Forschung und Entwicklung

Folgenreicher Fehler: Neurale Stammzellen werden durch epigenetische Reprogrammierung zu Treibern kindlicher Hirntumoren

Während der embryonalen Hirnentwicklung durchlaufen neurale Stammzellen eine Reihe streng geregelter Entwicklungsphasen. Durch eine Mutation in einem Protein, das unser Erbgut ordentlich gefaltet im Zellkern verpackt, wird dieses Timing gestört. Aus frühen Vorläuferzellen können dann besonders aggressive kindliche Hirntumoren, sogenannte Hirnstammgliome entstehen. Die krebstreibenden Eigenschaften erhalten die Zellen durch epigenetische Reprogrammierung, zeigen Wissenschaftler am Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg (KiTZ), des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), des Deutschen Konsortiums für Translationale Krebsforschung (DKTK) und der Stanford University in Kalifornien.

Das "Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg" (KiTZ) ist eine gemeinsame Einrichtung des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), des Universitätsklinikums Heidelberg (UKHD) und der Universität Heidelberg (Uni HD).

Die Abkürzung DIPG steht für "Diffuses intrinsisches Ponsgliom" (Hirnstammgliom) und beschreibt einen seltenen kindlichen Hirntumor, für den es bislang keine Heilung oder eine lebensverbessernde Behandlung gibt. Hirnstammgliome wachsen schnell und aggressiv und können durch Zellwanderung im Gehirn zur raschen Ausbreitung führen. "Die Situation bei Patienten mit Hirnstammgliomen ist immer noch sehr bedrückend", sagt der Direktor des KiTZ Stefan Pfister, der am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) die Abteilung für pädiatrische Neuroonkologie leitet und Oberarzt am Universitätsklinikum Heidelberg (UKHD) ist. "Standardtherapien wie Bestrahlung und Chemotherapie sind hier langfristig nicht wirksam und nach der Diagnose beträgt die mittlere Überlebenszeit leider nur etwa 9 Monate."

Eine Entdeckung, die bereits vor einigen Jahren gemacht wurde, liefert jedoch möglicherweise einen Ansatz für neue Behandlungsmethoden: Fast 80 Prozent der Betroffenen haben einen genetischen Defekt gemeinsam. Das Protein Histon H3.3, das für das Verpacken unseres Erbguts im Zellkern und das Aus- und Anschalten von Genen im gesamten Genom verantwortlich ist, ist im Tumorerbgut dieser Patienten mutiert. An Position 27 der Aminosäurekette wird dabei die Aminosäure Lysin (K) durch ein Methionin (M) ersetzt ("K27M-Mutation").

Ein folgenreicher Austausch für die kindliche Hirnentwicklung: Die Methylierung von K27 ist in Stammzellen u.a. ein wichtiges epigenetisches Signal, damit aus ihnen gesunde Nervenzellen werden können. An die Aminosäure Methionin können jedoch keine Methylgruppen angeheftet werden. Fehlt dieses wichtige Signal, so gerät die Genregulation außer Kontrolle und wichtige Entwicklungsgene sind zum falschen Zeitpunkt aktiv, darunter auch solche, welche die Tumorentstehung begünstigen können.

Aber zu welchem Zeitpunkt bzw. in welchem Vorläuferzelltyp der kindlichen Hirnentwicklung sorgt der Gendefekt dafür, dass Tumoren entstehen und wie kann man auf diesen Prozess einwirken? "Bei den jungen Patienten treten die Tumoren nur in einem bestimmten Zeitfenster der Entwicklung auf", erläutert der Erstautor der Studie Daniel Haag vom KiTZ und der Stanford University in Kalifornien. "Deshalb haben wir die Folgen der Mutation in unterschiedlichen Vorläufern von Nervenzellen und Stützzellen des Gehirns untersucht, um ein möglicherweise kritisches zelluläres Entwicklungsfenster der Tumorbildung bestimmen zu können."

Für sogenannte induzierte pluripotente Stammzellen (iPSCs), die noch das Potential haben, sich in jede Körperzelle zu entwickeln, ist das Fehlen des Methylierungssignals an K27 so fatal, dass sie diesen Defekt nicht überlebten, so das Ergebnis der Studie. Bei Zellen, die sich bereits zu neuralen Stammzellen (NSC) oder zu Vorläufer-Stützzellen des Gehirns differenziert hatten, beobachteten die Wissenschaftler hingegen eine vermehrte Zellteilung.

Dass die H3K27M-Mutation tatsächlich zur Entstehung der Hirnstammgliome führt und welche Mechanismen dahinterstecken, konnten die Wissenschaftler daraufhin im Labormodell zeigen: In Mäusen mit menschlichen neuralen Stammzellen, in denen sich die K27M-Mutation gezielt anschalten ließ, entstanden nach 20-30 Wochen maligne Hirnstammgliome. Die Tumoren entwickelten sich jedoch nur, wenn gleichzeitig das Tumorsupressorprotein TP53 gentechnisch ausgeschaltet wurde. Weder das Fehlen von TP53, noch die H3K72M-Mutation alleine, hatten diesen Effekt. In weiter ausdifferenzierten Vorläuferzellen löste die Mutation jedoch kein Tumorwachstum aus.

In neuralen Stammzellen bewirkte die K27M-Mutation zudem, dass mehrere, für die Hirnentwicklung entscheidende Gene früher als normalerweise aktiviert wurden. Darunter auch Gene, die für das Wachstum von späteren Vorläuferzellen verantwortlich sind, zeigte die Studie. "Die fehlende H3K27-Methylierung scheint in neuralen Stammzellen das zelluläre Entwicklungsprogramm drastisch zu blockieren und zu reprogrammieren, wie unsere epigenetischen Analysen zeigen", fasst Daniel Haag zusammen. "Sie behalten einerseits ihren Zustand von Stammzellen mit der Fähigkeit zur Selbsterneuerung bei und gleichzeitig wird ein genetisches Programm wie in den späten Vorläuferzellen aktiviert, dass die Zellteilung anregt. Dadurch werden sie zu aggressiv wachsenden Tumorzellen."

Die Wissenschaftler gehen daher davon aus, dass frühe neurale Vorläuferzellen das entscheidende Stadium für die Entstehung von Hirnstammgliomen darstellen. "Durch diese neuen Erkenntnisse steht nun erstmalig ein geeignetes Testsystem zur Verfügung, mit dem wir neue Therapiekonzepte zur Bekämpfung dieser schlimmen Erkrankung auf ihre potentielle Wirksamkeit untersuchen können", sagt Stefan Pfister.

Originalpublikation:
D. Haag et al. The H3.3K27M Mutation Drives Neural Stem Cell-Specific Gliomagenesis in a Human iPSC-Derived Model. In: Cancer Cell (Onlinepublikation 4. Februar 2021). DOI: 10.1016/j.ccell.2021.01.005.

Das Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg (KiTZ)
Das "Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg" (KiTZ) ist eine kinderonkologische Einrichtung des Deutschen Krebsforschungszentrums, des Universitätsklinikums Heidelberg und der Universität Heidelberg. Wie das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg, das sich auf Erwachsenenonkologie konzentriert, orientiert sich das KiTZ in Art und Aufbau am US-amerikanischen Vorbild der so genannten "Comprehensive Cancer Centers" (CCC). Das KiTZ ist gleichzeitig Therapie- und Forschungszentrum für onkologische und hämatologische Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Es verfolgt das Ziel, die Biologie kindlicher Krebs- und schwerer Bluterkrankungen wissenschaftlich zu ergründen und vielversprechende Forschungsansätze eng mit der Patientenversorgung zu verknüpfen – von der Diagnose über die Behandlung bis hin zur Nachsorge. Krebskranke Kinder, gerade auch diejenigen, für die keine etablierten Behandlungsoptionen zur Verfügung stehen, bekommen im KiTZ einen individuellen Therapieplan, den Experten verschiedener Disziplinen in Tumorkonferenzen gemeinsam erstellen. Viele junge Patienten können an klinischen Studien teilnehmen und erhalten damit Zugang zu neuen Therapieoptionen. Beim Übertragen von Forschungserkenntnissen aus dem Labor in die Klinik übernimmt das KiTZ damit Vorbildfunktion.

Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät Heidelberg: Krankenversorgung, Forschung und Lehre von internationalem Rang
Das Universitätsklinikum Heidelberg ist eines der bedeutendsten medizinischen Zentren in Deutschland; die Medizinische Fakultät der Universität Heidelberg zählt zu den international renommierten biomedizinischen Forschungseinrichtungen in Europa. Gemeinsames Ziel ist die Entwicklung innovativer Diagnostik und Therapien sowie ihre rasche Umsetzung für den Patienten. Klinikum und Fakultät beschäftigen rund 13.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und engagieren sich in Ausbildung und Qualifizierung. In mehr als 50 klinischen Fachabteilungen mit fast 2.000 Betten werden jährlich rund 65.000 Patienten vollstationär, 56.000 mal Patienten teilstationär und mehr als 1.000.000 mal Patienten ambulant behandelt. Gemeinsam mit dem Deutschen Krebsforschungszentrum und der Deutschen Krebshilfe hat das Universitätsklinikum Heidelberg das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg etabliert, das führende onkologische Spitzenzentrum in Deutschland. Das Heidelberger Curriculum Medicinale (HeiCuMed) steht an der Spitze der medizinischen Ausbildungsgänge in Deutschland. Derzeit studieren ca. 3.700 angehende Ärztinnen und Ärzte in Heidelberg. www.klinikum-heidelberg.de 

Über Deutsches Krebsforschungszentrum

Das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) ist mit mehr als 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die größte biomedizinische Forschungseinrichtung in Deutschland. Über 1.300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erforschen im DKFZ, wie Krebs entsteht, erfassen Krebsrisikofaktoren und suchen nach neuen Strategien, die verhindern, dass Menschen an Krebs erkranken. Sie entwickeln neue Methoden, mit denen Tumoren präziser diagnostiziert und Krebspatienten erfolgreicher behandelt werden können.
Beim Krebsinformationsdienst (KID) des DKFZ erhalten Betroffene, interessierte Bürger und Fachkreise individuelle Antworten auf alle Fragen zum Thema Krebs.
Gemeinsam mit Partnern aus den Universitätskliniken betreibt das DKFZ das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) an den Standorten Heidelberg und Dresden, in Heidelberg außerdem das Hopp-Kindertumorzentrum KiTZ. Im Deutschen Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK), einem der sechs Deutschen Zentren für Gesundheitsforschung, unterhält das DKFZ Translationszentren an sieben universitären Partnerstandorten. Die Verbindung von exzellenter Hochschulmedizin mit der hochkarätigen Forschung eines Helmholtz-Zentrums an den NCT- und den DKTK-Standorten ist ein wichtiger Beitrag, um vielversprechende Ansätze aus der Krebsforschung in die Klinik zu übertragen und so die Chancen von Krebspatienten zu verbessern.
Das DKFZ wird zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und zu 10 Prozent vom Land Baden-Württemberg finanziert und ist Mitglied in der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren.

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