Zu spät, zu geizig, zu ideologisch: Wie die EU-Kommission das Impfdesaster organisierte
Die von Brüssel zu verantwortenden Verzögerungen und institutionelle Ineffizienz lassen sich heute in verlorenen Menschenleben messen. Ist das die europäische Solidarität wert? Es gab keinen medizinischen Grund, aus europäischer Solidarität den Impfbeginn in Deutschland zu verzögern oder nicht alle objektiv notwendigen Impfdosen zu bestellen. Die Pandemie lehrt uns, dass nationale Alleingänge Menschenleben retten können, und darum müsste es jeder Regierung und auch der EU-Kommission doch gehen, selbst wenn dafür das Narrativ der europäischen Solidarität notgedrungen zeitweise in den Hintergrund rückt. In der Politik gelten Bilder oft mehr als Worte, und die Bilder von Staus und Kontrollen an den Grenzen stellten im letzten Frühjahr das sorgsam gepflegte Narrativ des offenen Kontinents vor laufender Kamera in Frage. Nun sollte beim Impfen das Bild des unionsweiten gemeinsamen Impfbeginns das Narrativ restaurieren. Doch hier hat sich die EU gründlich verzockt, und der Preis dafür sind Menschenleben.
Deutschland hätte viel früher mit dem Impfen beginnen können. Denn bereits Anfang Juni taten sich Deutschland, Frankreich, Italien und die Niederlande zu einer „Impfallianz“ zusammen. Diese vier der fünf größten Volkswirtschaften des Euroraums vereinen etwa ein Drittel der Bevölkerung des Staatenbunds. Diese Kaufkraft sollte bei konkreten Verhandlungen mit Pharmaunternehmen eingesetzt werden, weil ja die Verhandlungen der 27 unter der Leitung der von der Leyen-Kommission nicht vorankamen. Doch genau diesen potentiell lebensrettenden Alleingang einiger Mitgliedsstaaten verhinderte Frau von der Leyen zulasten der Patienten, nur um den Mythos der europäischen Solidarität aufrechtzuerhalten. Sie nutzte geschickt die Angst der kleinen Mitgliedsstaaten, welche die Impfallianz als zusätzliche Bedrohung im Wettlauf um Impfstoffe ansahen, quasi als „den Feind im eigenen Haus“. Schließlich musste man den Impfstoffwettlauf gegen die USA und gegen Großbritannien gewinnen. Deswegen erlaubten die Staats- und Regierungschefs, ein zwei Milliarden Euro schweres Rettungspaket zu schnüren und die Kommission mit der Verhandlung über die Impfstoffe für alle Mitgliedsstaaten zu beauftragen. Doch bis das alles unter 27 Mitgliedsstaaten ausgehandelt war und die Mitgliedsstaaten dann auch tatsächlich die zusätzlichen Steuergelder nach Brüssel überwiesen hatten, wurde wertvolle Zeit im Kampf gegen die Pandemie vergeudet.
Ein weiterer Grund für die Verzögerung lag – und liegt weiterhin – in der Uneinigkeit zwischen den westlichen Mitgliedstaaten, in denen Impfstoffproduzenten beheimatet sind (Frankreich, Deutschland, Italien, Schweden und die Niederlande) und den anderen. Diese anderen hegen den nicht ganz unbegründeten Verdacht, dass sich die Mitgliedsstaaten mit heimischen Impfstoffproduzenten durch die höheren Steuereinnahmen aufgrund gestiegener Produktionen und teurerer Preise das Bruttosozialprodukt aufbessern, während die anderen dafür zahlen müssen. Dementsprechend ziehen sich die Verhandlungen hin.
Überhaupt das Geld: auch in einer Pandemie bleiben börsennotierte Pharmakonzerne das, was sie sind: privatwirtschaftliche Unternehmen mit Verpflichtung zum Gewinn. Wenn die EU-Kommission also in zeitraubenden Verhandlungen die Preise für die Vakzine drückt, ist das für die Pharmaunternehmen kein Ansporn, in die geizige EU ohne bestehende Infrastrukturen schneller zu liefern als beispielsweise in das Vereinigte Königreich, nach Israel oder in die USA, wo die besser dotierten Verträge drei Monate schneller unterschrieben wurden und mithin die Produktion zeitiger anlief. Guntram Wolff, der Direktor des Bruegel Think Tanks in Brüssel, brachte es bei Twitter auf den Punkt: "Der geizige Ansatz der EU kostet Leben". Da kann sich Ursula von der Leyen öffentlichkeitswirksam über die bösen Pharmakonzerne echauffieren und ihr CDU-Parteikollege Peter Liese gar Exportverbote der Vakzine in Erwägung ziehen: das Problem ist von der EU selbst gemacht.
In der Pandemie ist die EU-Kommission zum Großinvestor in börsennotierte Privatunternehmen geworden, doch niemand weiß, ob die EU dafür einen Sitz im Aufsichtsrat bekam, um die Verwendung der investierten Steuergelder zu überwachen. Die Geheimniskrämerei geht soweit, dass selbst das EU-Parlament als Kontrollorgan der Kommission (zumindest gemäß der EU-Verträge) die zwischen Kommission und Pharmakonzernen geschlossenen Verträge nicht einsehen darf. Weder dem Berichterstatter des EU-Parlaments für die Haushaltsentlastung der Kommission, Joachim Kuhs (AfD), noch der Vorsitzenden des Haushaltskontrollausschusses Monika Hohlmeier (CSU) noch den Obleuten der anderen Fraktionen wurde Zugang zu den Kommissions-Unterlagen gewährt. Die Kommission bot ihren Kontrolleuren lediglich an, die Verträge in einer speziellen Lesekammer unter Aufsicht eines Sicherheitsbeamten einzusehen. Einziges Hilfsmittel: die Lesebrille. Sonst nichts. Und die wesentlichen Stellen der Verträge waren geschwärzt. Ausgerechnet die Transparenz-Ritter verweigern Transparenz bei einem so emotionalen Thema wie Impfstoffen, ausgerechnet in Europa, dem Epizentrum der Impfkritiker.
Als es in der Folge der Eurokrise 2008 um die Rettung des Brüsseler Vorzeigeprojekts „Gemeinschaftswährung Euro“ ging, sagte der damalige Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, den „Whatever it takes“ Satz, also die Ankündigung alles Menschenmögliche zu tun, um den Euro zu retten. Damit sollten die Börsen und die Finanzmärkte beruhigt werden. Ist der „What-ever-it-takes“-Ansatz zwar gut genug für die gemeinsame Währung, nicht jedoch für Menschenleben in der Pandemie? Die Gemeinschaftsmethode ist an ihre Grenzen gestoßen. „Ruhe in Frieden – Gestorben aus europäischer Solidarität“ wird hoffentlich nicht auf den Grabsteinen jener Covid-Toten stehen, für die die Impfstoffe zu spät kamen, weil die nationalen Regierungen die Verantwortung auf Brüssel abschoben und Brüssel die an die EU gestellten Ansprüche bislang zumindest nicht erfüllen konnte.
Zur Erinnerung: Mehrfach wurden wir gebeten, die Identität des Briefeschreibers aus Brüssel preiszugeben. Es handelt sich um eine Gemeinschaftsarbeit von Informanten und Redaktion. Sie erinnert an die sogenannten Junius letters, in denen ein Pseudonym namens Junius in der Zeitschrift Public Advertiser in London vom 21. Januar 1769 bis zum 12. Mai 1772 Briefe über die Geschehnisse am Hofe und im Parlament veröffentlichte. Darin wurden die Machenschaften in der Königsfamilie, von Ministern, Richtern und Abgeordneten satirisch und mit Sachkenntnis der internen Vorgänge und Intrigen aufgespießt. Die Junius-letters gelten als erster Beleg des journalistischen Zeugnisverweigerungsrechts.
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