Lettre International 131 / Winter 2020 / Neue Ausgabe
Über den Blues unserer Tage und ein Klima anschwellender Angst in der Corona-Pandemie meditiert Franz Maciejewski in Melencolia 2020. Werke von Albrecht Dürer und Walter Benjamin sind seine Wegweiser durch die leergefegten Straßen der Melancholie. Die Zustimmung zum angeblich Unvermeidlichen war anfänglich groß, doch verhieß diese Art der Verlangsamung nichts Gutes, sie bedeutete Einschränkung und Vereinsamung. „Notgedrungen eingesperrt wurden wir wahrhaft zu Insassen des entstellten Lebens, die wir draußen im bienengleichen Betrieb philosophisch gesehen immer schon waren.“ Was genau geschah mit der Menschheit in jenem wie aus dem Nichts hereinbrechenden Akt der Comédie humaine? Die offizielle Politik antwortet auf das „kleine Sterben“ der Pandemie mit Wucht und Entschlossenheit. Sie feuert mit großem Geschütz und feiert sich im Bild des starken Staates. Mit Blick auf das „große Sterben“ der Klima- und Umweltkatastrophe will ihr allerdings nichts Rechtes einfallen. Leisetreterei überall, bleiernes Schweigen im Walde – wie sollten wir als Staatsbürger handeln im Wahnwitz unserer Zeit?
Mithilfe einer staubtrockenen Bestandsaufnahme wissenschaftlicher Erkenntnisse – zu Geschichte und Wirkungsweise des Virus, zum Gesundheits- und Immunsystem, zur Impfstofforschung und Impfstoffherstellung, zu ökonomischen, sozialen und kulturellen Folgen von COVID-19 – unternimmt der Geo- und Astrophysiker Rudolf A. Treumann die Autopsie der prekären Situation. Es ist die erste Pandemie der modernen Welt in Echtzeit, hautnah und global erlebt. Sie ufert zur Pandämonie aus, wird zur Absurdität, versetzt die Welt in Schrecken: Das Virus, zum bösen Geist gestempelt, lauert überall. Was kann helfen? Damit der Schutz der Bevölkerung Breitenwirkung entfaltet, muß es mehrere Impfstoffe geben. Keine Firma darf ein Monopol beanspruchen, unzumutbare Preise verlangen, sich ungebührlich bereichern. Keinesfalls darf die Verteilung des Vakzins der Teilung der Welt in Bevorzugte und Abgehängte Vorschub leisten, der Impfstoff sollte den Bedrohten unterschiedslos bereitgestellt werden. Er muß erschwinglich sein – egal ob für arm oder reich. Es geht um das Fortbestehen einer funktionierenden Weltzivilisation.
Ein Licht in der Katastrophe erblickt die dänische Autorin Suzanne Brøgger. Sie erfährt die COVID-19-Krise als Ereignis, das alles und jeden in Schock versetzt – jedoch durch seine erzwungene Entschleunigung des Alltags die Chance bietet, das eigene Leben neu zu überdenken. Inmitten dieses Dramas von Leben und Tod unternimmt sie einen Rückblick auf Etappen und Wendepunkte ihrer eigenen Biographie. Kann die Erfahrung der Krise zum Katalysator einer neuen Offenheit werden, einer neuen Lebensfreude? Mit der Pandemie ist der Tod dicht an uns herangetreten. Das „Savoir mourir“ ist zu einer vergessenen Kunst geworden. Und doch kann die Krise zum Vorzeichen einer neuen Zeit werden, zum Kairos, zu einem glücklichen Augenblick, in dem alle Zeiten zu einem neuen Jetzt zusammenfließen, und wo erneut alles möglich erscheint. Es ist nicht zu spät für die Welt, wieder zu atmen.
Die polnische Rechte und ihre Machtstrategien analysiert die Kunstphilosophin Maria Anna Potocka. Die polnische Rechte hat sich eine Mixtur aus Katholizismus, Polentum, Geschichte, Familie und Leben als Waffen in ihrem Kampf gegen die Modernisierung der Gesellschaft gewählt. Die katholische Religion wird zur Nationalreligion verklärt, Christus zum König von Polen erhoben:, Geschichtsbildhauer nähren das kollektive Gefühl des nationalen Auserwähltseins, die Geschichte wird umgeschrieben. Weder Abtreibung noch Pille soll es geben, Frauen keine Karriere mehr anstreben, vielmehr zu Hause bleiben, kochen, Kinder gebären, das Volk vermehren. Die große Chance der Rechten im Kampf gegen die modernen Frauen ist die Kirche, den gottgefälligen Worten eines Priesters vertrauen Frauen oft noch demutsvoll. Die Kirche bietet ihre Kanzel der Rechten als das polnische Hypermedium mit der größten Reichweite an. Eine brillante Analyse politischer Manipulation.
Der Psychoanalytiker Sergio Benvenuto spricht mit dem französischen Philosophen Jean-Luc Nancy über Liebe, Gewalt und Religion. Sie spüren Grundfragen der christlichen, jüdischen und islamischen Religionen nach: Warum ist mit dem Christentum die Liebe zum göttlichen Gesetz erhoben worden? Wie verhält sich Freuds Idee eines ursprünglichen Vatermords als kulturellem Gründungsakt zur Grausamkeit eines Gottvaters, der seinen Sohn kreuzigen läßt, um die Menschheit zu retten? Welche Tradition des Opfers begründet dieser Vatermord, und was bedeutet das Wort Vater in diesem Zusammenhang? Warum kennt die Gottesidee des Islam kein Vaterbild? Warum soll der christliche Gott ein Gott der Liebe sein, während der Gott des Islam lediglich Güte verkörpert? Und wie paßt die Idee von Gottes Liebe zur sadistischen Folter von Jesus am Kreuz? Brisantes über Formen des Heiligen, Riten und rationale Orientierungen.
Seine offene Haltung dem Menschen und dem Fremden gegenüber nennt der Philosoph Marc-Alain Ouaknin „Philosophie der Berührung“, die einem jeden Menschen das Recht zuspricht, als unersetzliches Subjekt anerkannt und respektiert zu werden. Der Mensch bleibt undefinierbar; er ist ein Wesen, von Staunen geprägt und geöffnet hin zur Welt. Der Philosoph sucht nach einem lebendigen Sinn, er propagiert ein „aufsprengendes“ Lesen, welches geläufige Bedeutungen aufbrechen und frisches Leben im Inneren der Wörter wachrufen möchte. Der Schweizer Sprachwissenschaftler Marco Baschera stellt einen zu entdeckenden Autor vor.
Harry Lehmann geht der Frage nach, wie die politische Polarisierung der Gesellschaft in Globalisierungsgewinner und Globalisierungsgegner zu einer neuen, starken Politisierung der Künste führt. Nach der postmodernen Kunst herrscht im Kunstsystem ein aufgeheiztes Betriebsklima vor. Der Habitus, Haltung zu zeigen und die Welt retten zu wollen, eine post-postmoderne engagierte Kunst, beherrscht die aktuelle Szenerie. Gruppenpolarisierung und ein neues Ordnungsmuster der politischen Konflikte heizen das Geschehen auf. Politischer Aktivismus und politische Kunst werden sich ähnlicher und prägen die internationale Kunstszenerie. Was daran ist noch Kunst, was pure Politik? Was folgt auf diese Logik der Polarisierung? Wenn die Pandemie alle zu Globalisierungsverlierern macht, werden dann moderate kosmopolitische mit moderaten kommunitaristischen Kräften moderater um einen kulturellen und sozialen Ausgleich in der Gesellschaft streiten.
LEBENSLINIEN
Über sein Leben in vielen Sprachen berichtet der Weltreporter und Trilinguist Georg Stefan Troller. Als Jude aus Wien, dereinst über Prag nach Amerika geflohen, als Vernehmungsoffizier der amerikanischen Armee im Zweiten Weltkrieg nach Europa zurückgekehrt, blieb Troller in Paris und wurde mit seinen Sendungen Pariser Journal oder Personenbeschreibung zu einem berühmten Journalisten, der auch über 1.500 Dokumentarfilme gedreht hat. Durch das Virus in Paris domiziliert, sinniert der Weltbürger, der an diesem 10. Dezember 2020 seinen 99. Geburtstag feiert – ALL UNSERE GLÜCKWÜNSCHE !!! – über sein Leben mit einer Heimat in drei Sprachen: Deutsch, Englisch, Französisch. Mit Honoré de Balzac und Roland Barthes, mit Thomas Mann und Kurt Tucholsky, mit Vladimir Nabokov und Joseph Conrad tastet er sich durch Labyrinthe und erklimmt die Fallstricke der Sprachen, durch Chansons und Cabarets, Immigrantenszenerien, Stummfilme, Wiener Dialekte, humanistische Gymnasien und Pariser Cafés. „Uskcektüva?“: Der schlafende Fels.
Die italienische Schriftstellerin Dacia Maraini schildert ihre Reise zum Turkana-See in Kenia mit Alberto Moravia zum kleinen Stamm der Elmolo, der seit unvordenklichen Zeiten an seinen Ufern lebt, mit gerade noch einhundertvierzig Mitgliedern. Sie wird zur Zeugin von Opferriten, Beschneidungspraktiken und einer Nashornjagd und wird von Skrupeln hinsichtlich ihrer voyeuristischen Position geplagt. Ist es hilfreich, unser Heute zu begreifen, indem wir Völker aufsuchen, die fast noch leben wie vor tausend Jahren? Ist es angebracht, unsere Augen und Kameras auf ein Volk zu richten, das nur noch ein Schauspiel aufzuführen scheint und sich dabei trotzig an eine Identität klammert, die schon in die Brüche gegangen ist? Wie soll man auf eine solche Welt blicken, die zugleich wahrhaftig und verfälscht, unschuldig und hintertrieben, notgedrungen rückwärtsgewandt und gefühlsmäßig verdreht ist? Wie soll man sie erzählen? Wie soll man bei diesen archaischen Gesichtern verweilen, ohne der Selbstgerechtigkeit desjenigen zu verfallen, der aus einer Welt kommt, die sich für fortschrittlich hält und die Arroganz besitzt, zu urteilen? Pasolini würde sagen: „Der unschuldige Blick ist tot.“
Stets wollte er ein anderer sein. Ein Franzose, Dichter, Grieche, Fischer oder Schäfer. Das müßte doch klappen, irgendwie, Hauptsache aus der eigenen Haut heraus, was es auch koste. Im Jahr der großen Kirschblüten, Mai 1969, in Heidenheim, einer Stadt an den Ausläufern der Schwäbischen Alb, schaute er zu, wie sich die eigenen Väter betranken, während die Frauen vorwurfsvoll Löcher in den Boden starrten. Es war unendlich traurig auf der sprachlosen Alb. Die Enge trieb ihn hinaus, abgestoßen von der geheimnislosen Ewigkeit des Immergleichen, gottverlassen, heimatlos, bodenlos, ein Leergut ohne Abnehmer. Und seine poetische Seele versucht, sich treiben zu lassen vom Geist, hinein in eine abenteuerliche Fahrt. Sich umsehen, Dinge berühren, riechen, mitgerissen werden von der Wucht eines Frühlings, erleben, wie die roten Raben sich jubilierend von Windstößen treiben lassen und in besinnungslosem Taumel ihren Flug feiern: Alles ist bereits vorhanden, man muß nur in sich hineinhorchen. I want you. Wolf Reisers Lebensreise in einer Traumnovelle
Nach Rom hat es die Petersburger Autorin Alexandra Petrowa verschlagen. Es ist Allerheiligen, sie läßt sich treiben und sinniert über ihre neue Heimat. Wie verhält sich die Kapitale Rom zu ihrer Vergangenheit? Zum Caput mundi, wie sie sich nannte, als sie aus dem Erdkreis eine Provinz machte und in alle Himmelsrichtungen ausmaß? Einst war sie allgegenwärtig, allmächtig und allbesitzend. Wohl deshalb gibt es nichts, was ihre Bewohner überraschen könnte. Würde der Papst zum Islam konvertieren oder ein Elefant rittlings auf einem anderen über die Stadt hinwegschweben, würde man murmeln: „Alles schon gesehen“. Jedes Jahr, am 24. Dezember, saß man hier, Speise um Speise vertilgend, bis zum Morgengrauen im Kreise seiner unüberschaubaren Familie: Untreue und liebende Ehegatten, Großmütter, Urgroßmütter und sogar Urgroßväter, denn die Romländer waren zäh und langlebig. (…) Regenschirme wurden unter keinen Umständen in der Wohnung geöffnet, Hüte nie aufs Bett gelegt. Das würde einen Todesfall bedeuten. Eine Handtasche auf dem Bett einen Arztbesuch. Man ging niemals unter einer Leiter durch. Ein Bett durfte man nicht zu dritt beziehen, sonst drohte dem jüngsten der drei ein plötzlicher Tod. Ein Salzstreuer wurde nicht direkt in die Hand gegeben. Er mußte zuerst auf den Tisch gestellt werden, um die bösen Geister abzulenken. Trotz des revolutionären Impetus ihrer Vergangenheit war das eine träge, dumpfe Gesellschaft, die in ihrem eigenen Saft schmorte (…) Doch die Schönheit des urbanen Raums, rational und so virtuos, daß sie wie zufällig wirkte, löste alles Alberne, Gemeine und Grausame in Luft auf. „Ich fühlte, daß ich mit den Romländern Freundschaft geschlossen hatte. Zynismus, Lebenslust und Mutterwitz der Romländer hatten die Hügel meiner Arroganz eingeebnet …“ Ein turbulenter Tag beginnt (…)
Mit dem überragenden Übersetzer griechischer Theaterstücke und Epen, Kurt Steinmann, erkundet Frank M. Raddatz Tiefenschichten der Dichtkunst, um das jahrtausendalte Material eines Homer, Aischylos, Euripides und Sophokles vor dem Horizont unserer Gegenwart zum Sprechen zu bringen. Ihre Wanderschaft führt die Dialogpartner zu den beiden Texten über den thebanischen Herrscher vor und nach seinem Sturz, zu König Ödipus und Ödipus auf Kolonos, zur ersten der erhaltenen Tragödien Die Perser, anhand der Alkestis des Euripides ins griechische Totenreich, zur Kollision von Mutter- und Vaterrecht in Die Orestie, zu Phädras Liebe zu Hippolytos und zur einsamen Insel des Philoktet. Ein Gang, der die antike Landschaft in die Farben der Jetztzeit taucht und die tragische Diktion im Spiegel unserer beschleunigten Epoche bricht: Der Antikenkosmos. Die Faszination der Alten oder Von den Obsessionen der Altphilologie
Untrennbar von der Antike ist wie die Tragödie auch die Inthronisierung des Logos. Das rätselhafte Verhältnis von Theater und Philosophie ergründet der Dramaturg Helmut Schäfer auf Böden, die von Platon zu Hegel führen, von Kant zu Adorno, von der italienischen Komödie zur deutschen Klassik, von Nietzsche bis zur Kunstreligion. Konstruiert der Philosoph stets neue Verfahren der Wahrheitsfindung, kommt er mit dem Theater im Laufe der Zeiten immer wieder auf die Frage zurück: Was ist der Mensch? Ob allerdings die Verhältnisse der Menschen untereinander in der abstraktesten aller historischen Epochen, im digitalen Zeitalter, überhaupt noch mit Mitteln des Theaters erfaßt werden können, erweist sich als dessen ungelöste Frage. Philosophisches Theater. Der Glanz des Scheins und das Elend des Dokuments
Das Theater braucht Bilder, um sich zu veranschaulichen. Darüber spricht der Bühnenbildner Karl Kneidl, und über die große Zeit des deutschen Theaters im Kontext der Brüche um 1968 und seiner Bedeutung in einer Nachkriegsgesellschaft, die von ihrer Geschichte nichts wissen wollte. Er erinnert sich an seine Zusammenarbeit mit Pina Bausch, Peter Palitzsch, Klaus Zehelein, Hans Neuenfels, Niels-Peter Rudolph, Franz Xaver Kroetz, Claus Peymann und Peter Zadek und an eine Generation von Theaterleuten, die das Fenster zu den Toten weit aufstoßen wollte oder mußte, weil ihr der Schrecken der Naziherrschaft im Nacken saß. Dazwischen leuchten Momente auf, die von der Einsamkeit des Bühnenbildners vor seinem Modell berichten, wo er, auf sich allein gestellt, Möglichkeiten für Schauspieler wie Regisseur erzeugt: Raum heißt Grenze. Die Ellipsen des Bühnenbilds im Kraftfeld des Theaters
Geld ist überall, banal und allgegenwärtig wie die Luft zum Atmen. Seit Ende des Mittelalters drängelt es sich in die Theaterdichtungen Europas. Goldonis italienische Komödien wimmeln von Spielhöllenbesitzern, Spekulanten und Hochstaplern, der Engländer Ben Jonson erfindet in Volpone die hochkomische Figur eines tolldreisten Geldbetrügers, und Goethe läßt Gretchen seufzen: „Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles.“ Geld tritt die Weltherrschaft an und kontaminiert menschliche Beziehungen. Aus Shakespeares Werken spricht schneidender Geldhaß: „Oh, welch ein Gott ist Gold!“, flucht der Menschenfeind Timon von Athen, sogar der verzweifelte Romeo sagt dem Apotheker, dem er für den todbringenden Kräutertrank vierzig Dukaten hinwirft: „Ich gebe Gift dir, du verkaufst mir keins.“ Doch das vollständigste psychologische Porträt eines obsessionellen, vom Geldverleih lebenden Geschäftsmanns liefert Shakespeare in der Gestalt des jüdischen Wucherers Shylock im Kaufmann von Venedig. In der Theaterliteratur kann es an Geldbesessenheit nur einer mit ihm aufnehmen: Harpagon, der Geizige Molières. Benjamin Korn über Psyche und Geldgier: Welch ein Gott ist Gold.
Das Wiener Freudmuseum wurde im September 2020 neu eröffnet. Da man in Wien wegen der Vertreibung Sigmund Freuds durch die Nazis so gut wie keine authentischen Ausstellungsstücke besitzt, da nur wenig zurückgeblieben ist – ein Kleiderhaken, ein ledernes Reisekissen mit Henkelgriff, Freuds Hut und zwei Spazierstöcke –, erinnert das Haus an ein Gespenstermuseum. Hier, wo Freud sein Leben verbrachte und sein riesenhaftes Werk entstand, hält man von den Dingen, die ihn umgaben, kaum etwas in Händen, zumindest nicht im Vergleich zum Freud Museum in London. Der Architekt Hermann Czech entwickelte daher ein ungewöhnliches Rekonstruktionskonzept: Die Räume werden zum Museum ihrer selbst, die Wohnung wird zur Ausgrabungsstätte. Eine Schatzkarte gibt es jedoch nicht. Barbara Zeman zum wohl abstraktesten und poetischsten Museum, das sich erträumen läßt: Fünf Farben Rot – Geschichte einer Wohnung
Constantin Floros porträtiert in Idol Gustav Mahler den Menschen und Künstler, der sich als Streiter für das Heiligtum der Tonkunst verstand, jedoch zu Lebzeiten umstritten blieb, während er heute als genialer Musiker gilt. Seine Karriere als Kapellmeister und Dirigent war kometenhaft und machte ihn zum gefeierten Star in den Musikmetropolen Wien und New York, doch wurde seinen Kompositionen und Symphonien Eklektizismus, Trivialität, Formlosigkeit, Mangel an Originalität vorgeworfen. Fünfzig Jahre nach seinem Tod aber begann seine Renaissance. Heimatlosigkeit und Unbehaustheit durchziehen Mahlers musikalisches Schaffen. Sein Sehnen galt der Überwindung des Todes durch die Liebe. Arnold Schönberg bezeichnete ihn als einen Märtyrer und einen Heiligen. Ein Künstlerportrait
KOLONIALISMUS
Thomas Stölting erzählt die Geschichte von Christoph Kolumbus anders, als wir sie kennen. Lange Zeit war dieser vergessen, mutierte dann zur weltentdeckerischen Lichtgestalt, welche die Neuzeit einleitete, bis man zuletzt erkannte, daß er zur Heilsfigur nicht taugte. Kolumbus war ein Abenteurer, Machtmensch, Goldsucher, ausgestattet mit einzigartigen Privilegien durch die spanische Krone. Aus dem Dreiklang von päpstlicher, römisch-katholischer Rechtsetzung, spanischem Machtwillen und genuesischem Geld heraus wurden koloniale Eroberungen geplant, die ihresgleichen suchten. Kolumbus sollte neues Land in Besitz nehmen, unermeßliche Reichtümer finden. Er träumte vom Weg nach Asien, von einem Land voller Gold, doch landete er auf der ärmlichen Insel Hispaniola und fand sich bald in einer ausweglosen Lage. Er gründete Siedlungen, wurde zum Tyrannen seiner Schiffsbesatzung, knechtete die Indianer, ließ sie hinrichten, wenn sie ihm nicht zu Willen waren. Er wurde reich als skrupelloser Sklavenhändler. Doch er wurde seines Auftrags entbunden, prozessierte gegen die Königin, geriet an den Abgrund und nach seinem Tod in Vergessenheit. Er wollte eine neue Welt entdecken, aber er machte die neue Welt zum Abbild der alten. Notizen zu Kolumbus. Ein Gegenbild.
BRIEFE & KOMMENTARE
Die Ergebnisse der amerikanischen Präsidentschaftswahl analysiert Sergio Benvenuto. Auch wenn Joe Biden als demokratischer Gegenspieler Donald Trumps die Wahl gewonnen hat, ist es seinem rechtspopulistischen Gegenspieler gelungen, nahezu die Hälfte der Wähler zu gewinnen. Eine extreme Polarisierung der Wählerschaft hat sich verfestigt. Eine Rache der historischen Verlierer, der Rednecks und Arbeiter, der Farmer und Ranger, der alten Weißen, der Menschen mit niedrigem Bildungsniveau? Die linke Idee der Gleichheit scheint an Attraktivität einzubüßen. Von zunehmender Bedeutung für diese marginalen Massen ist etwas anderes, eine Art „identitärer Narzißmus“. Das ist der Stolz auf die Nation oder die Region, wie im Fall der separatistischen katalanischen und baskischen Parteien, von Schottland und früher von Umberto Bossis Lega Nord. Die Betonung der originären Herkunftskultur – Salvinis Spiel mit dem Rosenkranz, Trumps Übereinstimmung mit dem amerikanischen Bible Belt, der chauvinistische Kult der Kokarde von Marine Le Pen, der Kult des Union Jack, das „God Save the Queen“ der Engländer ist omnipräsent. Ein gewaltiger backlash hin zu einer von der globalisierten Gesellschaft zutiefst bedrohten Heim-und-Herd-Ideologie findet statt. Dieser backlash hat keine tiefreichenden ökonomischen Gründe, vielmehr kulturelle und psychologische – und so hat ein Psychoanalytiker heute mehr zu sagen als ein Ökonom: Die Stimmen für Trump und Biden.
Bei der Gedenkfeier an der Pariser Sorbonne, für den im Oktober 2020 von einem islamistischen Fanatiker enthaupteten Lehrer Samuel Paty wurde ein Text des 1914 kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs ermordeten Pazifisten Jean Jaurès verlesen. Der Text aus dem Jahr 1884 würdigt die Lehrer der Französischen Republik, jene Staatsdiener, denen Verstand und Seelen der Kinder anvertraut sind und die große Verantwortung tragen. Eine Hommage an den Beruf des Pädagogen, der seinen Schülern eine Vorstellung von der Größe des Denkens eröffnen soll, geistige Möglichkeiten aufzeigen und diese den Kindern vermitteln soll: An die Lehrer und Lehrerinnen …
Auch der Gelehrte Georges Nivat nimmt die Enthauptung von Samuel Paty zum Anlaß, an jene Dramen zu erinnern, die seit 20 Jahren in den von Blutbädern heimgesuchten Schulen stattfinden. Die abstoßende Besonderheit dieses jüngsten Pariser Attentats bestand darin, daß der Lehrer in seiner Schlüsselfunktion das einzige Angriffsziel war und mit ihm symbolisch das gesamte republikanische Selbstverständnis, die tiefe Tradition der Bildung, die geistige Entwicklung und die Wissenschaft. Es herrscht in Frankreich nunmehr eine „Atmosphäre des Dschihadismus“, und der Kampf gegen dieses Gift muß die gesamte Gesellschaft einbeziehen. Es gilt vor allem, bestehende Gesetze in aller Konsequenz durchzusetzen und Einschüchterungsversuchen nicht nachzugeben: Weil er als Lehrer handelte
Angesichts des islamistischen Terrors fragt der Philosoph Jean-Claude Pinson, ob die Aufklärung inzwischen der Vergangenheit angehört und wir jene „Nachzügler“ seien, zu denen sich Schriftsteller und Intellektuelle unterschiedlichster Epochen zählten, weil sie nicht engagiert genug am Weltgeschehen teilgenommen hatten. Das Licht schwindet, und es scheint, daß die Selbstzerstörung der Vernunft die Form einer immer forcierteren Zerstörung unseres Habitats annimmt. Kamel Daoud sagt, die arabische Welt sei von drei gestörten Beziehungen geprägt: der Beziehung zur Freiheit, zum Tod und zu den Frauen. Es gilt, poetischen Reichtum gegen die ökonomische Monomanie, ökologische Weisheit gegen die Naturzerstörung und eine Feminisierung gegen das männliche Herrschaftsprinzip zu befördern: Jugend der Aufklärung.
Am 2. Oktober 2020 hat sich Irina Slawina vor dem Gebäude des Innenministeriums auf einer Bank vor dem Memorialkomplex „Hüter des Gesetzes“ mit Benzin übergossen und angezündet. Slawina war als unabhängige Journalistin wegen Mißachtung der Staatsmacht und der Gesellschaft, wegen Verbreitung von Falschmeldungen und wegen Aktivitäten für eine ausländische, unerwünschte Organisation verklagt worden. Wenige Tage vor ihrer Selbstverbrennung waren bei ihrer Hausdurchsuchung 12 Männer, darunter Polizisten, gewaltsam in ihre Wohnung eingedrungen. Den symbolträchtigen Ort ihrer Selbstverbrennung hat sie mit Bedacht gewählt: eine Polizeibehörde mit einem Monument für den Polizeistaat. Die russische Journalistin Liza Alexandrova-Zorina schildert verschiedene Fälle der Journalistenverfolgung und berichtet über den bedrohten Journalismus in Rußland heute.„Irgendwas geschieht jeden Tag: Neue Überfälle, neue Drohungen, neue Verhaftungen, neue Prozesse.“
Der politische Analyst Jiří Pehe fragt nach den Perspektiven Tschechiens. Warum wir es nicht verstehen, uns zu regieren? Wenn die tschechische Republik die postkommunistische Ära, in der es dank billiger Arbeitskräfte, seiner geographischen Lage und seiner industriellen Tradition als Montagehalle für internationale Konzerne prosperierte, hinter sich lassen soll, dann bedarf es einer Vision zur Modernisierung. Nationalistische Kräfte wollen eine weitergehende Integration in die Europäische Union blockieren. Pehe sieht diese Blockaden in unguten Traditionen verwurzelt. Als bedeutendster Faktor gilt ihm der Traum von der Tschechischen Einzigartigkeit. Pehe skizziert die Dauerkrise als Unfähigkeit, sich von der tschechischen Geschichtsmythologie frei zu machen und eine zukunftsweisende Rationale des Landes zu definieren.
KORRESPONDENZEN
Die Zeit, in der die rebellierende Arbeiterschaft Polens eine Kampfgemeinschaft mit der Kirche gegen den kommunistischen Staatsapparat bildete, ist vorbei, und vorbei ist auch die Zeit, als sogar enttäuschte Exkommunisten und kirchenferne laizistische Milieus einen Burgfrieden mit dem Klerus schlossen. Nach 1989 bekam die polnische Kirche ihre Privilegien und ihre alten Besitztümer zurück. Ultrakatholische und ultramontane Kreise weiteten ihren Einfluß aus. Doch mit der Verschärfung des Abtreibungsrechts im Oktober 2020 machten sich die Kirche und der Parteivorsitzende Jarosław Kaczyński viele Feinde. Die Verärgerung der alten Intelligenzschichten, der Feministinnen und der liberalen und libertären, urbaneren Akteure treten dem rechtsstehenden Katholizismus nunmehr entschlossen entgegen. Ein ungekannter Antiklerikalismus greift um sich. Bereitet sich ein historischer Rückzug der Kirche vor? Der Kunsthistoriker Sergiusz Michalski beschreibt den aktuellen Einflußverlust der katholischen Kirche in Polen in der jüngeren Generation.
Über die Liebe der Wiener zum Schneeberg, ihrem Hausberg einem alpinen Kunstwerk aus Muschelkalk mit viel Schnee verbreitet sich Herbert Maurer. An seinen Hängen und Gletschern hat der Wiener das Skifahren gelernt, an seinen kalkweißen Schenkeln des Südhangs als Kletterer Höhenangst überwunden, am Nordhang Flugversuche unternommen, und als Wasserspender versorgt der weiße Berg durch die erste Wiener Hochquellenleitung über 95 km Aquädukte hinweg bis heute die Stadttoiletten mit reinstem Gletscherwasser.
KUNST
Den Titel des Heftes gestaltete der französische Photograph Antoine D’Agata, Hände, eine Hommage an die altruistischen Pfleger in einer Covid-19-Teststation am „University Hospital Institute for Infectious Diseases“, in Marseille 2020.
Kunst kommt von der katalanischen Künstlerin Mercedes Mangrané mit ihrer Emancipation Series. Die minimalistischen Collagen der Künstlerin, intime Räume verhaltener Anwesenheiten aus gerissenen und geklebten Papierfetzen. Sie verlocken dazu, ihren Figurationen Atem und Präsenz einzuhauchen. Der Stolz des Fragments rührt aus seiner suggestiven Kraft zur Stimulation der Phantasie. Diese Konfigurationen sind Einladungen an den Neugierigen, sie aus ihrer Erstarrung zu lösen. Betrete Pfade mit offenem Ziel, sagen sie, schweife umher, verleihe uns Form, erwecke uns zu musikalischen Choreographien, führe uns zum Tanz.
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