Bildung & Karriere

„Es geht nicht um Lösungen, sondern um Inspiration. Auch durch das Nicht-Verstehen!“

Was verbinden Sie mit Ausstellungen und Museen? Verstaubte Bilder an den Wänden, bloß nichts berühren und langsames Durch-die-Räume-Schreiten? Nicht mit IMAGINARY! Da heißt es: alles ausprobieren, selbst Exponate bauen und Spaß haben an Mathematik.

IMAGINARY ist eine gemeinnützige Organisation für interaktive und offene Mathematik. Vor kurzem wurde ihr Konzept der open-source-Ausstellungen mit dem "Mariano Gago Ecsite Award for Sustainable Success" ausgezeichnet. Auf imaginary.org kann jeder frei zugänglich mit Mathe-Software experimentieren, selbst Exponate entwickeln, fertige Exponate herunterladen oder erfahren, wie man seine eigene Ausstellung organisiert.

Die Entwicklung dieser Angebote unterstützte die Klaus Tschira Stiftung (KTS) durch vielfältige Förderungen, und schon zahlreiche Ausstellungen von IMAGINARY waren in der Mathematik-Informatik-Station (MAINS), dem Sitz der Heidelberg Laureate Forum Foundation (HLFF), in Heidelberg zu sehen.

Am 14. März 2021 wird IMAGINARY den Internationalen Tag der Mathematik – ein Projekt der Internationalen Mathematischen Union, ausgerufen durch die UNESCO – mit einem global vernetzten, frei zugänglichen und von der KTS geförderten Online-Event zelebrieren. Vor diesem Hintergrund stellt der Direktor von IMAGINARY, Andreas Matt, seine Organisation und deren Philosophie im Interview vor.

Herr Matt, erst noch einmal „Herzlichen Glückwunsch“ zu dieser tollen Auszeichnung!

Vielen Dank! Wir haben uns wirklich sehr über den Preis gefreut, weil er die Strategie würdigt, die wir seit vielen Jahren verfolgen, unsere Kernphilosophie – das open-source-Konzept.

Welche Idee steckt hinter IMAGINARY?

Die Grundidee entstand 2007 im Mathematischen Forschungsinstitut Oberwolfach. Der damalige Direktor Prof. Gert-Martin Greuel plante als Beitrag für das Wissenschaftsjahr der Mathematik 2008, ein Mathe-Museum ins Leben zu rufen. Dafür suchte er jemanden, der ein solches Museum entwickeln kann. Eine coole Aufgabe, dachte ich mir, und war mit an Bord.

Relativ schnell wurde klar, dass es besser ist, zuerst eine Ausstellung und kein Museum zu planen, um Erfahrungen zu sammeln und Inhalte zu testen. Und so entstand die Idee von der IMAGINARY -Wanderausstellung, die jeweils einen Monat lang in 12 deutschen Städten gezeigt wurde. Im Dezember 2007 begannen wir an der TU München mit der ersten Ausstellung.

Da war viel Neues dabei, auch für uns. 2007 gab es ja noch keine Smartphones. Also mussten wir allen Besucherinnen und Besuchern erklären, wie man einen Touch-Screen bedient, nach dem Motto: „Ja, Sie dürfen wirklich mit dem Finger dort drauf tippen“ (lacht).

Was macht IMAGINARY aus?

Von Anfang an war klar: Wir zeigen Technologien, die Mathematik sinnvoll anwenden, aber auch neu sind und deswegen faszinieren. Das machen wir bis heute so. Wir suchen Themen, die uns Spaß machen und nah an der Forschung sind; also komplexe Forschungsthemen, aber ästhetisch und interaktiv aufbereitet.

Da sind wir auch immer offen für Feedback, hören genau hin und freuen uns über Anregungen von außen. Ich glaube, wir können immer ganz unkonventionell denken, gerade weil wir keine „gelernten“ Ausstellungsmacher:innen sind. Das ist ein ständiges Weiterentwickeln und Ausprobieren.

Wie gehen Sie bei der Entwicklung einer Ausstellung vor?

Für uns stellen Ausstellungen immer einen dynamischen Prozess dar. Wir probieren Sachen aus, sind offen für Neues, schauen, wie es angenommen wird, und bleiben so niemals stehen. Zurzeit geht es ja ganz stark in die aktive Richtung. Heute wollen wir doch kein Museum mehr besuchen, sondern selbst eins bauen! Wenn Sie jemanden fragen, ob er oder sie ein fertiges Exponat verwenden oder lieber selbst eins bauen möchte, ist die Antwort meist eindeutig: „Ich denke mir lieber selbst ein Exponat aus und setze es dann um.“ Diesen Prozess begleiten wir und kommen so über die Mathematik ins Gespräch.

Wie kamen Sie auf die – damals unglaublich innovative – Idee, eine open-source-Plattform einzusetzen?

Offene Lizenzen waren zum damaligen Zeitpunkt maximal manchen in der Software-Branche bekannt. Auf open-source-Ausstellungen sind wir selbst erst mit der Zeit gekommen, auch wenn wir zuvor schon die digitalen Daten geteilt haben. Mit der Zeit wurde das auf diese händische Art per E-Mail oder Link aber sehr aufwändig, und wir überlegten uns eine Lösung, damit Interessierte sich die Daten selbst herunterladen können. Das war der erste Schritt hin zu der Plattform im Jahr 2013, als wir unsere Mathe-Exponate dann für alle frei zur Verfügung stellten. Alle, die Exponate in einem eigenen Projekt verwenden oder weiterentwickeln möchten, können sie sich ganz einfach herunterladen. Dafür muss man sich nicht einmal registrieren. Das war damals völlig neu und auch nicht so einfach zu erklären. Als wir mit dieser Idee auf die Klaus Tschira Stiftung zukamen, war Klaus Tschira noch selbst involviert. Er hat das Potential sofort erkannt.

Wie ist da Ihre Erfahrung: Laden die Interessierten still und leise die Exponate runter oder haben Sie mit jedem Einzelnen Kontakt?

Genau, fast immer werden wir kontaktiert und passen die Exponate gemeinsam mit den Ausstellungsmacher:innen an die Kultur, den Raum, an das Budget und auch die Zielgruppe an. Das ist ganz individuell, je nachdem wie gut die andere Seite aufgestellt ist, also wer beispielsweise übersetzen oder wer Änderungen programmieren kann. Die Anfragen kommen nicht nur aus Deutschland oder Europa, auch mit Ländern wie Panama haben wir schon zusammengearbeitet.

So ist mit der Zeit und den verschiedenen Ausstellungen auch unser Netzwerk gewachsen. Ich erinnere mich noch, als zum Beispiel die Spanische Mathematische Gesellschaft auf uns zukam und mit einem lokalen Team eine ganze Ausstellung von uns als Wanderausstellung organisiert und dabei nicht nur übersetzt, sondern auch didaktisch weiterentwickelt und kulturell angepasst hat. Davon haben wir dann auch wieder das eine oder andere übernommen. Es ist also nicht nur die offene Lizenz zum Austauschen von Inhalten. Es ist auch eine offene Tür für Zusammenarbeit in einer Community. Da kann jede von der anderen Seite lernen.

Wie viele Menschen zählt das IMAGINARY-Team? 

Wir haben acht Festangestellte und ungefähr zehn freie Mitarbeitende, die aber auch schon seit Jahren dabei sind. Manche davon sind Mathematiker:innen in verschiedenen Ländern, zum Beispiel in Uruguay.

Das Mathematische Institut in Oberwolfach liegt ja mitten im Schwarzwald, das Büro von IMAGINARY ist in Berlin und Sie wohnen in Köln. Wie kann man sich das Arbeiten an drei verschiedenen Orten vorstellen? 

IMAGINARY ist von Anfang an dezentral organisiert. Wir arbeiten ja ohnehin digital zusammen und hatten lange Zeit gar keinen festen Sitz. Seit 2016 ist unser zentrales Büro nun in Berlin. Die ganze Firmenstruktur war aber schon immer in der Cloud aufgesetzt. Das ist auch ein bisschen unsere Firmenphilosophie, dass jeder wohnen kann, wo er will. Der Übergang in der Corona-Zeit, der andere Teams so hart getroffen hat, war bei uns nicht spürbar. Wir waren es eh schon gewohnt, von zuhause zu arbeiten.

Woher kommt Ihre Faszination, Mathematik zu vermitteln?

In der Schule wird Mathematik leider oft fern der Realität und ohne viel Kreativität vermittelt. Das hat mich immer geärgert. Ich finde, es geht nicht um Lösungen. Es geht um den Spaß am Verstehen, oder noch interessanter: den Spaß am Nicht-Verstehen.

Ich glaube, das erste, was man im Mathematik-Studium lernt, ist, dass man sich vom Nicht-Verstehen inspirieren lässt. Auch die Verbindungen zwischen den Teilgebieten herzustellen, finde ich faszinierend. Auf der einen Seite ist die Geometrie, auf der anderen ist Algebra, wenn ich das verbinde, kann ich also gleichzeitig zeichnen und rechnen.

Also, Mathematikvermittlung hat mir immer schon Spaß gemacht, auch schon während meiner Diplomarbeit und Doktorarbeit in diesem Bereich. Da kamen Anfragen von Schulen beispielsweise, ob ich ihnen nicht beim Thema Künstliche Intelligenz unter die Arme greifen könnte.

Ich hatte auch immer schon Ausstellungen organisiert. 2002 war zum Beispiel meine erste Ausstellung in einem Supermarkt, total spannend, den Leuten quasi im Vorbeigehen die Mathematik von maschinellen Lernverfahren zu erklären. Die Vermittlung war mir also immer schon neben dem Studium wichtig, interessanterweise ist das jetzt zum Beruf geworden.

Wo entstehen denn die Ideen und Konzepte für Exponate und Ausstellungen?

Die kommen von interessierten Hobby-Mathematiker:innen, Künstler:innen und Forschenden der Mathematik – je nach Themengebiet. Bei unserer Ausstellung „La La Lab – the Mathematics of Music“ waren natürlich viele Musiker:innen mit dabei.

Wir als Team sagen zum Beispiel: Hallo Welt, lasst uns doch eine Ausstellung zum Thema „Mathematik des Planeten Erde“ machen und regen dazu an, sich Exponate auszudenken. Dann sind ganz viele Menschen aus der ganzen Welt involviert, die uns ihre Ideen schreiben oder schon (fast) fertige Exponate schicken. So entstehen nach und nach spannende internationale Ausstellungen. Wir sind da die Vermittler:innen und die Motivation im Mittelpunkt.

Wie schätzen Sie die Möglichkeiten mathematischer Wissenschaftskommunikation ein? Wie viel darf man davon erwarten? Wo sind Grenzen?

Man muss sich auf jeden Fall Ziele definieren: Wollen wir Motivation, Neugier, Wissen oder Forschung vermitteln? Oder ein bisschen von all dem? Für den wirklichen Wissenstransfer in der Mathematik braucht man mehr Zeit und Ruhe, als in einer Ausstellung möglich ist. Die Stärke der Ausstellungen ist der Austausch, das Nachfragen- und Diskutieren-Können, bevor man im gemütlichen Kämmerchen allein weiterdenken kann.

Aber wichtig ist zuerst einmal, Mathematik authentisch zu vermitteln, indem wir zugeben: Ja, Mathematik ist komplex. Aber davor müssen wir nicht zurückschrecken, sondern begegnen dem Ganzen mit dem Sandkastenprinzip. Wir motivieren die Menschen, Formeln in ihre Einzelteile zu zerlegen, sozusagen alles kaputt zu machen und wieder neu zusammen zu bauen.

Da hilft es auch Hierarchien abzubauen. Es gibt nicht die eine Expertin oder den einen Experten für ein Fachgebiet. Durch den Spaß am Selbst-Experimentieren öffnen sich dann alle „Lernkanäle“, um Zusammenhänge aufzusaugen.

Zum Abschluss: Was sind denn Ihre Träume, Herr Matt? Wo könnte die Reise von IMAGINARY noch hingehen?

Ich wünsche mir wieder mehr Freiheiten, damit wir unsere Visionen nicht durch wirtschaftliche Zwänge einschränken müssen. Besonders bei innovativen Ideen zahlt es sich aus, auch einmal experimentieren zu dürfen. Was ich auch schön fände, wäre ein eigenes dynamisches oder verteiltes Museum. Da gibt es ja schon erste Beispiele, bei denen man auf Knopfdruck zwischen verschiedenen Ausstellungen wechseln kann. Das ist spannend!

Außerdem wäre es toll, wenn wir die bei uns gewachsene Erfahrung in der informellen Bildung zurückführen könnten in die Schulen, also die formelle Bildung. Zum Beispiel in Mathe-Schülerlaboren mehr Raum fürs Ausprobieren geben und Raum für Austausch bieten oder auch an Hochschulen, um zum Beispiel „Interaktive Mathematikvermittlung“ als Vorlesung oder Seminar anzubieten.

An Themen wie der Künstlichen Intelligenz wird auch die politische Dimension der sonst oft apolitischen Mathematik deutlich. Da sehe ich unsere gesellschaftliche Verantwortung, ins Gespräch zu kommen und möglichst vielen Menschen zu zeigen, wie zum Beispiel neuronale Netzwerke funktionieren – am besten weltweit.

Über Klaus Tschira Stiftung gGmbH

Die Klaus Tschira Stiftung (KTS) fördert Naturwissenschaften, Mathematik und Informatik und möchte zur Wertschätzung dieser Fächer beitragen. Sie wurde 1995 von dem Physiker und SAP-Mitgründer Klaus Tschira (1940-2015) mit privaten Mitteln ins Leben gerufen. Ihre drei Förderschwerpunkte sind: Bildung, Forschung und Wissenschaftskommunikation. Das bundesweite Engagement beginnt im Kindergarten und setzt sich in Schulen, Hochschulen und Forschungseinrichtungen fort. Die Stiftung setzt sich für den Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft ein. Weitere Informationen unter: www.klaus-tschira-stiftung.de

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