Neuer Wohnraum in Millionenhöhe durch Nachverdichtung urbaner Räume möglich
Was beim ersten Hinschauen recht banal kling, kann aber laut Architekturprofessor Heiner Lippe bei richtiger Wahl und Herangehensweise zu neuen Wohnungen bis in Millionenhöhe bedeuten, die auch bezahlbar sein können. Bezahlbar insofern, weil keine neuen Bebauungsareale ausgewiesen, nichts Neues teuer gebaut und infrastrukturell erschlossen werden muss. Vielmehr gibt es laut einer Studie* aus dem Jahr 2019 einen recht großen Gebäudebestand in einer für Deutschland typischen Art von Wohnkomplexen, die sich für eine Nachverdichtung nahezu aufdrängen, so der TH Professor.
Lippe hat in Kooperation mit fachkompetenten Einrichtungen der Bauwirtschaft, der NEUEN LÜBECKER (Norddeutsche Baugenossenschaft eG) und dem Kieler Architekturbüro NEUWERK, die Studie* als Basis für die Auslobung eines Studierendenwettbewerbs mit entsprechender Aufgabenstellung zu Grunde gelegt: „Das Plangebiet mit dem wir uns im Wettbewerb „Deeply high“ befassen ist typisch für die 60er Jahre: mehrere zwei- und dreigeschossige Gebäude auf einem Baugrundstück, die vor allem energetisch gesehen in die Jahre gekommen sind. Dass besonders diese Art von Wohnkomplexen infrage kommt, ergibt sich schlicht durch die Anzahl: Wir sprechen hier von einem Mengenthema. Diese Gebäude wurden zu zehntausenden gebaut; man geht bundesweit von einem Potential durch Aufstockungen in Höhe bis zu 1,5 Mio Wohneinheiten aus“, so Lippe.
Nach Wochen der intensiven Auseinandersetzung mit der gestellten Aufgabe hatten sich 39 Studierenden des 3. Semesters im Fach ‚Entwerfen und Baukonstruktion‘ der TH Lübeck in 22 Arbeiten einer externen Bewertung gestellt. Die Ergebnisse boten beachtliche und vorzeigbare Lösungen, die die Jury lange in ihrer Urteilsfindung beschäftigte. Traditionell, es war der elfte Studierendenwettbewerb dieser Art, setzte sich die Jury zusammen aus den Vizepräsidenten der Architekten-und Ingenieurkammer Schleswig-Holstein, der Architektenkammer Niedersachsen und erstmalig der Präsidentin der Hamburger Architektenkammer. Vertretungen der Wohnungswirtschaft sowie freier Architekturbüros komplettierten die Jury.
Dass dieses Thema nicht nur ein bundesdeutsches ist, machte THL-Professor Lippe mit dem Hinweis auf den internationalen Wettbewerb ‚Solar Decathlon Europe‘ (SDE) deutlich. Die TH Lübeck wurde gemeinsam mit der Istanbul Technical University als Team „DEEPLY_HIGH“ für die Teilnahme an diesem Wettbewerb nachnominiert. Er wird in den Jahren 2021/ 22 in Wuppertal ausgetragen und befasst sich ebenfalls mit Nachhaltigkeit und Wohnraumgewinnung durch Aufstockung. Lippe: „Die Ergebnisse dieser Semesteraufgabe werden direkt als Impulsgeber für den großen, internationalen Wettbewerb sowie für zukünftige Aktivitäten in urbanen wie ländlichen Räumen in Schleswig-Holstein einfließen.“ Besondere Aufmerksamkeit, sowohl bei der Semesterarbeit als auch beim internationalen Solar Decathlon Europe Wettbewerb, wird der beispielhaften energetischen Ertüchtigung (nach EnEV/GEG) des Bestands beigemessen, sowie der beispielhaften Schaffung von zusätzlichem Wohnraum durch Aufstockung in innovativer, zukunftsweisender und nachhaltiger Holzbauweise.
Die hohe Aktualität des Wettbewerbsthemas bestätigte auch der aus Hamburg zugeschaltete Vorstandsdirektor des Verbandes der Norddeutschen Wohnungsunternehmen e.V., Dipl. Verww. Andreas Breitner: „Aus unserer Sicht trifft die Aufgabenstellung dieses studentischen Wettbewerbs den richtigen Nerv. Wir haben in Deutschland ein Problem: wir haben schlichtweg zu wenig Wohnraum! … Wenn man heute beispielsweise nach Hamburg, nach Lübeck oder in andere Städte schauen würde, dann ist die Fläche endlich. Und man muss sich besonders die Frage stellen: Wollen wir immer weitere Flächen versiegeln? Oder wie gelingt es, diesen Wohnraum, entstanden in den 60er und 70er Jahren, zu modernisieren, instand zu halten, aber auch ihn zu erweitern? Da setzt der Wettbewerb der TH Lübeck an. Das sind genau die Überlegungen, die in der Praxis angestellt werden. Und wenn der studentische Wettbewerb Hinweise oder gar Lösungen anbietet, dann ist es für uns extrem wertvoll,“ betonte Vorstandsdirektor Breitner.
Nach einem Begutachtungsmarathon und entsprechendem Austausch stand das Jury-Ergebnis fest. Der erste Preis, dotiert mit 500 Euro, ging an das Team „Haus auf Haus“ in der Besetzung Vanessa Grohn und Marina Rjadnowa. „Der Entwurf“, beschrieben die Studentinnen ihre Idee, „beschäftigt sich mit einer zeitgemäßen, aber zugleich harmonischen Aufstockung… In seiner klaren Formsprache bedient er sich dem Bild eines Hauses mit Satteldach, welches auf das Bestandsgebäude gesetzt wird. Dieses Bild wird noch verstärkt, in dem die Aufstockung eine sinnbildliche eigene Bodenplatte erhält, die über den Bestand auskragt und als Installationsebene genutzt wird. Durch den Rücksprung in der Fassade der Aufstockung, wird die Abgrenzung zum Bestand noch deutlicher und es entstehen teilweise umlaufende Freitritte bzw. Loggien, die entscheidend zur Atmosphäre des Entwurfes beitragen und den Bezug nach Außen herstellen. „Absolut toll“, war die Meinung des Juryvorsitzenden. Die Jury folgte dieser spontanen Äußerung und den konzeptionellen Gedanken der Studierenden. Sie begründete ihre Entscheidung damit, dass die Arbeit vom ersten bis zum letzten Bewertungsdurchgang überzeugt hat. Sie lobte die perfekt durchdachte Arbeit, die geschickte Eingangssituation zur Aufstockung und die besondere Atmosphäre, die der Entwurf erzeugt. Er besteche nicht nur durch Perfektion, sondern auch durch seine besonders feine Materialität.
Weitere Platzierungen und Wettbewerbsbeiträge sind unter www.th-luebeck.de einzusehen.
Die Jurysitzung fand in Zeiten von Corona nicht in Präsenz statt, sondern im Rahmen einer online Konferenz. Die Studierenden waren eingeladen, den Bewertungsrundgängen stumm an ihren Bildschirmen zu folgen. So konnten sie die Bewertungskriterien nachvollziehen und den Argumenten der Fachleute zur Urteilsfindung folgen.
*) Einer Deutschlandstudie der TU Darmstadt und des Pestel Instituts Hannover von 2019 zufolge, „fehlt es … in Deutschland vorrangig in den schnell wachsenden Regionen an bezahlbarem Wohnraum. Zusätzlich führen neue Wanderungsmuster zu einer Umverteilung der Bevölkerung im Bundesgebiet und in den Städten. Die Schätzungen weisen einen Bedarf von 1,2 bis 1,45 Mio. Wohnungen in diesen Regionen aus. Als Regionen mit hohem Wohnungsbedarf wurden dabei alle Gebiete bezeichnet, in denen der Leerstand Ende 2018 unterhalb von 3,0 % des Wohnungsbestandes lag. Wo und in welcher Form soll also kostengünstig der dringend benötigte Wohnraum in diesen Wohnungsmärkten entstehen? Um dem wachsenden Bedarf an Wohnraum bei gleichzeitiger sparsamer Inanspruchnahme der Ressource „Bauland“ zu begegnen, sind Strategien der Innenentwicklung und Nachverdichtung notwendig. Mit konservativen Annahmen von Mengen, Flächen und Verdichtungsschlüsseln, stellen sich die Potenziale für bezahlbaren Wohnraum sowie die dazu gehörige soziale Infrastruktur … in der Gesamtheit mit ca. 2,3 Mio. bis 2,7 Mio. Wohnungen …dar.“
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