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderprei
Mit den Folgen der aus seiner Sicht ungeglückten Vereinigung zweier deutscher Staaten zum „Neuen Deutschland“ (und hier ist nicht das einstige Zentralorgan der einst führenden Partei der einstigen DDR gemeint) setzt sich Erik Neutsch in seinem Roman „Totschlag“ auseinander. War es Totschlag? War es Mord? Aber es geht nicht nur darum, sondern es geht um mehr, um viel mehr.
Klaus Möckel ist einer der vielseitigsten Autoren, die mit ihrem Werk in der EDITION digital zu Hause sind. In diesem Newsletter ist er sowohl als Krimi-Autor wie auch als Verfasser von Jugendbüchern vertreten: So sind in dem Band „Trug-Schuss“ mit gesammelten Kriminalerzählungen Bankräuber, Giftmischer und Mordschützen am Werk, ein Detektiv scheitert mit seiner ausgeklügelten logischen Methode am noch raffinierteren Hoteldieb, Attentate werden zu Rohrkrepierern und eine Leiche kehrt zum Täter zurück.
Seine Qualitäten als Jugendbuchautor zeigt Möckel mit „Steffis Party/Fahrtwind“.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. Diesmal geht der Blick wieder einmal zurück in die Geschichte, in die deutsche Geschichte. Der Text setzt jenen Männern und Frauen ein Denkmal, die sich damals mutig gegen den aufkommenden und den an der Macht befindlichen Faschismus zur Wehr setzten. Und auch wenn sich die damaligen und die heutigen Bedingungen sehr stark voneinander unterscheiden, so gibt es doch auch Gemeinsamkeiten. Eine dieser Gemeinsamkeiten ist es, dass es Mut braucht und einen Glauben, einen Glauben an die Zukunft – Trotz alledem, wie es in einem alten Arbeiterkampflied heißt. Vielleicht ist es an der Zeit, dieses Lied wieder öfter anzustimmen …
Bei dem Roman „Stimmen im Sturm“ von Walter Kaufmann handelt es sich um die vom Autor bearbeitete deutsche Ausgabe seines zuerst 1953 in englischer Sprache unter dem Titel „Voices in the Storm“ erschienenen Buches, das ebenfalls bei der EDITION digital vorliegt. In seinem ersten Roman hatte Walter Kaufmann mit krassem Realismus die Geschichte einer Gruppe von Untergrundkämpfern gegen Hitler erzählt. In das heroische Muster von Kampf und Widerstand eingewoben ist die Lebensgeschichte eines jüdischen Jungen, der sieht, wie seine Familie vor dem Ansturm von Hitlers Schlägern zerfällt. Mit der Leidenschaft eines Menschen, der viele der Ereignisse miterlebt hat, zeichnet Walter Kaufmann ein unvergessliches Bild vom Gesicht des Faschismus. Der Roman ist eine lebendige Verbindung zwischen den turbulenten Tagen der Dreißigerjahre in Deutschland und Australien bis heute und wirft neue Probleme auf, von denen wir hofften, sie gehörten der Vergangenheit an. Es ist eine unerbittliche Geschichte, und doch ist es eine Geschichte der Liebe, der Hoffnung und des Kampfes. Selbst durch die Schilderung der Niederlage inspiriert uns der Autor mit der Kraft und Größe des Menschen. Der Mut, der zahllose Deutsche, die dem Faschismus trotzten, im Angesicht des Todes aufrechterhielt, ihre Zuversicht und Stärke, ihr Glaube an die Zukunft und den strahlenden Anbruch einer Welt – der Geist dieser Männer und Frauen ist in Walter Kaufmanns tief bewegendem Roman lebendig. Hier ein kurzer Auszug aus diesem Zeugnis des Widerstands, die zugleich zeigt, wie Verführung funktioniert:
„Ich begreife mehr, als sie ahnt, dachte Gerhart Winkel. Ihr Zögern war eindeutig, wie eine Ablehnung. Was hatte er auch erwartet? Sie war nicht einmal achtzehn und hatte alles noch vor sich. Mit seinen fünfundzwanzig Jahren, arbeitslos, auf Stempelgeld und Schwarzarbeit angewiesen, kam er sich alt wie Methusalem vor. Sie hatte ja recht. Es war selbstsüchtig, von Heiraten zu sprechen.
Er vermied es, durch die Straße nach Hause zu gehen, in der das Haus stand, diese pikfeine Villa der Rubens, für die Hilde arbeitete. Nur raus aus dieser Gegend, weg von hier! Er ging schneller. Er hatte Hunger, ihm war kalt. Nachdem er rechts in die Zieglerstraße abgebogen war, erreichte er in wenigen Minuten den Bahndamm in der Blumenthalstraße und folgte dann dem Bahndamm stadteinwärts. Ein Güterzug ratterte vorbei, die Lokomotive stampfte, der Wind blies ihm Rauch ins Gesicht. Er stellte sich in einen Torbogen. Der Rauch lag tief in der Straße, zog an der geschwärzten Mauer entlang, die den Damm von der Straße trennte. Er wartete nicht ab, bis sich der Rauch verzogen hatte, und ging weiter.
Vor Lerners Tabakladen blieb er stehen. Ein Päckchen Salem, wenigstens eine Zigarette jetzt. Er kramte in seinen Taschen, aber nicht einmal ein Groschen fand sich. Er überlegte, was geschehen würde, wenn er einen Ziegelstein durchs Fenster warf. Im Nu hätte er was zu rauchen, und wenn die Polente ihn schnappte, auch kein Problem! Die nächsten vierzehn Tage, vielleicht mehr, wären gesichert; ein Dach überm Kopf und was Warmes im Bauch, auch wenn’s nur Rübensuppe war. Er wäre nicht der erste, der das machte. Aber konnte er das Opa Lerner antun? Eine Salem, die würde der Alte ihm auch vorstrecken. Gerade wollte er den Laden betreten, da streckte sich ihm eine Hand mit einer offenen Schachtel Zigaretten entgegen.
„Stehst da wie ein Ochse vorm Berg“, hörte er eine Stimme sagen, die ihm bekannt vorkam. „Da, steck dir eine an!“
„Der Retter in der Not“, sagte Gerhart, als er den Mann erkannte. Die braune Uniform hatte Willi Kuntz gehörig verändert. Nichts erinnerte mehr an den Mann, der noch vor kurzem abgerissen wie er herumgelaufen war. „Geht wohl aufwärts mit dir?“, fragte er.
„Stimmt genau.“ Willi Kuntz strich ein Streichholz an. „Rauchen musste schon selbst.“ Er schlug Gerhart gönnerhaft auf die Schulter.
„Du scheinst es zu haben. Vor ein paar Wochen saßen wir noch in einem Boot.“
„Die Zeiten ändern sich.“
„Ich merk’s. Na dann, mach’s gut.“ Gerhart wandte sich zum Gehen.
Aber Kuntz hielt ihn am Arm fest. „Läuft wohl nicht mehr so in deiner Bastelbude, wie?“
„Hast du ein Fahrrad zu reparieren, oder warum fragst du?“
„Stehn eine Masse Fahrräder im Hof unseres Sturmlokals“, sagte Kuntz. „Sicher sind ein paar dabei, die mal ’ne Durchsicht brauchen. Könnte das klarmachen, vorausgesetzt …“
„Vorausgesetzt, was?“
„Glaubst wohl, ich rede nur so herum? So viel Arbeit könnt ich dir schon beschaffen, dass du wieder was zu rauchen hast. Komm mal vorbei, weißt ja, wo wir sitzen. Heut Abend bin ich da.“
„Ist ein Wort.“
Gerhart zwickte die Glut von seiner Zigarette, steckte den Rest sorgfältig weg, sah Kuntz kurz an und ging dann weiter, der Moltkestraße zu, wo er wohnte.
Der faule Geruch der nahen Gaswerke drang durch das Fenster, das er zu schließen vergessen hatte. Es war nass-kalt in seinem Zimmer im dritten Stock des Logierhauses. Gerhart zwängte sich zwischen eisernem Bett, Stuhl und Schrank zum Fenster durch und warf es zu. Einen Augenblick starrte er in den Hof, auf den Schuppen, der ihm als Werkstatt diente. Das Vorhängeschloss müsste ich ölen und die Kette einfetten – ach was, dachte er, wozu? Er wandte sich ab, gab dem Stuhl einen Stoß, dass er umfiel, stieg drüber hinweg zur Tür und schaltete das Licht an. Er blickte in den zerbrochenen Spiegel, wobei er sich mit der Hand über sein borstiges Kinn fuhr. Und so einer will heiraten, sagte er sich und lachte auf.
Mit einem Ruck öffnete er den Schrank, riss die Jacke vom Bügel, das einzige Kleidungsstück, das dort hing, und warf sie aufs Bett. Die Sprungfedern quietschten, als er sich setzte, er sank ein wie in eine Hängematte. Mit einer Rasierklinge trennte er den Saum auf und zog die Geldscheine unter dem Futter hervor: vierzig Mark! Mein Rennrad, dachte er, vier mal vierzig Mark war es wert gewesen. Wie lange hatte es an der Wand in der Werkstatt gehangen und Rost angesetzt? Gut und gern zwei Jahre, seit dem Tag, als er sich mit Rolf Windau, dem Vorsitzenden des Radfahrbundes, angelegt hatte. Und was hatte ihm der Ärger eingebracht? Zwischen Baum und Borke war er gelandet, konnte keine Rennen mehr fahren und keine Reklame für die Schlinke-Werke. Zu allem Übel hatte die Werkleitung ihn auch noch auf die Straße gesetzt – arbeitslos! Schluss, aus, Feierabend!“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters.
1983 erschien im Aufbau-Verlag Berlin der Roman „Der Traum vom Elch“ von Herbert Otto: Eigentlich heißt er Markus, aber Anna nennt ihn „den Elch“, weil er seine Freiheit so sehr liebt und weil man ihm selten begegnet. Zweimal im Jahr, im Mai und im November, kommt er nur wenige Tage und füllt doch Annas Leben aus. An ihm misst sie ihre Ansprüche, vor allem gegenüber anderen Männern, gegenüber den Pflichtmenschen und Leichtfüßen, deren Verführungen sie manchmal unterliegt. Nichts wiegt aber das Glück auf, das der „Traum vom Elch“ in ihr auslöst. Herbert Ottos turbulenter Roman, der auch von der DEFA verfilmt wurde, gilt als der erotische Gesellschaftsroman der DDR. Darin stehen Fernweh gegen Provinzialität, Eros gegen Prüderie und Ehrlichkeit gegen das kalkulierte Spiel der Macht. Und so beginnt das spektakuläre Buch – mit Warten, mit einer wartenden Frau, die am Anfang noch viel Kraft hat für dieses Warten:
1. Kapitel
Fast den ganzen November hatte sie gewartet.
Sie war auch diesmal ohne eine Nachricht von ihm, aber sie wusste, dass er kommt. Er kam immer im Mai und im November, nun schon im dritten Jahr. Kometenähnlich sein Verhalten: Auf einer lang gedehnten Bahn durchstreift er die Teile des Himmels, am äußersten Punkte kehrt er um, seine Helligkeit nimmt wieder zu, er nähert sich schnell, und fast so pünktlich wie ein Himmelskörper trifft er ein. Er bleibt nur wenige Tage jedes Mal. Und doch, erklärbar oder nicht, füllt er Annas Leben ganz aus. Alles misst sie an ihm. Das Alleinsein, Erlebnis und Besorgnis, eine Verliebtheit zwischendurch, Überlegtes oder Leichtfertiges: sie teilt es ihm mit in Briefen, die er nie gesehen hat. Sie liegen geordnet bei der Wäsche im Schrank. Es ist wenig, was sie über ihn weiß. Auch wenn sie wollte, sie wüsste nicht, wie sie ihn erreichen könnte. Er scheint alles zu sehen und zu bewerten, aus der Ferne besonders. Geist über allen Wassern.
Sie nennt ihn Elch.
Auch diesmal tat sie, was sie immer tut, wenn sie ihn erwartet: vom Krankenhaus ohne Umweg oder Aufenthalt nach Hause, einen Dienst übernehmen, wann es ging, um viel freie Tage anzusammeln für ihn, eine Nachricht hinterlassen da oder dort. Und wieder die Länge und Langsamkeit und die wechselnde Gestalt eines langen Wartens. Die Linden waren fast kahl, Buchen, Flieder und Haselnuss nicht, es war für sie voll von Erlebnis, wenn sie eines der letzten großen Lindenblätter sich lösen und langsam fallen sah.
Es kann ja sein, schrieb sie an Elch, Du hast doch eine Frau. Sie hat ein Bein gebrochen oder das Schultereckgelenk, und Du musst sie pflegen. Splitterbrüche sind die schwierigsten. Oder sie erwartet ein Kind, sodass Du eine Zeit lang verschollen bist. Oder Du bist abgekommen von Deiner Bahn und ganz verschollen. Ein Gedanke, den ich schnell vergessen will. Aufschreiben, heißt es, hilft beim Vergessen.
Warum sie ihn Elch nennt: weil er so schön anzusehen ist und seine Freiheit so sehr liebt und sich lange in den Weidegründen aufhält, wo wohl in feuchten Niederungen das Gras steht, das er braucht für sein kräftiges Geweih. Und weil er jemand ist, dem man nur selten und nie wieder begegnet hierzulande. Er ist scheu. Selbst ihre Freundin kennt ihn nicht. Und es gibt kein Foto. Geht ein Elch zum Fotografen? Na also.
Gegen Ende des Monats hatte ihr Warten, ohne dass sie es aufgab, an Kraft verloren, allmählich kehrte sie ins Alltägliche zurück, nahm endlich freie Tage, schlafen, schlafen, Frühstück im Bett, lesen, durch Geschäfte bummeln im Zentrum, Christel besuchen, die das Schuhgeschäft leitet, und auch wieder ausgehen mit Freundin Annette. Karten für Theater und Konzert besorgt Christel. Der Emmes, Annettes Junge, geht nun schon zur Schule. Sobald Schnee liegt, hat Anna ihm versprochen, wollen sie mit dem Schlitten auf den Töpferberg, und sie fahren vielleicht von ganz oben hinunter. Der Hang hat starkes Gefalle, und bald ist die Bahn vereist. Man kann auch aus halber Höhe abfahren; das ist harmlos und braucht gar keinen Mut.
An Elch schrieb sie: Es ist auch das Gefühl, dass Du mich brauchst, wenn Du kommst. Ich gehe wie ein Kind, das sich im Wald verlaufen hat. Nur dass ich nicht rufe. Weinen kommt vor. Die Station, das langsame Sterben und die Mühsal der Kranken, was ich ja doch teile, sind weit entfernt. Annette hilft mir. Sie nimmt alles leichter und wie im Vorübergehen. So sieht es jedenfalls aus. Auf diese Anzeige, von der ich schrieb, haben sich allerhand Freier gemeldet. Gut sortiert liegen sie da. Ein unreifes Unternehmen. Ich weiß. Wie sagst Du? Die Torheiten zeigen, wie erwachsen du bist. Aber wir wollen anfangen, die Herren vorzuladen und zu besichtigen.
Auf den Gedanken waren sie schon im Spätsommer gekommen, abends bei Annette das Geplauder über das Seelchen und die andere Hälfte der Welt, Kerzenlicht und Rachmaninow. Oder war es Brahms, Konzert in D-Dur, schön drogenhaltig, die allerliebste Wegwerfmusik, die sie kennen. Also die junge Frau, die schön am Leben ist, aber allein lebt, so gut wie allein. Am Ende von zu viel Freiheit hast du keine mehr. Nur Wechselbäder von Verstrickung und Alleinsein, wieder hintergangen, wieder Anträge. Man hat dich ausgespäht als ungebunden. Freu dich und sei folgsam.
Seine schlechte Lage ändert nur, wer sie durchdacht hat und verstanden. Was, wenn man die gültigen Regeln umkehrte? Statt ausgewählt zu werden, wählt man selber.
Wenn das ginge.
Es geht. Eine Anzeige müssten wir aufgeben. Die Bewerber melden sich massenhaft, wir laden sie vor. Es war der Entschluss, ein Spiel zu versuchen, Mischung aus etwas Rache, Spaß und Zeitvertreib, gütige Rache, am Boden ein Satz Bitternis. Für Annette lag vielleicht mehr darin, winzige Hoffnung, die sie nie zugibt.
Schon mit dem Anzeigentext hatten sie viel Vergnügen gehabt. Die meisten Wendungen, aus gedruckten Anzeigen, schieden natürlich aus.
Bin fürs Alleinsein nicht geschaffen. Oder: Wo bist du, liebevoller, helläugiger Hüne? Zärtliches Femininum sucht passendes Maskulinum. Schönheit kein Hindernis.
Oder der: Bin ein Engel mit nur einem Flügel, muss meinen zweiten Engel finden, mit m.-l. WA, was wohl marxistisch-leninistische Weltanschauung hieß. Wie mochten sie aussehen, die Engel mit m.-l. WA?
Das Angebot, das sie aufgaben, war voller Gegensätze.
Pechvogel, weder e. Schönheit noch vermög., sportl.-eleg., temperamentv.-romant., ernst-humorv., 29/167, reisel., m. Int. f. Kunst, Natur u. Autosport, sucht stimmungsv. Partner, zielstreb., spars., aber n. geiz., m. viel Selbstvertr., geist. und körperl, anspruchsv., mögl. Akad., aber n. Beding.
Von den Bewerbern wollten allzu viele auf satte Häuslichkeit hinaus. In die engere Wahl kamen ein Hausmeister, ein Lehrer, ein Anlagenfahrer, ein Psychologe und jemand von der Reichsbahn. Die Auskünfte zur Person verschleierten mehr, als sie deutlich machten. Beiwerk, das schmücken sollte: bin übrigens tierlieb; schätze hoch die Toleranz; körperlich bin ich durchtrainiert und stark ausdauernd; Wassergrundstück mit Bungalow vorhanden.
Nur einer, Hartmut Hahn, gab unumwunden zu, in einem Pflegeheim Hausmeister zu sein, hätte früher leitend im Lichtspielwesen gewirkt, sei lebenslustig und besitze einen Dacia mit vielen Extras. Ihn luden sie vor, auch weil Annette, die gern grafologische Betrachtungen anstellte, sein Schriftbild gefiel. Als zweiten Kandidaten bestimmten sie den Eisenbahner, der wohl kein Fahrzeug besaß, denn in seinem Brief hatte er Wert und Annehmlichkeit jener Freifahrscheine beschrieben, über die er verfüge, wohin auch immer zwischen Warnemünde und Wladiwostok, Peking nicht ausgeschlossen.
Und so hatten sie am ersten Mittwoch im Dezember den Bestelltag, das Besichtigen der Freier, denen aufgetragen war, sich im Stadtkrug am Markt um achtzehn Uhr einzufinden, jeder versehen mit einem Kennzeichen. Sie selbst trafen sich früher. Sie bekamen den Ecktisch am Fenster und bestellten beide ein Glas Sekt. Jede hatte der anderen versichert, dass sie gut aussehe und ihr gefiele. Das stimmte auch; weibliche Missgunst gab es zwischen ihnen kaum. Festlich waren sie nicht gekleidet, aber vorteilhaft.
Anna trug ihre Lieblingsbluse, die pflaumenblaue, dazu den grauen Hosenanzug, der ihre Schlankheit sehen ließ. Das Haar fiel weich und fein und schimmerte in zahllosen Tönen zwischen Rosenholz und Kastanie. Annette, wie sie es gern hatte, sah fraulich und streng zugleich aus: das Kleid, ein dunkles Grün, lag eng an, war aber hochgeschlossen, die züchtige Stiftsfrisur aufgehoben dadurch, dass an Stirn und Schläfen, wie unabsichtlich, feine Haarsträhnen hervorkamen.
Anna hatte den Sekt rasch ausgetrunken; sie wollten wach und beschwingt sein und bestellten ein zweites Glas. Hinweise auf das Aussehen jener Dame hatten sie nicht gegeben, saßen also sichtbar und doch wie im Hinterhalt.
Der Eisenbahner, wie sie vermutet hatten, kam zuerst. Ihm war ein schwarzer Stockschirm verordnet, den er senkrecht hinterm Rücken in einer Hand trug, so als müsste er ihn verbergen. Seit Tagen herrschte trockenes Hochdruckwetter.
Er nahm einen der freien Tische, nestelte am Schlips. Was macht er mit dem Schirm? Etwas Kurzweil hatten sie doch. Er hängte ihn zunächst an die Kante des Tisches, nahm ihn wieder ab, um ihn auf den Stuhlsitz neben sich zu legen, blickte zur Uhr und dann, wie ohne alle Absicht, von Tisch zu Tisch. Sinn für Gleichmaß und Ordnung schien der Mann zu besitzen: um gut so liegen zu können, war der Schirm nicht kurz genug, sodass er ihn an die Stuhllehne hängte.“
Erstmals 1994 veröffentlichte Erik Neutsch im Dingsda-Verlag Cornelia Jahns Querfurt seinen Roman „Totschlag“, der wie immer bei diesem Autor und auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin nicht auf neue Rechtschreibung umgestellt wurde: Ist es Mord, ist es Totschlag? Der allseits geachtete Facharbeiter Manfred Gütlein erschießt den Finanzdezernenten der Stadt, in der er wohnt, da er um seine Existenz fürchtet, auch um das Haus, das er sich zeitlebens erträumt und, unter Mühen, erbaut hat. Gewiss ist er der Täter, aber ist er nicht zugleich auch ein Opfer des Zusammenpralls zweier sich bisher feindlich gegenübergestandenen Gesellschaftsentwürfe? Erik Neutsch, der in der DDR zu den meistgelesenen Schriftstellern gehörte, weil er in seinen Büchern die Intentionen vieler Menschen traf, geht in diesem Roman den Ursachen nach, die zu dieser Tat Gütleins führten. Mit weitgehend dokumentarischem Stil, ohne auf das Innenleben seiner Figuren zu verzichten. „Totschlag“ ist eine erste Abrechnung mit dem, was – offenbar im Gegensatz zu ihm – andere als eine „geglückte“ Vereinigung beider deutscher Staaten betrachten. Kritisch war er schon immer. Er bleibt dabei. Es gibt in diesem Roman keinen Bruch zwischen dem Autor Neutsch und seinen früheren Werken. Nach einer Zeit des Bedenkens und – wie er sagt – des „bewussten Schweigens“ legte er in seinem erstmals 1994 erschienenen Roman wiederum ein Zeugnis seines erzählerischen Könnens vor. Was aber war eigentlich passiert?
2. Kapitel
Eines Tages, das war vorauszusehen – sofern man aufmerksam, nüchtern zwar, doch nicht ohne Anteilnahme, vor allem den Wandel der sozialen Verhältnisse in den neuen Bundesländern seit der Vereinigung beobachtete – hatte es zu einer solchen Bluttat kommen müssen, und zu hoffen blieb nur, daß sie nicht noch Schule machte! Sie war das Werk eines einzelnen, ja, eines Einzelgängers, lag also, obwohl durchaus vergleichbar, anders als ein Jahr zuvor der Fall Rohwedder, des damaligen Treuhandchefs, dessen Ermordung, wie bis heute vermutet, von einer extremistischen Terrorgruppe geplant und ausgeführt wurde, lag anders auch deshalb, weil sie nicht in einer Nacht-und-Nebel-Aktion erfolgte, sondern geradezu im klassischen Gewande, demonstrativ in aller Öffentlichkeit, sich abspielte.
So gibt es auch wenig zu recherchieren, zu enträtseln schon gar nicht, lediglich nachzuvollziehen, denn die Fakten liegen ebenfalls offen, vor aller Augen ausgebreitet und sind von Geheimnissen kaum umwittert. Dafür sorgte bereits die SATZ, die aus einem früheren SED-Organ hervorgegangene, mittlerweile von einem westdeutschen Medienkonzern aufgekaufte und gesteuerte Tageszeitung der Region, indem sie unentwegt berichtete. Zu Widersprüchen, eher Ungereimtheiten neigte sie nur in ihren Kommentaren, was jedoch dem ziemlich willkürlichen Ermessen der Redakteure überlassen blieb, etwa dann, wenn sie über die Motive des Täters nachzudenken versuchten. Übereinstimmung hingegen, und zwar total wie sonst selten auf ihren rund dreißig Seiten täglich, herrschte stets, sobald der Hergang und wohl auch die Genesis der Tat beschrieben wurden.
Weitere Quellen, woraus zu schöpfen sich anbietet, sind natürlich die Akten in Vorbereitung des Prozesses, soweit man an sie herankam und Einblick nehmen konnte, wobei kaum von Belang sein dürfte, daß Anklagevertretung und Verteidigung sich zumindest in einem Punkte frontal gegenüberstanden, sich nämlich jene auf Mord und diese auf Totschlag zu plädieren einrichtete, denn dergleichen Kontroversen sind ja allgemein üblich. Nicht üblich allerdings – und das zeigte sich hier ebenso wie in den Kommentaren der SATZ – war, wie das Motiv der Tat zu beurteilen sei. Das war neu. Bisher unbekannt, da in der deutschen, man muß genauer sagen: bürgerlichen Gerichtsbarkeit noch nie zuvor verhandelt, weshalb um Verständnis gebeten wird, wenn hier und dort – um der Gerechtigkeit zu dienen – auch Fiktives in den Zeugenstand gerufen wird.
Denkbar ist zweifellos, daß sich ein ähnlicher Fall, ob nun aus anderem Anlaß und mit anderem sozialen Hintergrund oder nicht, im Osten Deutschlands hätte zutragen können (oder noch zutrüge). Wäre das Motiv dasselbe, würde er sich zu dem hier geschilderten vollkommen kongruent verhalten, bis hin zur blutigen Katastrophe. Denn was zusammenprallte, war eine unterschiedliche Vergangenheit von über vierzig Jahren, eingeschlossen ein unterschiedliches Rechtsempfinden, sowohl beim Täter als auch beim Opfer, nach einem Leben beider auf dem Boden unterschiedlicher Gesetze.
3. Kapitel
Eines Tages also: 19. September 1991.
Im BÜRGERHOF von ***, einem Jugendstilgebäude, haben sich die Stadtverordneten zu einer turnusgemäßen Sitzung versammelt. Soeben wurde die Mittagspause beendet; die grünen Leuchtziffern der neuinstallierten Digitalanzeige über der breitgeflügelten Eingangstür des Plenarsaals springen auf zehn Minuten nach vierzehn Uhr. In den Bänken, die, bis auf die hinteren, für interessierte Zuhörer aus der Bevölkerung reservierten Reihen, nur spärlich besetzt wirken, kehrt allmählich Ruhe ein. Auf dem Podium, vor einem Triptychon, das die gesamte Stirnwand bedeckt und die Begrüßung König Heinrichs I. durch einst hier ansässige Landesfürsten und kirchliche Würdenträger darstellt, haben bereits der Präsident, seine Vertreter und einige Herren des Magistrats Platz genommen, unter ihnen Dr. Anselm Rothenburger, der Finanzdezernent der Stadt, Mitglied der SPD, der nach der CDU zweitstärksten Regierungspartei.
Zur selben Zeit, um 14:10 Uhr, betritt ein Mann den Saal, unbemerkt zunächst von allen Anwesenden, da man auch ihn für einen Gast aus dem Publikum hält. Er geht auf die freie Fläche unmittelbar vor dem Podium zu, zückt eine Pistole und feuert genau in dem Moment, als der Präsident die Konferenzglocke läutet, in kürzester Folge fünf Schüsse ab. Eine Kugel verfehlt ihr Ziel, schlägt in die Mitra eines Bischofs auf dem Gemälde ein. Die anderen vier treffen Dr. Rothenburger, in den linken Arm, in die Brust, eine zerschmettert sein Kinn.
Der Dezernent sackt vornüber zusammen, fällt mit dem Kopf auf den Tisch. Schreie durchgellen den Saal. Die Pistole poltert aufs Parkett, vor die Füße des Mannes, und der steht reglos, wie zur Statue versteinert.“
„Trug-Schuss“ – so lautet der wortspielerische Titel einer Sammlung von Kriminalgeschichten, die Klaus Möckel im Jahre 2000 erstmals im Verlag Neues Leben Berlin veröffentlichte: „Der Gärtner konnte gar nicht der Mörder gewesen sein, denn er saß zusammengesunken in einem Korbstuhl … ein kleines Loch über der linken Schläfe.“ So beginnt eine der Kurzgeschichten von TRUG-SCHUSS, die durchaus als eine Weiterführung und Ergänzung des Bandes DER UNDANKBARE HERR KERBEL betrachtet werden dürfen. Bankräuber, Giftmischer und Mordschützen sind am Werk, ein Detektiv scheitert mit seiner ausgeklügelten logischen Methode am noch raffinierteren Hoteldieb, Attentate werden zu Rohrkrepierern, und eine Leiche kehrt zum Täter zurück.
Der vielseitige Autor, der Lebensberichte wie HOFFNUNG FÜR DAN, Kinderbücher wie KASSE KNACKEN, aber auch SF-Erzählungen und historische Romane, Krimis, Nonsensverse und witzige Aphorismen verfasst hat, setzt hier erneut auf Unterhaltung mit Esprit, auf schwarzen Humor und auf die Überraschung, die sich ergibt, wenn der abgefeimte Betrüger am Ende als der Betrogene dasteht. Und so beginnt jener Krimi, in dem der Gärtner keinesfalls der Mörder gewesen sein kann:
Ein Mord für Tanja
Der Gärtner konnte gar nicht der Mörder gewesen sein, denn er saß zusammengesunken in einem Korbstuhl, die linke Hand auf dem Knie, die rechte über die Armlehne herabhängend, ein kleines Loch in der Schläfe.
Der Mann, der ihn vom Leben zum Tod befördert hatte, legte die Pistole so auf den Fußboden, als sei sie der Hand des Opfers entglitten. Seine Fingerabdrücke sind auf der Waffe, dachte er, der Zettel mit den Abschiedsworten liegt auf dem Tisch, alles ist, wie es sein soll. Vielleicht würde es noch überzeugender wirken, wenn er sich aufgehängt hätte, seinem Beruf entsprechend im Gewächshaus oder an einem Apfelbaum, aber das hätte ich unmöglich geschafft. Schließlich ist er viel jünger und stärker als ich. Meine Chance war es ja, dass ich das Schießeisen hatte und er überhaupt nicht dazu kam, Widerstand zu leisten.
Er verließ das Gartenhaus, in dem es sich bestimmt leben ließ, wenn es auch nicht gerade komfortabel eingerichtet war; er achtete sorgsam darauf, keine Spuren zu hinterlassen. Auf der Brust, zwischen Hemd und Jogginganzug verborgen, trug er die dünne Mappe mit den Unterlagen, um die es ihm ging. Da er vom Wald her gekommen war und jetzt wieder in dieser Richtung verschwand, sah ihn niemand. Zumindest durfte er das hoffen.
Hinter Büschen und Bäumen, jenseits des Grabens, stand auf einem Schotterweg sein Wagen. Kaum anzunehmen, dass hier jemand Nachforschungen anstellen würde, und wenn, wäre es vergebliche Mühe: Reifenspuren zeichneten sich auf diesem Untergrund nicht ab.
Heinz Peterson, du Narr, warum konntest du nicht in Ruhe abwarten, dachte der Mörder. Gewiss, als Geschäftsführer eures Unternehmens früher, eurer Großgärtnerei, hast du mehr dargestellt, aber das ist nun einmal vorbei. Was kann ich dafür, wenn der Betrieb nicht mehr lief, wenn ihr abgewickelt wurdet und du deinen Hut nehmen musstest. Du hast die Treuhand beraten, und zwar so, dass ich beim Kauf des Geländes und der Immobilien ein paar Milliönchen sparen konnte, das werde ich dir nie vergessen. Du hättest deine Achthunderttausend ja auch erhalten, ganz bestimmt, nur müssen sich die Investitionen erst mal auszahlen, das wusstest du doch. So etwas braucht Zeit, und es hätte außerdem nicht gut ausgesehen, wenn du mit großen Summen herumschmeißt, solange du noch Arbeitslosengeld beziehst. Weshalb also die Drohungen, alles auffliegen zu lassen, der Kripo belastendes Material zuzustellen? Das war unfair, und du hast mich damit zum Handeln gezwungen. Vielleicht hast du nur geblufft, schließlich hättest du dich selber bloßgestellt, doch mich darauf zu verlassen, war zu riskant. Zahlen aber konnte ich im Augenblick nicht, schon wegen Tanja.
Der Mann, ein drahtiger, grauhaariger Endfünfziger, war in der Nähe seiner Villa angelangt. Er stellte den Wagen auf der Straße ab, sprang über den niedrigen Gartenzaun und betrat das Haus durch eine Seitentür. Unbemerkt erreichte er sein Arbeitszimmer. Er zog sich um, verstaute den Jogginganzug im Kleiderschrank nebenan, die Mappe mit den Unterlagen im Schreibtisch. Er würde sich am Abend die Papiere noch einmal in Ruhe ansehen und sie dann rigoros vernichten. Kein Stückchen Indiz gegen ihn sollte sich später entdecken lassen.
Das gerahmte Foto Tanjas, seiner einzigen Tochter, stand auf einem Bücherregal. Er warf einen Blick darauf, und ihm wurde warm ums Herz. Seine Frau war ihm vor Jahren davongelaufen, sie hatten sich nie besonders verstanden, er trauerte ihr nicht nach. Die Tochter aber war geblieben, sie war sein ein und alles, selbst wenn sie sich in letzter Zeit sehr aufsässig zeigte, ihn einen Geizhals und Krämer nannte, einen raffgierigen „Père Goriot“. Er empfand den Hinweis auf Balzacs Gestalt ungerecht, regte sich deswegen jedoch nicht auf. Die jungen Leute heute waren eben so. Aber seine Geschäfte und Transaktionen tätigte er ja gerade wegen Tanja. Die Zeichen der Zeit standen günstig, und er nutzte das, investierte in ihre Zukunft. Eines Tages würde sie es begreifen.
In der Küche rumorte seine Haushaltshilfe. Frau Links musste vor etwa einer Stunde gekommen sein, kurz nachdem er gegangen war. Der Mann verließ das Zimmer und rief nach ihr.
„Herr Doktor, Sie sind hier? Ich hab Sie gar nicht gehört.“
Er rang sich ein Lächeln ab. „Ich sollte Ihnen so etwas vielleicht nicht erzählen, aber ich bin über meinen Papieren eingeschlafen und habe mich eine halbe Stunde aufs Ohr gelegt. Kann auch länger gewesen sein. Jetzt jedenfalls brauche ich einen starken Kaffee.“
„Ich sag’s ja immer, Sie arbeiten zuviel. Sie sollten sich mehr schonen. Der Kaffee kommt sofort.“
Es war kein sattelfestes, doch immerhin ein Alibi. Im Übrigen glaubte er nicht, dass er es je brauchen würde. Berlin war nicht Hollywood, die Kriminalisten hier keine Columbos, und das konnte ihm nur recht sein.
Er fand, er habe seine Sache ordentlich gemacht, kehrte an den Schreibtisch zurück, nahm sich irgendwelche Berechnungen vor. Versuchte später, seinen Kaffee zu genießen. Es gelang trotz allem nicht so richtig. Es würde wohl noch eine Weile dauern, bis er wieder ein normaler Mensch war.
Seine Spekulationen erwiesen sich indes als richtig. Fast eine Woche musste er warten, dann las er es gleich in mehreren Zeitungen: Der Leiter einer ehemaligen Großgärtnerei im Land Brandenburg, die pleite gegangen war, Heinz P, hatte sich erschossen, offenbar weil er mit den neuen Gegebenheiten nicht zurechtkam. Er hatte sich zuletzt auf einem Grundstück bei Bekannten eingemietet, die im Ausland weilten. Der Suizid lag schon Tage zurück. Ein Nachbar hatte den Toten zufällig gefunden.
Die Pressemeldungen waren kurz abgefasst, und nirgendwo wurden Vermutungen über ein Verbrechen laut. Da gab es ganz andere Fälle. Der Mörder durfte also beruhigt sein, zumal er die Papiere, die auf Petersons Verbindung zu ihm hinwiesen, inzwischen, wie geplant, beseitigt hatte.
Am Wochenende kam seine Tochter von einem Aufenthalt in München zurück, sie hatte mit einem Verleger verhandelt, der ein Bändchen Gedichte von ihr herausbringen wollte. Ja, Tanja schrieb Verse und Kurzgeschichten, phantasievolle, poetische Texte. Freilich würde sie damit nicht die Butter aufs Brot verdienen. Ein Grund mehr, weshalb ihr Vater für sie sorgen musste. Immerhin schien wenigstens dieses eine schmale Bändchen zustande zu kommen, andere Projekte hatten sich oft genug zerschlagen. Deshalb war die Tochter auch guter Laune, und sie nahmen gemeinsam ein herzhaftes Abendbrot ein.
Dann ging Tanja schlafen, sie war müde von der Reise, und auch er suchte das Bett auf. Am nächsten Morgen fand er sie im Foyer, in den Zeitungen blätternd. Plötzlich, beim Überfliegen der Polizeinachrichten, wurde sie bleich, sprang von ihrem Stuhl auf. „Hast du das gelesen?!“
„Was soll ich gelesen haben?“ Er sah sie an.
„Die Notiz über den ehemaligen Gärtnereidirektor, der sich erschosen haben soll, diesen Heinz P.“
Er nahm ihr das Blatt aus der Hand, tat, als läse er die Meldung zum ersten Mal. „Nein, es war mir nicht aufgefallen. Doch warum sagst du, er soll sich erschossen haben, und was erschreckt dich an dem Fall so?“
„Aber erinnerst du dich nicht, er war einmal bei uns. Heinz Peterson, du hast ihn bei einem deiner Freunde als Gärtner untergebracht.“
Der Vater gab sich den Anschein, als sei ihm die Sache völlig entfallen. „Du meinst, es handelt sich um diesen Arbeitslosen, der früher im Osten einen Gartenbetrieb leitete? Ja, ja, Peterson, so hieß er wohl. Das wäre allerdings ein sonderbarer Zufall. Wie lange ist das her, zwei Jahre?“
„Nein, noch nicht so lange, aber das ist auch gleich. Ich muss sofort weg.“ Sie lief nach oben, holte ihre Handtasche.
„Wo willst du denn hin!“, rief er beunruhigt. „Was ist auf einmal in dich gefahren?“
„Ich muss etwas klären. Die ganze Sache ist entsetzlich.“ Und ohne sich aufhalten zu lassen, lief sie verstört aus dem Haus.
Der Vater überlegte, ob er ihr folgen sollte, ließ es dann aber. Es war dumm, dass sie die Notiz gelesen und sich an diesen einmaligen Besuch hier erinnert hatte – er hätte die Zeitungen beseitigen sollen. Aber im Grunde interessierte sie sich nie für seine Geschäfte und nicht für die Leute, mit denen er umging. Nun ja, von dem Handel, den er gerade mit diesem Mann und durch ihn abgewickelt hatte, wusste sie zum Glück nichts. Sonderbar war nur, dass sie sich so aufregte.
Zwei Stunden später kam Tanja zurück, und er stellte sie sofort zur Rede. „Jetzt erklär mir mal, was los ist. Weshalb bist du durch diesen Selbstmord so bestürzt, und wo warst du?“
„Da muss ich etwas weiter ausholen. Ich war, wenn du es unbedingt wissen willst, bei der Kripo. Heinz Peterson und ich, wir waren nämlich… gut befreundet, und ich glaube nicht an einen Selbstmord.“
„Was?“, erwiderte er geschockt und alarmiert „Du hattest ein Verhältnis mit diesem Mann? Wann denn? Davon hast du mir nie ein Wort erzählt.“
„Erzählst du mir deine intimen Geheimnisse? Wir leben doch ziemlich aneinander vorbei. Die Sache war übrigens schon zu Ende. Er hat mir damals imponiert, vielleicht weil er so tief gefallen war, aber nicht aufgab.“
Der Vater dachte sarkastisch: Das stimmt, er gab nicht auf, dazu musste man ihn schon zwingen.
„Jedenfalls wusste ich, dass ihn jemand betrogen hatte. Bei so einer Immobiliengeschichte, die über die Treuhand lief. Er hatte noch eine Riesensumme zu bekommen, und er behauptete, er habe den Mann, der sie ihm schulde, in der Hand, er müsse nur den Hebel ansetzen.“
„Aber den Namen dieses Mannes kennst du nicht", der Vater sah Tanja scharf an.
„Nein, den wollte mir Heinz nicht verraten. Er meinte, das würde mich nur in Konflikte bringen. Und überhaupt wolle er mich nicht in die Sache verwickeln.“
„Wie rücksichtsvoll“, sagte der Vater und war seinem Opfer im Nachhinein dankbar. „Na ja, ich finde die Geschichte ziemlich an den Haaren herbeigezogen. Hast du sie etwa der Polizei aufgetischt?“
„Ich war hauptsächlich dort, um das Kuvert abzuliefern“, erwiderte sie.
Der Vater, der anfangs entsetzt, später schon weniger besorgt gewesen war, bekam einen neuen Schrecken. „Was für ein Kuvert?“
„Heinz Petersen hatte mir ein Kuvert zur Aufbewahrung gegeben“, erklärte Tanja, „er wusste, dass er mir vertrauen konnte. Ich sollte es verschlossen der Polizei übergeben, falls ihm etwas zustieße, und das habe ich jetzt getan. Du hättest doch genauso gehandelt, oder?“
Er stotterte: „Ich weiß nicht… vielleicht… mich hätte schon interessiert, um was es sich handelt.“
Die Tochter sah ihn nachdenklich an. „Du hast Recht, aber das lässt sich wirklich leicht erraten. Er hat darin bestimmt den Betrug beschrieben, die Dinge, die damals mit der Treuhand geschehen sind, und er wird den Namen des Mannes genannt haben, der ihn dann umbrachte, weil er nicht zahlen wollte.“´
Ebenfalls von Klaus Möckel stammen die beiden E-Books in einem „Steffis Party“ und „Fahrtwind“. Möckel hatte „Steffis Party“ erstmals 1997 im Verlag ELEFANTEN PRESS Berlin veröffentlicht: Seit Steffis Vater arbeitslos geworden und zu Hause ausgezogen ist, hat sich ihr Leben verändert. Ständig gibt es Streit mit der Mutter. Das Mädchen ist froh, dass sie wenigstens ihre Clique hat, auch wenn sie dort mit zwölf die Jüngste ist. Eines Nachmittags soll eine Party gefeiert werden, und Steffi kennt einen Bungalow, in den man einsteigen kann. Als die Feier jedoch außer Kontrolle gerät, das Häuschen verwüstet und eine Kasse geplündert wird, lehnt sie sich gegen die Gruppe auf. Dadurch gerät sie in höchste Gefahr.
Die Erzählung „Fahrtwind“, etwa für die gleiche Altersgruppe geschrieben, erzählt von Heike, einer Dreizehnjährigen, die mit ihren Freunden ein außerordentlich gefährliches Hobby pflegt, das S-Bahn-Surfen. Vor allem um Thomas zu imponieren, in den sie verliebt ist, schließt sie mit einem sensationslüsternen Reporter eine Wette ab. Für etwas Geld will sie während der Fahrt aufs Wagendach klettern. Das Experiment scheint zu glücken, doch dann geschieht etwas Unerwartetes …
Ein dramatisches Szenarium, bei dem es um Tod und Leben geht. Und so beginnt diese Geschichte:
Fahrtwind
In den schon kahlen Ästen der Pappel hing ein Papierdrachen. Zerschlissen und gerupft, der Wind zauste an den noch verbliebenen roten und blauen Schwanzfedern. Der Mann neben Heike, er trug eine hellgraue Lederjacke, Cargohose und eine schmale, silbern umrandete Brille auf der schmalen Nase, schaute aus dem Fenster. „Abgestürzt“, sagte er. „Der bunte Vogel hat sich losgerissen und ist abgestürzt. Habt ihr keine Angst, dass euch das auch mal passieren könnte?“
Die S-Bahn sauste dahin. Der Drachen war längst aus dem Blickfeld verschwunden, Einfamilienhäuser in herbstlicher Gartenlandschaft zogen vorüber. Langsam, weil sie etwas tiefer lagen und ein Stück entfernt. Weiter hinten sah man Wiesen, abgeerntete Felder.
„Wir reißen uns nicht los, wir halten uns fest, Mann“, erwiderte Kotte. Er war der Kleinste in der Clique, nur eins achtundsechzig groß, was ihn beim Surfen behinderte. Trotz dicker, luftgepolsterter Sohlen unter den Turnschuhen gelang es ihm nur schwer, nach oben aufs Dach zu steigen. Es war sein großer Kummer.
Piet, etwas dicklich, aber trotzdem gewandt, lachte. „Wenn’s dich abklatscht, bist du selber schuld, hast nicht aufgepasst. Dann ist’s eben vorbei, na ja, wenigstens bist du mal geflogen. Manche quatschen ihr ganzes Leben lang vom Fliegen und schaffen’s nie.“ Er blickte den Mann in der grauen Lederjacke herausfordernd an.
Die andern nickten zustimmend. Ev, das Mädchen mit dem langen, blonden Haar, verdrehte die Augen und rutschte komisch auf ihrem Sitz zusammen, als müsste sie ihr Leben aushauchen. Günther, wegen seiner rauen Stimme Brummi genannt, imitierte mit abgespreizten Armen einen trudelnden Düsenjet und Kotte griente nur. Lediglich Thomas reagierte nicht. Für den ersten Augenblick jedenfalls. Er stand lässig da, an die Abteilwand gelehnt, mit gelangweiltem Blick. Er schaute niemanden an, auch den Mann mit der Brille nicht. Dann aber, ohne jede Hast, fasste er die Griffe der Abteiltür und schob deren Flügel auseinander. Gegen die Pneumatik, die sie geschlossen hielt. Er zwängte sich durch die Öffnung und hing im nächsten Moment draußen im brausenden Fahrtwind. Die Fußspitzen auf dem schmalen Sims des Waggons, die Hände um den oberen Rand des Fensters gekrallt, das halb offen stand. Ein fremdes, triumphierendes Lächeln auf den Lippen. Schließlich stieg er, mit den Händen übergreifend und die Puffer als Fußstütze benutzend, zum nächsten Waggon hinüber.
Heike, lang und schlaksig, was ihr den Spitznamen Stange eingebracht hatte, den sie gar nicht mochte, sah ihm bewundernd nach. Wie Tommi das wieder gemacht hatte, einmalig. Die andern quatschten, er aber handelte. Er war und blieb der Größte, nicht zu übertreffen.
Sie ließ sich auf den Sitz neben Ev fallen und streckte die Beine aus. Bis zur nächsten Station würde nichts mehr passieren und dann war die Fahrt für heute zu Ende. Unter halb geschlossenen Lidern hervor beobachtete sie den Mann in der grauen Jacke. Er hatte sich als Rudi Enderlein bei ihnen vorgestellt – „sagt einfach Rudi zu mir“ – und war das dritte oder vierte Mal mit ihnen zusammen. Angeschleppt hatte ihn vor zwei Wochen ein Schüler der 8b, ein früherer Freund von Günther.
„Da ist jemand, der was über das S-Bahn-Surfen schreiben will, er lässt einen Fünfziger springen, wenn ihr ihn mal auf die Fahrt mitnehmt.“
„Was denn, will der Olle etwa mit uns aussteigen?“, fragte Kotte spöttisch.
„Nein, nein, er möchte bloß einiges wissen und vielleicht auch sehn.“
Nach einigem Hin und Her hatte sich die Clique schließlich auf die Sache eingelassen.
Anfangs waren sie trotzdem skeptisch gewesen: Vielleicht ein Bulle, der sich bei ihnen einschleichen wollte. Doch die Bullen kümmerten sich nicht um Surfer, sie hatten mit Bankräubern, Sexstrolchen und den Randalen der Glatzen genug zu tun. So hatten sie sich mit diesem Mann getroffen, waren handelseinig geworden. Nicht ein Fünfziger insgesamt, sondern ein Zwanziger für jeden von ihnen, auch für den Schüler von der 8b. Dafür ließen sie sich sogar fotografieren.“
Falls tatsächlich jemand jetzt noch ein oder auch zwei Weihnachtsgeschenke brauchen sollte, dann sollte bei den heutigen Sonderangeboten dieses Newsletters etwas dabei gewesen sein. Aber auch ganz ohne Weihnachten gibt es wohl genügend Anreize zur Lektüre.
Viel Vergnügen beim Lesen, einen schönen vierten Advent, bleiben Sie weiter gesund und munter und vorsichtig und bis demnächst. Und bitte dran denken: In ein paar Tagen ist Weihnachten – überraschend wie immer, aber diesmal unter Corona-Bedingungen. Und das heißt: Abstand halten und zugleich zusammenrücken. Klingt irgendwie blöd und unmöglich, ist aber trotzdem möglich. Versuchen Sie es doch einfach …
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