Trotz Corona, China und Brexit – der Umbau der EU geht unverdrossen weiter
Auf der Aufgabenliste der deutschen Ratspräsidentschaft standen die Brexit-Verhandlungen, der Sieben-Jahreshaushalt der EU und das Handelsabkommen mit China. Beginnen wir mit China. Berlin betrachtete es als Ehrensache, nach 34 Verhandlungsrunden in den vergangenen sieben Jahren, dieses Abkommen zu Ende zu bringen. Es störte offenbar nicht, dass Corona aus China kam, wo die alleinherrschende kommunistische Partei erst den Ausbruch des Virus vor der Weltöffentlichkeit verschwieg, seitdem die Geschichte des Corona-Ausbruchs neu zu schreiben versucht und in diesen Tagen den Experten der UNO-Weltgesundheitsorganisation die Einreise zu Feldforschung und Aufarbeitung verweigert. Den mit großem Pomp und Protokoll geplanten EU-China-Gipfel in Leipzig konnte die Bundesregierung dank Corona bedenkenlos ins Internet verlegen. Im Netz fiel der rote Teppich nicht weiter auf, den die sonst so grundrechtefixierten Europäer den Repräsentanten des totalitären kommunistischen Regimes Pekings ausgerechnet dort ausgelegt hätten, wo 1989 die ersten Montagsdemonstrationen stattfanden.
Das Handelsabkommen mit China ist für die EU eine doppelte Herausforderung. Einerseits kommt man in den Wirtschaftsbeziehungen an China nicht mehr vorbei, wenngleich man heute überhaupt noch nicht abschätzen kann, ob die im stillen Kämmerlein ausgehandelten neuen Handelsregeln den deutschen und europäischen Unternehmen und Dienstleistern tatsächlich die erhofften Marktanteile auf dem chinesischen Markt mit 1.4 Milliarden Menschen eröffnen. Andererseits ordnet die EU diesen Wirtschaftsbeziehungen jene Grundrechtefragen unter, die doch vor allem vom EU-Parlament in seinen symbolischen Entschließungen immer wieder betont werden. Der „Wandel durch Annäherung“ hat jedenfalls bislang nichts gebracht: der Autoritarismus der kommunistischen Partei, die Verfolgung der Uiguren mit eiserner Faust, der Vertragsbruch in Hongkong, die Kriegsdrohungen gegenüber Taiwan, die staatliche Zensur der Redefreiheit und die Unterdrückung der freien Presse und der organisierten Zivilgesellschaft, die massive Einschränkung des Handlungsspielraums christlicher Kirchen und das schwierige Verhältnis zur römisch-katholischen Weltkirche, oder auch die vielerorts ärmlichen Lebensbedingungen – all das sollte eigentlich mehr als gelegentliche Skepsis und Schulterzucken in der westlichen Welt begründen. Wie werden also diejenigen Europa-Abgeordneten das Handelsabkommen ratifizieren, die bei anderen Gelegenheiten nicht müde werden, Viktor Orban oder die polnische PiS-Partei mit Grundrechtsverletzungskampagnen zu überziehen?
Dann der Brexit: Pünktlich zu Weihnachten wurde das „Handels- und Kooperationsabkommen mit dem Vereinigten Königreich“ quasi in letzter Minute fertig verhandelt und von Ratspräsident Charles Michel, Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und dem britischen Regierungschef Boris Johnson unterzeichnet. Gleichzeitig wurde ein „EU-Botschafter“ nach London entsandt, nämlich der Büroleiter des früheren Kommissionspräsidenten Barroso. Schließlich ist das Vereinigte Königreich von nun an ein Drittstaat wie beispielsweise die Schweiz oder die USA. Das Handelsabkommen muss nun vom EU-Parlament und den Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Dafür wurde von der Verhandlungsgruppe eine Frist bis zum 28. Februar 2021 gesetzt, damit es am 1. März offiziell in Kraft treten kann. Ursprünglich sollte das EU-Parlament deswegen die Weihnachtsferien unterbrechen und zu einer Sondersitzung am 30. Dezember 2020 in Brüssel zusammenkommen, um über die Ratifizierung abzustimmen. Doch den 751 EU-Abgeordneten war auch bewusst, dass sie nicht in drei Weihnachtstagen über 1400 Seiten Handelsabkommen, das zu diesem Zeitpunkt nur in englischer Sprache vorlag, in allen seinen wichtigen Details sozusagen zwischen Weihnachtsgans und Glühweinapéritif unterm Weihnachtsbaum querlesen können. Am 28. Dezember traf sich also die mächtige Konferenz der Fraktionsvorsitzenden zur außerordentlichen Videokonferenz und stellte fest, dass die Zeit zur Ratifizierung bis spätestens am 28. Februar viel zu knapp bemessen sei, um alle parlamentarischen Prozeduren korrekt zu befolgen. Eine Verlängerung der Frist für die vorläufige Anwendung des Handelsabkommens vor der Ratifizierung ist also unumgänglich. Aber man fragt sich: Wenn schon so ein banales Detail wie die für die Ratifizierung notwendige Zeitspanne völlig unterschätzt wird, welche politisch und wirtschaftlich umso gewichtigeren Details wurden in den 1400 Seiten möglicherweise ebenso unterschätzt?
Das wird man vielleicht in der Parlamentsdebatte zur Ratifizierung noch sehen. Inzwischen geht der Umbau der EU unverdrossen weiter. Die von der EU-Kommission gesteuerte supranationale Impfstoffkampagne, die seit ihrem Beginn für berechtigte Kritik sorgt, ist dafür nur ein Beispiel und die neue „Gesundheitsunion“, die nun geschaffen werden soll, dürfte ein weiterer Schritt für neue Zuständigkeiten der EU sein. Das Corona-Wortungetüm „Impfstoffnationalismus“ lenkt nur von der Unfähigkeit mancher – auch großer – Mitgliedsstaaten ab, eigenverantwortlich die Coronakrise zu meistern. Um von nationalen Unfähigkeiten abzulenken, wird die Verantwortung nach Brüssel wegdelegiert. Das führt zu der verrückten Situation, dass ein in Deutschland erforschter und produzierter Impfstoff nicht im eigenen Land verimpft werden kann, weil eine EU-Agentur noch ihr grünes Licht geben muss und irgendwo in Zypern die Wattestäbchen nicht sortiert sind. Währenddessen sterben Menschen. Um den Druck von der EU-Kommission zu nehmen, sah sich der Leiter des Informationsbüros in Berlin veranlasst, einen Lobbybrief in eigener Sache an die Bundestagsabgeordneten zu schreiben. Der Kammerton ist nicht überraschend: „Die Kommission trägt keine Schuld“, tönt es da, orchestriert mit Worthülsen wie dieser: „Die EU-Bürger sind nur dann sicher vor dem Virus, wenn alle EU-Bürger sicher vor dem Virus sind.“ Dieses Schreiben kam nicht ganz unvermittelt, weil nämlich der Haushaltskontrollausschuss des EU-Parlaments die Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides gewissermaßen vorlud, um endlich Auskunft über die Verwendung der Haushaltsmittel und die Vergabepraxis zu erhalten, was die Kommission bislang ablehnt. Die EU-Kommission finanziert mit 2 Milliarden Euro Steuergeldern eine Impfstoffkampagne vor, weigert sich aber, der Haushaltskontrollbehörde darüber Rechenschaft abzulegen. Das ist mit Blick auf die vertraglich festgelegten Haftungsklauseln ein glatter Rechtsbruch.
Das Superwahljahr 2021 eröffnet auch sonst spannende europäische Perspektiven: Werden die verkehrs- und umweltbewussten Grünen im EU-Parlament die Privatjetaffäre von Ursula von der Leyen aufgreifen, oder überlassen sie diese Oppositionsarbeit lieber der AfD, um die schwarz-grüne Koalitionsoption in Deutschland nicht zu sabotieren? Schließlich muss die Opposition die Doppelmoral der Kommissionspräsidentin aufarbeiten, die darin besteht, den Menschen die Fußfesseln anzulegen, um das Klima zu retten, gleichzeitig aber die Hälfte ihrer Kurzstreckendienstreisen im Privatjet zu verbringen. Wobei sich die Brüsseler Grünen für diese Art Oppositionsarbeit nicht empfehlen: deren eigene Führungsriege schwebt ausgerechnet mit jenen Volvo-XC90-SUV zum Plenum nach Strasbourg, die sie der Bevölkerung am liebsten verbieten würden. Und wird sich der geplante EU-Migrationspakt auch in den Bundestagswahlkampf einladen? Schließlich wurde anlässlich der Annahme des UNO-Migrationspakts immer wieder betont, es handle sich nur um eine symbolische Entschließung ohne bindenden Charakter – der sich gleichwohl in der Brüsseler Vorlage nahezu identisch wiederfindet. Und welche Europa-Abgeordneten werden Strasbourg verlassen zugunsten eines Sitzes im Bundestag?
Das sind einige der Fragen, die man in Brüssel versuchen wird, unter den Teppich zu kehren. Das mediale Corona-Panikorchester wird dabei behilflich sein. Aber vielleicht geht ihm ja bis September die Puste aus.
Bis dahin: Bleiben sie schön negativ!
wünscht Ihnen,
Ihr Junius
Zur Erinnerung: Mehrfach wurden wir gebeten, die Identität des Briefeschreibers aus Brüssel preiszugeben. Es handelt sich um eine Gemeinschaftsarbeit von Informanten und Redaktion. Sie erinnert an die sogenannten Junius letters, in denen ein Pseudonym namens Junius in der Zeitschrift Public Advertiser in London vom 21. Januar 1769 bis zum 12. Mai 1772 Briefe über die Geschehnisse am Hofe und im Parlament veröffentlichte. Darin wurden die Machenschaften in der Königsfamilie, von Ministern, Richtern und Abgeordneten satirisch und mit Sachkenntnis der internen Vorgänge und Intrigen aufgespießt. Die Junius-letters gelten als erster Beleg des journalistischen Zeugnisverweigerungsrechts.
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