Erdoğan zerschlägt endgültig die Autonomie der türkischen Universität: Günstling wird Hochschulrektor
Nach dem angeblichen Putschversuch 2016 hat Präsident Erdoğan am 29. Oktober 2016 das Notstandsdekret 676 erlassen und somit die Wahl von Hochschulrektoren de facto abgeschafft. Nicht mehr die Hochschulen selber sollten autonom Rektorinnen und Rektoren wählen dürfen, sondern die Stellen werden auf der Webseite des staatlich gelenkten türkischen Hochschulrats (YÖK) ausgeschrieben und anhand einer Rankingliste des YÖK dem Staatspräsidenten zur Auswahl und Ernennung vorgelegt.
„Präsident Erdoğan sieht in den Hochschulen des Landes nur angebliche Terroristen, die es zu eliminieren gilt und hierzu sind ihm alle Mittel recht. So hat er seit 2016 insgesamt 15 private Hochschulen geschlossen und ihre Vermögenswerte konfisziert. Über 6.000 Hochschullehrende und 1.500 Verwaltungsangestellte an 122 Universitäten wurden ohne Gerichtsbeschluss gefeuert und abertausende Studierende zwangsexmatrikuliert“, so Dr. Kambiz Ghawami, Vorsitzender des World University Service (WUS), zu den Entwicklungen in den letzten Tagen in der Türkei.
„Es geht Präsident Erdoğan um eine systematische Abschaffung des demokratischen, laizistischen und sozialen Rechtsstaats, wie es im Artikel 2 der türkischen Verfassung verbrieft ist. Hierzu gehört auch die Abschaffung jeglicher Hochschulautonomie wie sie im Artikel 27 der türkischen Verfassung verbrieft ist: ‚Jedermann hat das Recht, Wissenschaft und Kunst frei zu lernen und zu lehren, zu äußern, zu verbreiten und in diesen Bereichen jede Art von Forschung zu betreiben.‘ Dass dies in der Realität nicht mehr gilt, zeigen die bis heute anhaltenden Verhaftungen und Verurteilungen von Studierenden und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Berufsverbote und deren Exilierung“, so Dr. Ghawami.
Mit der Einsetzung von Melih Bulu, der bereits 2011 mit Plagiatsvorwürfen seiner Promotionsarbeit konfrontiert war, wird ein Günstling von Präsident Erdoğan als Rektor der ehemaligen ersten US-amerikanischen Universität außerhalb der USA eingesetzt. Die Universität wurde 1863 unter dem Namen Robert College gegründet und 1971 nach dem Bosporus-Fluss in Boğaziçi-Universität umbenannt. Melih Bulu, ein langjähriger Parteigänger Erdoğans AKP, der vergeblich 2015 für ein Parlamentsmandat kandidierte, hat bereits angekündigt, jeglichen Protest an „seiner“ Universität im Keime zu ersticken.
Weder für Melih Bulu noch für Recep Tayyip Erdoğan gelten rechtsstaatliche Grundsätze und akademische Normen. Bulu plagiiert und Erdoğan schmückt sich mit einem gefälschten Universitätsdiplom aus dem Jahre 1981 der Marmara-Universität. Dies benötigte Erdoğan, um der Grundvoraussetzung der türkischen Verfassung (Arikel 101) gerecht zu werden, um für das Amt des Staatspräsidenten kandidieren zu können. Die Marmara-Universität wurde aber erst 1982 gegründet. Der Dekan und der Rektor der Universität, die beide die Urkunden unterschrieben haben sollen, nahmen ihre Tätigkeiten auch erst 1982 auf. Ein klarer Fall für die Staatsanwaltschaft in der Türkei, die aber untätig blieb und bleibt.
Wie zitierte Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel vor knapp einem Jahr bei der Einweihung des Campus der Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul in Anwesenheit von Präsident Erdoğan zu Recht Albert Einstein: „Neugier ist ein verletzliches Pflänzchen, das nicht nur Anregung, sondern vor allem Freiheit braucht. Im Grunde kann man es auf eine einfache Formel bringen: Je größer die wissenschaftliche Freiheit ist, umso größer ist auch der wissenschaftliche Ertrag. Die Wissenschaft muss die Freiheit haben, in neue Richtungen zu denken. Sie braucht kritischen Diskurs und geistige Offenheit, wenn sie Fortschritt vorantreiben soll.“ Die geistige Offenheit ist Präsident Erdoğan abhandengekommen.
„Ich appelliere an die internationale Scientific Community, die Vorgänge an der Boğaziçi-Universität in Istanbul klar zu verurteilen und ihre Solidarität mit den Lehrenden und Studierenden, die sich für die Autonomie ihrer Universität einsetzen, zu bekunden. Ebenso ist die Aufnahme türkischer Exil-Wissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, Verwaltungsangestellter und Studierender weiterhin dringend notwendig. Insbesondere Deutschland steht in der Verantwortung, da während der Nazi-Diktatur zahlreiche Exilanten aus Deutschland an den türkischen Universitäten Schutz und Aufnahme fanden, so z. B. der spätere regierende Bürgermeister von Berlin Ernst Reuter, der Komponist Paul Hindemith oder der Finanzwissenschaftler Fritz Neumark“, so Dr. Ghawami abschließend.
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