Ein unbekanntes Land, Detonation in der Wolfsschanze sowie Heimweh nach der Erde – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
Der Titel „Das Möwennest“ von C.U. Wiesner klingt auf den ersten Blick nicht unbedingt nach einem Krimi. Dabei ist es doch einer. Und was für einer.
Es folgen zwei Science-Fiction-Titel von zwei guten alten Bekannten dieses auch in der DDR gut und gern gelesenen und gern und sehr professionell geschriebenen Genres: „Die Umkehr der Meridian“ von Carlos Rasch und „Antarktis 2020“ von Alexander Kröger – letzterer übrigens in der Originalausgabe von 1973.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. Diesmal geht der Blick weit zurück in die deutsche Vergangenheit, und er hat dennoch viel mit der Gegenwart zu tun. Denn auch in diesen weit zurückliegenden Zeiten ging es um Grundfragen der Menschheit: Wie sieht das Glück der Menschen aus? Wie und auf welche Weise entstehen eigentlich Kriege? Was können die kleinen Leute gegen die Pläne der großen Leute tun? Und alles in einer der zentralen Fragen zusammengenommen: Wie und auf welche Weise können die vielen kleinen Leute den Frieden und das Glück der Völker erzwingen? Aber was kann da schon ein kleiner Schneidergeselle ausrichten, der … Aber lesen Sie doch selbst.
Erstmals 1983 erschien im damaligen VEB Hinstorff Verlag Rostock der Historische Roman „Ich war Ferdinand von Schill“ von Heinz-Jürgen Zierke: Preußen 1806. Die Schlacht bei Jena und Auerstedt ist geschlagen. In Magdeburg sammeln sich Versprengte. Das französische Heer rückt heran. Da macht ein Schneidergeselle – der Zufall ließ ihn an den Rock eines toten Leutnants geraten – sich auf und folgt beherzten Leuten, die nicht einfach kapitulieren wollen vor der Übermacht der Waffen. Und er, eben noch wandernder Handwerksbursche, nimmt die Rolle an, die ihm aufgedrängt wird: Er wird Ferdinand von Schill. In seinem Buch versucht Heinz-Jürgen Zierke – in der Erzählweise anknüpfend an seine erfolgreichen historischen Romane „Nowgorodfahrer“ und „Karl XII.“ -, ein möglichst genaues historisches Bild der Zeit zu zeichnen und einen Schill vorzustellen, der sowohl Patriot ist als auch Mensch sein darf. Hier der Beginn des 2. Kapitels:
„Am Nachmittag des 13. Oktober 1806 stellte eine französische Feldwache unweit von Auerstedt eine männliche Person, die sich durch die französischen Linien geschlichen hatte und im Begriff war, in das Gelände überzuwechseln, das die preußische Armee eingenommen hatte, um Kaiser Napoleon eine Schlacht zu liefern.
Der Mann gab sich als wandernder Schneidergeselle aus, war auch mit einigen Utensilien dieses Gewerbes versehen, mit Schere, Elle, einem Sortiment Nadeln und einigen Knäueln Zwirn, und behauptete, aus Hessen, wo er einige Zeit bei verschiedenen Meistern gearbeitet habe, unterwegs nach seinem Heimatort zu sein, einem Städtchen an der unteren Oder, um dort ein Mädchen zu ehelichen und sich als Meister niederzulassen.
Die französischen Soldaten, Lothringer wohl, waren lange genug durch die italienischen und deutschen Länder gezogen, bis weit nach Istrien und Böhmen hinein; sie kannten die Gepflogenheiten. Der Mann war in dem Alter, in dem der Handwerker gemeinhin längst sesshaft war und sich bei solchem nasskalten Herbstwetter nicht auf endlosen Landstraßen und einsamen Waldwegen herumtrieb, sondern seinen Werktisch näher an den mit Buchenholz geheizten Ofen rückte und sich von seinem Eheweib angewärmtes Bier zur Vespermahlzeit reichen ließ. Wer aber nicht in die Zunft geerbt oder eingeheiratet hatte, also Geselle geblieben war, hauste in dem Alter doch wohl in einer Bude in der Vorstadt oder in einem Keller der Unterstadt, wo die vom Gebären schon welke Hausfrau mit dem ersten halben Dutzend hohlwangiger Kinder am Schürzenzipfel auf den Vater wartete, der vielleicht eine ihm von der Meisterin zugesteckte Brotrinde heimbrachte oder einen verschimmelten Pfennig, den ein mitleidiger Kunde in seine hohle Hand fallen ließ. Also musste dieser Herumtreiber ein feindlicher Kundschafter sein, der mit geübtem Blick Stärke, Bewaffnung und Marschrichtung der Kaiserlichen Armee ausforschte und wohl schon beim Herzog von Braunschweig zum Rapport avisiert war. Überdies sprach der Mann französisch, wenn auch stockend und kehlig. Lernte neuerdings der preußische Straßenpöbel fremde Sprachen? O nein, dies war kein Handwerksbursche. Alles deutete darauf hin, selbst die lebhaften, neugierigen Augen und der strähnige Bart, dass es sich um einen verkleideten Offizier handelte, um ein ganz gefährliches Subjekt also.
Die Chasseurs luden schon die Büchsen, um den Mann kurzerhand zu erschießen, als der Kommandeur entschied, ihn die Nacht über einzusperren. Wenn am Morgen die Ablösung komme, sei er dem Regiment zu übergeben, wo man wohl wissen werde, wie mit einer solchen Person rechtens zu verfahren sei. Das war gut gesagt, doch auf dem elenden Gehöft fand sich kein Arrestlokal, nicht einmal ein Keller. Also sperrte man ihn in den nächstbesten Heustall, hieß ihn sich bis aufs Hemd ausziehen, schloss die knarrende Tür, blockierte den Riegel mit einem eingeschlagenen Hufnagel und stellte einen Posten davor. Bei diesem Hundewetter, so meinte man, renne kein nackter Mensch, und schon gar kein gebildeter, in das unwirtliche Dunkel; das wäre ja der sichere Tod. Drinnen könnte er sich ins Heu graben und warm und wohlbehalten die Nacht überstehen. Jedermann hängt doch am Leben, nicht wahr, und wenn’s für ein paar Stunden ist.
So dachten die Messieurs, weil sie ihren Gefangenen nicht kannten. Der — Sie ahnen jetzt natürlich, wer unser Mann ist — wusste aus Erfahrung, dass Unschuldsbeteuerungen die denkbar schlechtesten Beweismittel sind. Da er aber über keine anderen verfügte, hielt er es für besser, die Untersuchung nicht abzuwarten. Robert, sagte er zu sich selbst, wenn schon gestorben sein soll, dann kommt es auf die Art und Weise nicht an und auch nicht auf den Zeitpunkt. Ob durch das Erschießungskommando, die Kugel des Wachtpostens oder durch ein hitziges Fieber, wenn du in die kalte, triefendnasse Nacht hinausläufst …
Als er sich an das Halbdunkel gewöhnt hatte, stellte er fest, dass die äußere Seitenwand seines Kerkers aus Schalbrettern bestand, die gegen dürre, schon vom Holzwurm zerfressene Querstangen genagelt waren. Ein kräftiger Ruck mit der Schulter, und sie gaben den Weg in die Freiheit frei. Nein, das Krachen würde den Posten alarmieren.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters.
Erstmals 1979 veröffentlichte C. U. Wiesner in der renommierten DIE-Reihe (Delikte, Indizien, Ermittlungen) des Verlags Das Neue Berlin seinen Kriminalroman „Das Möwennest“: Als 45. Folge der erfolgreichen TV-Krimiserie „Polizeiruf 110“ drehte Regisseur Manfred Mosblech 1976 auf der Insel Hiddensee mit der Stammbesetzung Peter Borgelt als Oberleutnant Peter Fuchs, Sigrid Göhler als Leutnant Vera Arndt und Jürgen Zartmann als Unterleutnant Gustav Stresow sowie weiteren prominenten Schauspielern wie Fred Düren (Dr. Rudolf Boelsen), Helga Piur (Ilse „Ilsing“ Boelsen) und Otto Mellies (Prof. Siegfried Preckwinkel) nach dem Drehbuch von C. U. Wiesner die Episode „Kollision“, die ein Jahr später im DDR-Fernsehen gezeigt wurde. Die bald danach erwarteten Wiederholungen blieben diesmal jedoch merkwürdigerweise aus, weil – wie man dem Autor kundtat – das Filmmaterial zu heftige Farbschwankungen aufweise.
Als dieser Film, in dem übrigens in weiten Teilen Plattdeutsch gesprochen wird, nach 1990 immer mal wieder gesendet wurde, schienen die Farben allerdings noch recht ansehnlich. Also daran kann es damals nicht gelegen haben. Die Anregung zu dem Stoff hatte Wiesner durch seinen Schulfreund Dr. Werner H. bekommen, der als Biochemiker an der Krebsforschung in Berlin-Buch arbeitete. Er war dabei auf einen bemerkenswerten Seitenweg gestoßen, ein Verfahren, das der DDR, wäre es zu Ende entwickelt worden, wissenschaftlichen Ruhm und obendrein Devisen eingebracht hätte. Indessen untersagte der Genosse Professor dem parteilosen Wissenschaftler jegliche Weiterarbeit an dem Projekt. Den Ruhm konnten später amerikanische Kollegen einheimsen, die dem Thema parallel auf der Spur gewesen waren.
Möwen greifen nur den an, der ihr Nest gefährdet. In unserer Geschichte bestiehlt ein Professor sogar seinen Mitarbeiter und bringt ihn so um seinen Erfolg. Zwei Jahre später konnte Wiesner im Verlag Neues Berlin in seinem Kriminalroman „Das Möwennest“ den Stoff noch einmal aufgreifen. Zwar hatte es zuvor im Lektorat harte Debatten um einige ideologisch nicht genehme Passagen gegeben, aber es ist eine üble Legende, dass sich der Autor zu DDR-Zeiten allen Zwängen beugen musste.
Obwohl sie nicht namentlich genannt wird, ist dieses Buch auch eine Liebeserklärung an die Insel Hiddensee, auf der Wiesner viele Sommer verbracht hat. 1983 veröffentlichte der Rowohlt Verlag Hamburg in seiner Reihe „rororothriller“ eine Lizenzausgabe dieses Buches. Herausgeber Robert K. Flesch antwortete damals auf die Frage, warum seine Wahl unter den vielen Titeln der DIE-Reihe ausgerechnet auf diesen Titel gefallen sei: „An Ihrem Buch“, gab er dem Autor zur Antwort, „hat mir gefallen, dass Sie darin liebevoll und dennoch kritisch von einem Land erzählen, das wir viel zu wenig kennen.“
Und mit einer bemerkenswerten Vorbemerkung des Autors und Kochkünstlers beginnt dieses bemerkenswerte Buch:
„Zumindest alle unsympathischen Personen dieses Buches sind fast frei erfunden. Die Ähnlichkeit der Landschaft mit einer tatsächlich auf unseren Karten eingezeichneten lässt sich vermutlich nicht von der Hand weisen. Auf einen Streit mit Geografen möchte es der Autor jedoch nicht ankommen lassen, denn selbst in Kreuzworträtseln pflegt er zu mogeln, wenn nach Flüssen oder gar nach Inseln gefragt wird.
- U. Wiesner
- Kapitel
Der Hecht wog reichlich sieben Pfund, und da fehlten ihm schon der Kopf, die Flossen, der Schwanz und die Eingeweide. Ich wusch ihn unter fließendem Wasser und trocknete ihn mit einem Tuch ab. Nachdem ich das Fleisch mit einem scharfen Sägemesser in Portionsstücke zertrennt hatte, beträufelte ich es mit Zitronensaft und rieb es mit Salz ein.
Über der Propangasflamme zerließ ich Schweineschmalz in einem Tiegel, schmorte darin ein Gemengsel aus Zwiebelringen, dünnen Klarapfelscheiben, Möhrenstiften und Tomatenvierteln, füllte mit saurer Sahne auf, würzte mit Pfeffer, edelsüßem Paprika, Thymian und gestoßenem Koriander. Dann gab ich den Hecht — zu meinem Kummer blieben drei Stücke übrig — in den Tiegel und ließ ihn bei geschlossenem Deckel gar dünsten.
Inzwischen wiegte ich Petersilie, Dill und Sellerieblätter. Die Kartoffeln auf der zweiten Flamme begannen zu kochen, als ich mit dem Messer Butterflöckchen auf dem Fisch verteilte und fünf gequirlte Eigelb darüber goss.
Ich öffnete eine Flasche Lindenblättrigen und überlegte mir, wie ich das soeben komponierte Gericht wohl nennen sollte, wenn ich meine Nachbarn bewirtete. Ich musste sie ja bewirten, mir blieb nichts weiter übrig. Was sollte ich allein mit so viel Ostseehecht anfangen?
Seit vielen Jahren leide ich unter einem mir selber unerklärlichen Zwang: An keinem Fischgeschäft kann ich vorübergehen, ohne solche Käufe zu tätigen, die Helga in den ersten Jahren zu unsachlichem Gezeter, später nur noch zu einem hilflosen Seufzen veranlassten.
Diesmal war Helga nicht dabei, und auf der Insel packt mich stets eine besondere Maßlosigkeit. Ich rechtfertige sie damit, dass hier der Fisch viel frischer und daher wohlschmeckender ist als der im Binnenland.
Am Hafen von Ahlhöft — das ist der Hauptort der Insel — hatte ich außer besagtem Hecht vier dicke Räucherflundern, ein halbes Pfund Sprotten (für den ersten Hunger während der Hechtzubereitung) und zwei Kilo Salzheringe erstanden, die ich in den nächsten Tagen zu marinieren gedachte. Überdies ließ ich die Fischverkäuferin wissen, dass ich ihr gern ein paar Steinbutte abnehmen würde, falls welche angelandet werden sollten.
Hinter der Düne, schräg über Preckwinkels Schilfdach, kroch nach heißen Tages Anstrengung die Sonne mit rot verschwitztem Gesicht in ihr graubarchentes Wolkenbett. Ich trat vor die Tür meines Häuschens und läutete die Schiffsglocke. Es ist keine echte. Helga hat sie in einem Leipziger Kunstgewerbeladen erstanden, und ich werde es wohl nicht mehr erleben, dass sich das blanke Messingding mit Patina bedeckt.
Die Nachbarn kennen das Signal, das nichts anderes bedeutet als: Marcus Bockmühl leidet wieder mal am Fischüberfluss, und zu trinken hat er auch genug im Kühlschrank. Vorsichtshalber, damit ich nicht allein prassen muss, kündige ich so ein Ereignis schon immer am zeitigen Nachmittag an.
Als erster kam Willi Kuhle herüber. Er sah ungewöhnlich ernst aus. „Du, Mark“, sagte er, „am Binsenort hamse ’n Toten jefunden.“
„Ertrunken?“, fragte ich.
Er zuckte die Schultern. „Ick weeß nich. Irjendwat muss da faul sein. Der Scheriff“ — er meinte unseren ABV, den Leutnant Stresow,— „hat mit zwei Polizeihelfern die Stelle abjesperrt.“
Der Hecht, gedünstet, nach Bornholmer Art, so hatte ich ihn getauft, fand an diesem Abend nicht den begeisterten Zuspruch, den er verdient hätte. Die Nachbarn redeten nur über den unheimlichen Fund und ergingen sich in Mutmaßungen.
„Natürlich war es ein Badeunfall“, verkündete mit Bestimmtheit Leopold Hottenrodt, seines Zeichens Schauspieler und Regisseur an den Städtischen Bühnen Mackenwalde, „was denn sonst? Jedes Jahr verlangt die Insel ihr Opfer — leider!“
„Aber der Binsenort“, wandte Margit Kuhle ein, „liegt auf der Boddenseite. Dort badet doch kaum jemand.“
„Na und?“, entgegnete Leopold. „Vor sechs Jahren haben sie dort auch eine Wasserleiche gefunden — nach Wochen.“
„Hör doch auf, Poldi!“, bat seine junge Frau Karla und schob angewidert ihren Teller von sich, aber der große Mime war nicht mehr zu bremsen.
„Der dicke Rackow“, berichtete er weiter, „hat sie mit seinem Pferdewagen ins Dorf fahren müssen. Etwa an den Uhlenfichten kam mir das Gefährt entgegen. Auf einmal scheuten die Pferde, stiegen wiehernd hoch und rasten davon. Ein Bild, sag ich euch, die durchgehenden Gäule, verängstigt durch ihre grässliche Fracht, genau gegen die untergehende Sonne …“
Wir schwiegen, während Leopold sichtlich die Wirkung seiner grandiosen Schilderung genoss. Bis Willi Kuhle trocken bemerkte: „Wenn du da ooch so mit den Armen jefuchtelt hast wie ebent, isset keen Wunder, det die Pferde verrückt jespielt ham.“
Der Schauspieler, wie alle eitlen Menschen nicht sehr schlagfertig, schaute gekränkt drein. Der Appetit war uns allen ohnehin vergangen. Bald saß ich allein mit einem Haufen Abwasch da und trug erst mal die ansehnlichen Reste der Mahlzeit zum Möwenort. Das ist ein winziger Hügel vor meinem Haus, Opferaltar für die gierigen Seevögel, die mir nicht mehr geheuer sind, seit ich einen gewissen amerikanischen Film gesehen habe. Plötzlich werden in einem Küstenort Möwen und anderes Fluggetier auf eine sonderbare Weise aggressiv, fallen schließlich in Scharen über die Menschen her, um sie mit Schnabelhieben zu zerfleischen. Einmal unterhielt ich mich mit Professor Preckwinkel darüber, dessen Steckenpferd die Ornithologie ist.“
Erstmals 1959 erschien im Verlags des Ministeriums für Nationale Verteidigung Berlin – also 15 Jahre nach den tatsächlichen Geschehnissen – die Erzählung „Das Attentat“ von Wolfgang Schreyer: Das E-Book schildert Stauffenbergs heldenhaftes Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944. Spannend und atemberaubend wird die kurze Zeitspanne vom Attentat bis zur Erschießung von Stauffenberg, Haeften, Olbricht und Merz geschildert. Rückblenden zeigen die Haltung und Ziele der in den Putsch verwickelten Offiziere. Im Mittelpunkt steht der verzweifelte, unermüdliche und mutige Kampf Stauffenbergs um das Gelingen des Putsches. Die zweite Erzählung „Tod eines Kanoniers“ spielt am 6. März 1945 in einer Flakbatterie in Frankreich weit hinter der Frontlinie. Hätte der erfolgreiche Putsch am 20. Juli den sinnlosen Tod des jungen Kanoniers verhindern können? Hier ein Auszug aus der Erzählung über das Hitler-Attentat. Er hat schon getan, was er tun musste und will jetzt nur noch ganz schnell weg. Aber da gibt es unerwartete Schwierigkeiten:
„Stauffenberg sieht verstohlen zur Uhr. Er hat die Bombe placiert, jetzt drängt die Zeit. Sechs Minuten sind vergangen, seit er in Keitels Quartier den Zünder eingedrückt hat… Er steht unbeweglich. Nur seine Augen huschen umher. Niemand achtet darauf, dass er zwei-, dreimal zur Uhr geschaut hat. Plötzlich beugt er sich zu dem Obersten, vor dessen Füßen die Tasche steht, und sagt: „Ich erwarte dringend ein Berliner Gespräch. Ich brauche die Angaben zum Vortrag. Das Gespräch ist noch nicht da, ich will schnell erinnern.“
Der Stabsoffizier nickt, Stauffenberg verlässt – von den anderen unbemerkt – den Raum. In der Garderobe setzt er seine Mütze auf, greift nach dem Koppel und hastet aus der Baracke. Ein Feldwebel vom Fernsprechdienst sieht ihm verwundert nach. Noch drei Minuten! Nach hundert Schritten erreicht er den Sperrkreis I, zeigt seinen Sonderausweis mit der Unterschrift des Leibwächters Rattenhuber und darf das Tor im Maschendraht passieren. Noch zwei Minuten!
Er geht so schnell er kann, laufen darf er nicht. Am Parkplatz wartet Haeften. Der Oberleutnant weiß, was auf dem Spiel steht. Stauffenberg muss heil herauskommen, er wird in Berlin gebraucht. Er muss zwei Rollen spielen. Er hat nicht nur Hitler zu töten, sondern auch den Putsch in der Reichshauptstadt zu organisieren, die alternden Generale Beck, Hoeppner, Olbricht sind hilflos ohne ihn. Stauffenberg muss hier heraus!
Der Oberst springt in den Wagen, ruft dem Fahrer zu: „Zum Flugplatz, so schnell Sie können!“ Noch eine Minute… Der Fahrer drückt auf den Starter, der Motor springt an. Den kürzesten Weg wählt er nicht; sie sind in einer Einbahnstraße, der Wagen beschreibt eine umständliche Schleife, rollt an Dr. Morells Wohnung, Keitels Baracke, Görings Pavillon vorbei, biegt endlich rechts in den Hauptweg ein, der das Lager durchquert und nach Rastenburg führt.
„Schneller, schneller“, drängt Haeften. Seine hellblonden Locken kleben an der Stirn. Aber der Fahrer ist stur. Er gehört zum Stammpersonal des Hauptquartiers. Er weiß, im Sperrkreis II ist schnelles Fahren nicht erlaubt. Er denkt nicht daran, die Vorschrift zu übertreten und womöglich deshalb in Arrest zu gehen.
Als sie am Zementlager sind, ertönt rechts im Wald ein scharfer Knall. Stauffenberg sieht eine Stichflamme hinter der Lagerküche, dann wirft der Wald von allen Seiten das Echo der Detonation zurück. Es riecht nach Pulver. Er hört einen lang gezogenen Schrei: „Sanitäter! Sanitäter!“… Es ist zwölf Uhr zweiundvierzig, sie befinden sich noch hundert Meter vor dem Tor des Sperrkreises II. Verdammt!
Die Torwache besteht aus Offizieren, sie arbeitet präzise. Unmittelbar vor dem Wagen schließt sich die Schranke. Der Posten ruft: „Herr Oberst, da ist etwas geschehen… Niemand darf durch!“
Stauffenberg springt heraus, tritt auf den wachhabenden Leutnant zu und sagt im Befehlston: „Ich bin Oberst Stauffenberg. Auf dem Flugplatz wartet Generaloberst Fromm auf mich. Ich bin außerordentlich in Eile. Lassen Sie mich telefonieren.“ Er wählt selbst, spricht kurz, legt auf und sagt: „Herr Leutnant, ich darf passieren.“
„Darf passieren“, schreit der Leutnant zu seinem Torposten hinüber. Er steht stramm und grüßt, während der ihm unbekannte Oberst einsteigt, davonfährt… Im Wachbuch vermerkt er mit preußischer Exaktheit: „12.44 Uhr Oberst Stauffenberg passiert.“
Von der Offizierswache bis zum Tor III sind es dreieinhalb Kilometer. Durch Haeften dazu getrieben, tritt der Fahrer das Gaspedal ganz durch. Die Reifen singen auf der Betonbahn. Dann kreischen sie auf: Der Wagen bremst, auch das Außentor ist gesperrt. Fünf Minuten nach der Detonation ist auch der äußerste Gürtel der Wolfsschanze in vollem Alarmzustand. Mit Handgranaten und Maschinenpistolen bewaffnete Doppelposten sind aufgezogen. Spanische Reiter blockieren die Straße.
„Zum Flugplatz“, ruft der Oberst, er klettert aus dem Sitz. „Donnerwetter, machen Sie auf! Nehmen Sie das weg!“
Doch nichts geschieht. Wachdienst hat hier ein erfahrener Oberfeldwebel, er lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Herumbrüllende Offiziere imponieren ihm nicht, im Gegenteil. Er lässt sie gern ein bisschen zappeln, wenn er sich im Recht weiß; und jetzt ist er im Recht. Er legt die Hand an den Stahlhelmrand: „Ich bitte Herrn Oberst um Verzeihung, aber ich darf niemanden durchlassen, bevor ich nicht den Befehl des Lagerkommandanten oder Gewissheit über die Ursache der Detonation habe.“
„Lassen Sie mich telefonieren“, befiehlt der Oberst kurz.
Der Oberfeldwebel verbindet ihn mit der Adjutantur. Rittmeister von Möllendorf meldet sich. – „Hier Oberst Graf Stauffenberg am Osttor. Sie entsinnen sich, wir frühstückten heute morgen zusammen, Herr Rittmeister. Die Wache lässt mich am Osttor wegen der Explosion nicht passieren. Ich bin aber in Eile. Auf dem Flugplatz wartet Generaloberst Fromm auf mich…“ Stauffenberg legt den Hörer auf. „Sie haben gehört, Oberfeldwebel, ich darf passieren.“
Doch der besteht darauf, selbst diese Weisung einzuholen, und bittet, den Adjutanten noch einmal anrufen zu dürfen. Wertvolle Zeit verstreicht. Schließlich kommt Möllendorfs Antwort: „Lassen Sie den Oberst passieren.“
Die Wache schiebt die spanischen Reiter weg; in wilder Fahrt jagt der Wagen in Richtung Flugplatz Rastenburg davon. Haeften presst den gesunden Arm seines Freundes. „Claus…“, vermag er nur zu stammeln.
Stauffenberg sagt nichts; er lächelt schwach, etwas verzerrt. Sein bräunliches, männlich schönes Antlitz ist schweißüberströmt. Er ist hindurch. Hitler lebt nicht mehr. Den ersten Teil seiner großen Aufgabe hat er gelöst.“
Genau 266 Jahre liegen zwischen dem Handlungszeitraum und der Ersterscheinung von „Die Umkehr der Meridian. Raumfahrterzählung aus dem Jahre 2232“ von Carlos Rasch, die erstmals 1966 im Deutschen Militärverlag Berlin veröffentlicht wurde: Carlos Rasch wurde am 6. April 1932 in Curitiba unweit von Sao Paulo und dem Kaffeehafen Santos im brasilianischen Hochland von Parana geboren. Seine Eltern, aus Ostpreußen und aus der Magdeburger Börde stammend, kehrten 1938 nach Deutschland zurück. Nach seiner Schulzeit in Ostpreußen lernte Rasch in Köthen Dreher, arbeitete aber schon ab 1951 in Berlin als Reporter und Redakteur in der DDR-Nachrichtenagentur ADN (Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst). In diese Zeit als Reporter fallen seine ersten fantastischen Werke. Er lebte seit 1963 in Falkensee, einem Ort nahe Berlin, ehe er 2000 nach Brieselang bei Nauen zog. Er hat drei Kinder und fünf Enkel.
Seit 1960 ist er schriftstellerisch tätig, seit 1965 als freier Schriftsteller. In Deutschland und dem angrenzendem Ausland veröffentlichte er mehrere utopische Bücher, darunter auch Kinderbuchtexte, zusammen etwa 50 Auflagen mit 1,5 Millionen Exemplaren. Er hielt über 1 200 Lesungen in Schulen, Kindergärten, Jugendklubs und Buchhandlungen sowie in Gewerkschafts- und Stadtbibliotheken. Nach 1990 war Carlos Rasch für die Märkische Allgemeine Potsdam, einem Imprint der Frankfurter Allgemeinen, als fest eingestellter Redakteur tätig. Er verfasste über 3 000 Artikel, Porträts und Gerichtsberichte zu den Anpassungswehen Ostdeutschlands an die Bundesrepublik.
Raschs wichtigste Titel sind die Bücher „Asteroidenjäger“ (1961) mit 148 000 Exemplaren, „Der blaue Planet“ (1963) mit 260 000 Exemplaren, „Krakentang“ (1968) mit 110 000 Exemplaren und „Magma am Himmel“ (1975) mit 80 000 Exemplaren. Hinzu kommen noch 1967 die beiden Kinderbücher „Mobbi Weißbauch“ und 1988 „Der verlorene Glühstein“.
Sein Buch „Asteroidenjäger“ war auch Vorlage zu dem in deutsch-polnischer Koproduktion gedrehten DEFA-Film „Signale – Ein Weltraumabenteuer“ (Regie: Gottfried Kolditz), der noch 2001 in Minnesota (USA), in Bradford (England) und in Berlin Sondervorführungen erlebte. Das Fernsehen der DDR übertrug dem Autor 1973 mehrere Folgen der Serie „Raumlotsen“, die dann aber wegen des hohen Modellaufwandes nicht in Produktion ging. Rasch hat diese Szenarien in die Erzählungen „Absturz beim Prüfungsflug“, „Raumstation auf Taumelkurs“, „Verwirrung im Orbit“ und „Tödliche Heimkehr zur Erde“ sowie „Aktion Meteorstop“, und „Mondmetall“ umgewandelt.
RAUMLOTSEN erschien schließlich 2009 bis 2011 als vierbändige Ausgabe zusammen mit 19 weiteren Geschichten beim Projekte-Verlag in Halle (Saale). Statt eines Nachwortes versah Carlos Rasch jeden Band mit einem „Plädoyer für Utopia“. Und jetzt bitte anschnallen. Es geht los:
„1. Kapitel
Suko Susako, der Triebwerksingenieur, wollte eigentlich den Uranbedarf der Meiler und den zusammengeschrumpften Vorrat an Wasserstoff in den Tanks nachrechnen. Er saß aber nur da und blickte grübelnd vor sich hin.
Wann endlich würde sich Arkadi Arsuk für einen neuen Kurs entschließen, für eine Bahn, die schnell in die Geborgenheit der Erde führte?
Die „Meridian“ hatte sich schon über sechs Milliarden Kilometer von der Sonne entfernt. Solche Strecken hatte bisher noch kein anderes Raumschiff zurückgelegt. Der Auftrag war erfüllt. Hatte es da Sinn, noch weiter in das All hinauszufliegen? Wollte Arkadi Arsuk noch mehr Ruhm einheimsen?
Ich mache da nicht mehr mit, dachte Suko Susako. Ärgerlich sah er zu Tete Thysenow hinüber, der auch jetzt noch mit großer Ruhe an seinen Instrumenten saß, Notizen im Elektronenhirn speicherte und Messkurven verglich.
„Wenn es keinen Kosmos gäbe, würdest du ihn bestimmt erfinden“, murmelte der Ingenieur.
Der junge Wissenschaftler sah auf und blickte ihn fragend an.
„Ja, du hast richtig gehört, Te Thys. Dein Forscherdrang ist geradezu anormal. Du sehnst dich, scheint mir, gar nicht zur Erde zurück. Weißt du überhaupt noch, wie ein Baum, eine Wolke, ein Grashalm aussieht? In deinem Kopf haben nur Zahlen und Messkurven Platz. Und existieren No Lybia, ich und Ak Arsuk überhaupt für dich?“ Die letzten Worte klangen ungehalten.
Es war hauptsächlich Tete Thysenows Verdienst gewesen, dass man die Kometenwolke gefunden hatte. Die Aufmerksamkeit, mit der er die Skalen und Schirme seiner Geräte beobachtete, war nahezu sprichwörtlich. Winzige Anzeichen hatten ihm genügt, sie richtig zu deuten und der Kometenwolke auf die Spur zu kommen.
„Du übertreibst, Suko“, sagte der Wissenschaftler, an Bord kurz Te Thys genannt. „Man muss von der Erde träumen können, ohne ungeduldig zu werden. Sei nicht so ungehalten. Wir sehnen uns alle nach der Erde zurück; du nach den Meeresfarmen vor der Kyushuküste, No Lybia nach den Saharawäldern, Arkadi nach den sibirischen Heißwasserfällen und ich …“ Tete Thysenow brach ab und seufzte. „Du machst uns das Leben hier draußen im Kosmos nur unnötig schwer, wenn du immer wieder Bilder von der Erde herbeibeschwörst.“
In diesem Augenblick hielt leise summend der Lift. Die Pneumatür öffnete sich, leise fauchend. No Lybia kam in die Steuerzentrale. Sie war vor Freude ganz aufgeregt, ging schnell auf Tete Thysenow zu und rief: „Es geht nach Hause! Wir nehmen Wendekurs! Ak Arsuk hat eben die Berechnungen dazu abgeschlossen!“ Sie packte Tete Thysenow an den Schultern und rüttelte ihn, als wolle sie einen Schlafenden wecken. „Te Thys, Te Thys!“, stieß sie atemlos hervor. „Wir werden heute noch die Sonne auf dem Bugschirm sehen! Endlich wieder die Sonne auf dem Bugschirm!“
Suko Susako trat neugierig heran. Seine eben noch gerunzelte Stirn glättete sich. Er begann sogar, ein Liedchen vor sich hin zu pfeifen.
Da meldete sich auch schon aus dem Lautsprecher Arkadi Arsuk: „Hier Kommandant! Bereitet die Umkehr vor! Suko Susako, überprüfe du die Meiler und das Triebwerk. Und du, Nomisera Lybia, sende den Funkspruch an die Erde ab. In fünf Minuten beginnt das Steuermanöver für die Wendekehre. Ich komme gleich mit dem neuen Lenkprogramm.“
No Lybia ging aufgeregt und voller Freude in der Steuerzentrale umher. „Te Thys! Te Thys! Bald wird die Sonne auf dem großen Sichtschirm erscheinen. Pass auf, sieh hin! Wir haben sie dort lange nicht gesehen.“
Auch Suko Susako warf seinen Frequenzstift fröhlich in die Luft, fing ihn auf und machte einen dicken Strich durch die Treibstoffberechnungen auf seiner Magnetkarte. Dann rieb er sich mehrmals die Hände und machte sich an seinem Düsen- und Meilerpult zu schaffen.
„Seit wann geratet ihr beide so leicht außer Rand und Band?“, fragte Tete Thysenow amüsiert.
„Ach, du“, sagte Suko Susako, „für dich wird die Sonne auf dem Bugschirm natürlich genauso rund und hell sein wie jetzt auf dem Heckschirm. Ich weiß, du verschwendest deine Gefühle nicht unnötig. Du bleibst kühl und sachlich wie eine Rechenmaschine. Deine Messungen sind dir wichtiger als die kleine, ferne Sonne.“
„Du bist ungerecht, Suko“, sagte No Lybia. „Ob du gut gestimmt bist oder schlecht, immer hast du etwas an Te Thys auszusetzen.“
„Stimmt“, gab Suko Susako zu.
„Das nehme ich ihm nicht übel. Lass ihn reden.“ Tete Thysenow winkte gutmütig ab. „Wie ich sehe, ist er jetzt wieder obenauf, und das ist die Hauptsache. Vorhin war er nämlich ganz missmutig, richtig niedergeschlagen.“
„Aber, aber! Suko ist doch immer obenauf und nie missmutig“, sagte No Lybia.
Sie war Ärztin und wusste nur zu gut, wie es um Susako bestellt war: Er zeigte sich der Stille, der Schwärze und der Bodenlosigkeit ringsherum in letzter Zeit immer weniger gewachsen. Das waren die ersten Anzeichen einer Akrophobie, der Raum- angst. Die große Entfernung von der Erde zerrte offenbar an seinen Nerven am meisten. Eben deshalb versuchte sie, ihm den Missmut auszureden.
„Obenauf?“, bezweifelte Susako. „Das ist zuviel gesagt. Ich werde mich erst wohlfühlen, wenn wir festen Erdboden unter den Füßen haben.“
„Lass das bloß nicht die Raumfahrtpsychologen hören, wenn wir wieder auf der Erde angekommen sind. Sonst kannst du höchstens noch in Port Luna Dienst tun“, sagte Tete Thysenow ironisch. „Es klang fast so, als hättest du Erdweh.“
„Ja, Erdweh!“ Suko Susako lachte kurz und trocken auf. „Wer hat, wenn er normal ist, kein Erdweh? Ein Raumfahrer ohne etwas Erdweh ist kein Raumfahrer. Ist es nicht so? Ich jedenfalls brenne darauf, wieder auf der Erde zu sein. Im Augenblick würde ich sogar mit einem Wilden aus der Steinzeit tauschen, wenn ich dafür sofort auf die Erde zurückversetzt werden könnte. In letzter Zeit ist es mir hier draußen im Kosmos sehr unbehaglich zumute geworden“, sagte der Ingenieur.
No Lybia lächelte verständnisvoll. „Der Mensch fliegt dem Kosmos in die Arme, aber sein Herz bleibt auf der Erde; jetzt sei aber still“, fügte sie energisch hinzu. „Man soll hier draußen im All nicht so viel von der Erde sprechen.“
Suko Susako lachte spöttisch. „Sieh da. Entweder du hast auch Heimweh nach der Erde, oder du bist abergläubisch. Fürchtest du, dass man, wenn man hier im Kosmos von der Erde spricht, den ,Kosmonautermann‘ herbeibeschwört?“, versuchte er zu scherzen. „Pass auf, er wird gleich mit einem Knöchelchen aus Meteoriten an die Bordwand klopfen.“
No Lybia hob in komischer Verzweiflung erschrocken und abwehrend die Hand.“
Erstmals 1973 legte Alexander Kröger als Band 119 der beliebten Reihe „Spannend erzählt“ des Verlages Neues Leben Berlin seinen Wissenschaftlich-fantastischenr Roman „Antarktis 2020“ vor. Dem E-Book liegt die Originalausgabe dieses Buches aus dem Jahre 1973 zugrunde: Praktikum im Jahr 2020. Als Thomas Monig, Absolvent der Bergakademie Freiberg, das Flugzeug besteigt, denkt er an die drei Einsatzorte: an das Großbergwerk in der Antarktis, die Meerwasser-Enterzungsanlage in der Südsee und das Bewässerungsprojekt Sahara. Er denkt an modernste Lasertechnik, blühende Städte im Eis, an erzsammelnde Mollusken im Ozean, Riesenbagger in der Wüste und an das büschelige Schnellwuchsgras, das bald den Sand bedecken soll. Noch weiß er nicht, dass nicht nur das Abenteuer Technik auf ihn wartet. In der Weißen Finsternis und im Schneesturm bei der Rettung eines Kollegen wird er sich ebenso bewähren müssen wie beim Streik der ehemaligen Soldaten in den Unterwasserfarmen, bei dem er und der hübsche Kapitän Ann von Mike Paterthick gekidnappt und von den Wasseratmern gesucht werden. Der Überfall der Tuareg auf die Baustelle, die Geschichte mit René Tours´ Freundin und der verderbenbringende Wassereinbruch lassen auch den Aufenthalt in der Sahara zu einer aufregenden Sache werden, und es ist gar nicht so gewiss, ob Thomas Monig rechtzeitig in Timbuktu sein kann, um Evelyn vom Flugplatz abzuholen.
Thomas wird mit den unbegrenzten Möglichkeiten konfrontiert, die eine globale Abrüstung bietet, aber auch mit den Problemen für die davon Betroffenen. Alexander Krögers, im Jahre 1973 vorgedachte Vision von einer friedlichen, abgerüsteten Welt im Jahre 2020 war zu kurz gegriffen; dennoch haben seine Denkanstöße in unserer Gegenwart mehr denn je ihre Gültigkeit. Hier ein ausführlicher Auszug aus dem zweiten Kapitel, zu dessen Beginn Thomas über sich selbst nachdenkt:
„Im Grunde genommen war es wieder mal meine verflixte, gelinde gesagt, Schwäche, nicht nein sagen zu können, ärgerte sich Thomas. Er saß im Flugzeug und hatte Zeit, erneut seine Lage zu bedenken.
Er hat mich ganz schön abfahren lassen, der Kollege Staatssekretär Mattau, seines Zeichens Direktor für Technik.
Thomas gestand sich ein, dass er den Schlag mit dem Praktikum noch nicht überwunden hatte. Im Gegenteil!
Evelyns Reaktion, ihr Verständnis für die Ansichten Mattaus, hatte ihn derart geschockt, dass er mehr als einmal mit dem Gedanken gespielt hatte, seine Zusage zu widerrufen.
Er hätte sich nie träumen lassen, dass Evelyn ihn so einschätzte. Sie urteilte härter als Mattau. Was jener zurückhaltend als charakterliche Festigung bezeichnete, präzisierte sie als notwendige Überwindung von „Arroganz“, „Überheblichkeit“ und „Egoismus“. Und mit dieser Frau wollte ich mich ein Leben lang zusammentun! Tja, mein lieber Tom, da dachtest du: eine bequeme Stelle in der Berliner Kombinatsleitung, täglich ein paar Stunden arbeiten, Exkursionen, dazu eine Wohnung in wasserreicher Umgebung …
Nun, wenn Mattau meine Nase nicht passt, ist nichts zu machen. Zugegeben, sie ist ein wenig kartoffelig … Bei dem Gedanken lächelte Thomas unwillkürlich. Und dann sah er auf wie ertappt. Schließlich war es mit der Würde eines angehenden Wissenschaftlers in einer Mission wie der seinen unvereinbar, einfältig vor sich hin zu lächeln.
Alle Wetter, wirklich hübsch! Endlich ein Lichtblick.
Der Anblick seines Gegenübers versöhnte ihn mit seinem Platz. Gleich nach dem Einsteigen hatte er sich geärgert, weil er über der Tragfläche sitzen musste. Bei seinem Pech hatte er eigentlich einen mürrisch dreinschauenden Reisegefährten erwartet, um in dem Gefühl, alle Welt habe sich gegen ihn verschworen, richtig weiterschwelgen zu können.
Er schaute scheinbar gleichgültig auf die Tragfläche, nahm, angeregt durch die blendenden Reflexe des blanken Metalls, seine dunkle Brille, pustete ein Stäubchen von den Gläsern, schob sie auf die Nase und blickte wieder verstohlen zu seiner Reisegefährtin. Sie hatte unterdessen eine satirische Zeitschrift aufgeschlagen und verdeckte damit die Partien, denen Monig jetzt, im Schutze der Sonnenbrille, mit Ruhe seine Aufmerksamkeit widmen wollte.
Er kannte das Heft und fand die meisten Beiträge ziemlich fad. Also würde ihre Lektüre, hatte sie einen ähnlichen Geschmack, nicht von langer Dauer sein.
Der Automat kam Thomas zu Hilfe. Er warf die unvermeidlichen Bonbons in die Schalen am Sitz, und der Bildschirm mahnte in vier Sprachen mit einem aufdringlichen Summton, sich auf den Start vorzubereiten. Altmodische Angelegenheit, dachte Thomas.
Die Zeitschrift sank, und bei Monigs Gegenüber zeigten sich glücklicherweise Schwierigkeiten beim Schließen des Sicherheitsgurts. Der automatische Verschluss hatte einen überdimensionalen Zierknopf ihres Kleides eingeklemmt.
Er ergriff die Gelegenheit. „Darf ich?“, fragte er und fasste schon zu.
„Das ist in jedem Flugzeug anders“, sagte sie, ihr Ungeschick gleichsam entschuldigend.
Aha, so oft ist sie noch nicht geflogen, folgerte Thomas. „Ja“, sagte er klug, „es wäre an der Zeit, auch solche Kleinigkeiten international zu standardisieren.“
Der Bordfunk flüsterte den Reisenden den Wetterbericht ins Ohr und wies darauf hin, dass ausnahmsweise heute der Flug länger in unteren Atmosphärenschichten erfolgen müsse. Der Sprecher gab einen diskreten Hinweis, dass sich die imprägnierten Tüten in den Seitentaschen der Sitze befänden.
„Die brauche ich nicht“, sagte Thomas erhaben zu seinem Gegenüber.
Sie lächelte besserwissend, hatte er den Eindruck. Aber was sie sicher nicht wusste war, dass er vor dem Einsteigen verstohlen zwei Pillen geschluckt hatte – gegen die Flugkrankheit.
Thomas schien, sie war blasser geworden. „Haben Sie Bedenken?“, fragte er.
„Leider Erfahrungen“, antwortete sie.
Thomas wurde großmütig und vertraute ihr neben seinem Geheimnis zwei seiner kostbaren Pillen an. Sie nahm sie skeptisch und schluckte sie hoffend.
Das Eis war gebrochen.
„Thomas Monig“, stellte er sich vor.
„Kavor, Evelyn“, erwiderte sie zögernd.
Zweimal in meiner Umgebung dieser schrecklich antiquierte Vorname, dachte er belustigt. Ev, was wird sie jetzt machen? Der Abschied war kühl gewesen. Kein Wunder, nach der Auseinandersetzung. Warum war sie auch so heftig? Sie musste doch merken, dass ich eingelenkt habe – schon allein, weil ich nun zur Antarktis fliege, auch wenn ich nicht überzeugt bin, dass das Praktikum für mich so unbedingt notwendig ist.
Ich werde ihr schreiben, sobald sich eine Gelegenheit ergibt, nahm Thomas sich vor.
„Bleiben Sie in Moskau?“, fragte er.
„Nein, ich fliege weiter nach dem Süden, übermorgen.“
„Darf ich fragen, wohin?“ Thomas wurde hellhörig.
„Erst nach Kapstadt“, antwortete sie bereitwillig. „Mir graust vor der Fliegerei.“
„Das finde ich aber merkwürdig“, rief Thomas. „Dorthin muss ich nämlich auch, offenbar mit der gleichen Maschine. Die Linie wird doch nur zweimal in der Woche beflogen. Nun sagen sie bloß noch, Sie wollen nach Mirny!“
„Ja“, bestätigte sie überrascht.
Thomas brauchte einige Augenblicke der Sammlung und lehnte sich kopfschüttelnd zurück. Da glaubte er, ihr mit seinem Flug in die Antarktis mächtig imponieren zu können, und nun das!
Aber näher betrachtet, ist der Zufall nicht so groß, überlegte er. Wer nach Mirny will und in Moskau noch die üblichen Formalitäten zu erledigen hat, der muss dieser Tage fliegen, um in Kapstadt den planmäßigen Anschluss zu bekommen. Zufall ist, dass wir im gleichen Flugzeug sind und uns gegenübersitzen. Sicher werden sich in Moskau noch einige Antarktisfahrer zu uns gesellen.
Im Augenblick war er mit seinem Geschick zufrieden. Die „andere Evelyn“, wie er sie bei sich zu nennen beschloss, gefiel ihm. Sie hatte eine angenehme dunkle Stimme und sehr ebenmäßige weiße Zähne, Merkmale, die bei ihm immer Sympathie auslösten. Sie war groß, trug die Haare extrem kurz geschnitten.
Thomas sah so unauffällig wie möglich nach ihren Augen. Richtig. Sie gaben dem Gesicht diesen eigenartigen Reiz. Sie waren hellgraublau, ein seltener Kontrast zum fast schwarzen Haar. Ihr Gesicht war nicht eigentlich hübsch. Die Nase vielleicht eine Idee zu kurz, die Jochbeine ein wenig zu ausgeprägt. Aber der Reiz, der von diesen Augen ausging …
Hier hast du keine Chance, Tom, sagte er sich. Er gab sich dennoch einen innerlichen Ruck und zog seinen Bauch ein, der als zwar kleine, aber immerhin sichtbare Wulst über der Hose unter dem hochgeschobenen Jumper hervorlugte. Der Gedanke an seine im Anfangsstadium stehende natürliche Tonsur und die chronischen Augenschatten war auch nicht gerade erfreulich. Sie ist fast ein Jahrzehnt jünger als ich, neunzehn bis zweiundzwanzig, schätzte er. Also, mein Lieber, nicht die geringsten Chancen.
Eine angenehme, sehr angenehme Reisegesellschaft, stellte er fest. Und das Bedürfnis, gleich nach der Ankunft Ev zu schreiben, war gar nicht mehr so dringlich. Aus seinen Gedanken gerissen wurde er durch das Aufdonnern der Strahltriebwerke.
„Es geht los“, rief er überflüssigerweise.“
Das Flugzeug rollte langsam, erschütterungsfrei in die Startposition. Die andere Evelyn bemühte sich von ihrem Platz aus, der genauso ungünstig war wie der seine, etwas von draußen zu sehen.“
Ob er wohl etwas später mehr zu sehen bekommt? Was er sich wünscht, das wissen wir jetzt immerhin. Wie es weitergeht, das soll dem Selber-Lesen vorbehalten bleiben. Selbiges gilt auch für die anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters und für das Nachdenken über die darin enthaltenen Utopien und Gedankenexperimente wie jenes, was wäre gewesen, wenn das Attentat auf Hitler geglückt wäre …
Wie hätte sich die Nachkriegsgeschichte weiter gestaltet? Welche Rolle hätten Stauffenberg und seine Mitverschwörer gespielt? Außerdem lösen solche Lektüre-Erlebnisse natürlich auch Fragen danach aus, wie man selbst in derartigen historischen Situationen gedacht und gehandelt hätte?
Viel Vergnügen mein Lesen und Nachdenken, beim Lesen und Träumen und Utopieren sowie weiter eine gute und möglichst Corona-freie Zeit, bleiben auch Sie in diesen schwierigen, teils bedrückenden Zeiten weiter vorsichtig, vor allem aber weiter schön gesund und munter und bis demnächst.
Ach, wissen Sie eigentlich noch, was ein ABV war? Und die beiden Buchstaben C.U. des Vornamens von Krimi-Autor Wiesner stehen für Claus Ulrich. Falls Sie mal danach gefragt werden sollten …
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