Kunst & Kultur

Stipendium für Nichtstun: Gewinnerinnen stehen fest

Die Stipendiatinnen und alle Bewerbungen werden bis zum 18. Juli 2021
im MK&G in der Ausstellung SCHULE DER FOLGENLOSIGKEIT vorgestellt

 

Hilistina Banze, Mia Hofner und Kimberley Vehoff sind die Gewinnerinnen der drei mit jeweils 1600 Euro dotierten Stipendien für Nichtstun der Hochschule für bildende Künste Hamburg (HFBK). Ihre Vorhaben und alle weiteren Einreichungen sind bis zum 18. Juli 2021 im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg (MK&G) in der Ausstellung SCHULE DER FOLGENLOSIGKEIT. ÜBUNGEN FÜR EIN ANDERES LEBEN zu sehen. Das Stipendium für Nichtstun hinterfragt die gängigen Mechanismen des Leistungsdenkens und lädt dazu ein, über die Verbindung der eigenen Lebenswirklichkeit mit dem Klimawandel und den gesellschaftlichen und politischen Strukturen nachzudenken. Die Ausschreibung erfolgte im August 2020 im Rahmen der Ausstellung SCHULE DER FOLGENLOSIGKEIT, die von Friedrich von Borries und der HFBK initiiert wurde und in Kooperation mit dem MK&G entstand. Aus insgesamt 2864 Bewerber*innen aus 70 Ländern wählte die Jury zunächst 14 Finalist*innen aus und kürte in einem zweiten Schritt die Gewinnerinnen.

HILISTINA BANZE

„Ich werde mein Kopftuch eine Woche nicht tragen“, so das Vorhaben der muslimischen Feministin. Die Sozialpädagogin und Integrationsberaterin aus Hamburg möchte ihr auf 3 mm kurzrasiertes Haar zeigen und so gleich mehreren Rollenklischees entgegentreten. Damit setzt Hilistina Banze (31) sich – wie viele andere Bewerber*innen auch – mit den Erwartungen und Rollenbildern auseinander, die insbesondere an Frauen herangetragen werden. Die Jury beeindruckte die Radikalität und die Vielschichtigkeit des Experiments und ist gespannt auf die Erfahrungen, die Hilistina Banze als Frau, als Muslima und als Feministin sammelt.

MIA HOFNER

„Ich will für zwei Wochen keine verwertbaren, personenbezogenen Daten über mich generieren.“ Das bedeutet umfangreiche Einschränkungen für die 26-jährige Konzepterin und Studentin aus Köln: Kein Smartphone nutzen, keine E-Mails abrufen, nicht online shoppen – allesamt Tätigkeiten, auf die auch viele andere Bewerber*innen verzichten möchten, weil sie zu viel Energie verbrauchen, soziale Beziehungen belasten, zum Konsum verleiten und unkontrollierbare Datenspuren von sich und anderen hinterlassen. Bemerkenswert fand die Jury Mia Hofners Klarheit, mit der sie die Folgen ihres täglichen Handelns reflektiert und sich gleichzeitig bewusst ist, dass sie dem digitalen Datentransfer nicht für immer entkommen kann. 

KIMBERLEY VEHOFF

„Ich will meinen Beruf nicht ausüben“ schreibt die 22-jährige Fachkraft für Lebensmitteltechnik aus Bad Fallingbostel. Stellvertretend für sehr viele Bewerbungen bringt Kimberley Vehoff eine grundlegende Unzufriedenheit mit den ökonomischen Zwängen und dem Leistungsdruck der Gegenwarts-gesellschaft zum Ausdruck. Besonders überzeugend fand die Jury, dass die sozialen Beziehungen von Kimberley Vehoff durch wechselnde Früh-, Spät- und Nachtschichten sowie einer 6-Tage-Woche leiden, und sie das Stipendium nutzen will, diese emotionalen Bindungen wieder zu stärken.

DIE NOMINIERTEN

Nominiert für das Stipendium für Nichtstun waren 14 Kandidat*innen, darunter neben den Gewinnerinnen u.a.:

  • ein 9-jähriger Schüler, der sich aus ökologischem Verantwortungsgefühl nicht mehr von seiner Mutter zur Schule fahren lassen möchte
  • eine brasilianische Aktivistin, die in ihrem Dorf Plastikmüll sammelt
  • eine Ärztin, die keine suchtfördernden Schmerzmittel mehr verschreiben will, wenn sich die Erkrankung auch anders behandeln ließe
  • eine Fernsehreporterin, die vier Wochen lang keine negativen Nach­richten mehr verbreiten will
  • ein Mann, der zehn Tage nicht mehr sprechen, dafür aber anderen umso aufmerksamer zuhören möchte
  • eine Frau, die so bleiben will, wie sie ist, und damit auf den Selbstopti­mierungszwang in der Gesellschaft (und der Ausschreibung) hinweist

Die Jurymitglieder – MK&G-Direktorin Tulga Beyerle, der Philosoph Armen Avanessian und die Juristin Eva-Dorothee Leinemann – entschieden sich, bei der Prämierung die inhaltlichen Bandbreite der Einreichungen abzubilden und der Subjektivität der Bewerber*innen Raum zu lassen. Das Stipendium für Nichtstun wurde finanziert durch die Leinemann Kunststiftung Nikolassee.

DIE AUSSTELLUNG

Die Ausstellung Schule der Folgenlosigkeit. Übungen für ein anderes Leben im MK&G ist ein künstlerisch-diskursives Projekt von Friedrich von Borries, das bis zum 18. Juli 2021 zu sehen ist. Sie fragt: Wie sähe ein Leben aus, das – im ökologischen, aber auch im virologischen Sinne – möglichst folgenlos bleibt? Könnte Folgenlosigkeit ein neues regulatives Ideal werden, wie Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit, unerreichbar, aber dennoch erstrebenswert? Welche Auswirkungen hätte ein solches Streben auf die materielle und immaterielle Gestaltung unseres Alltags, auf die Wirtschafts- und Sozialordnung, auf unseren Glauben und auf die Art, wie wir miteinander umgehen? Und welche Vorbilder lassen sich für ein solches Leben in Gegenwart und Geschichte finden? Diese Fragen stellt die Schule der Folgenlosigkeit. Übungen für ein anderes Leben im MK&G. Von Borries verknüpft Sammlungsobjekte mit einem eigens für die Ausstellung eingerichteten Selbstlernraum so, dass eine neue Perspektive auf „Nachhaltigkeit“ entsteht und vermeintlich allgemeingültige Vorstellungen eines „richtigen Lebens“ hinterfragt werden. Besucher*innen können hier im Selbstversuch Entscheidungen abgeben, ihre Hände in Unschuld waschen oder sich im Nichts-Tun üben. Ein diskursives Bildungsprogramm in Form einer App sowie das Stipendium für Nichtstun ergänzen das Projekt.

DIE APP

Mit der App zur Ausstellung kann man auch zuhause das folgenlose Leben üben. Die kostenlose App lässt Expert*innen zu Wort kommen und lädt mit vielen Übungen und Aufgaben ein zum spielerischen Selbstversuch. Die App richtet sich an alle, die über den Zustand unserer Welt nachdenken und verstehen wollen, wie die eigene Lebenswirklichkeit mit dem Klimawandel, den gesellschaftlichen und politischen Strukturen verbunden ist. Die App ist eine mediale und inhaltliche Erweiterung der Ausstellung. Sie wurde entwickelt von Friedrich von Borries und dem Berliner Künstler*innenkollektiv Refrakt, kostenlos im Google Play Store und im Apple App Store zum Download bereit.

Die SCHULE DER FOLGENLOSIGKEIT ist eine Initiative der HFBK Hamburg in Kooperation mit dem MK&G.

Die SCHULE DER FOLGENLOSIGKEIT wird gefördert durch die Behörde für Wissenschaft, Forschung, Gleichstellung und Bezirke der Freien und Hansestadt Hamburg (BWFGB), die Hamburg Open Online University (HOOU), die Friede Springer Stiftung, die Kursbuch Kulturstiftung sowie die Leinemann Kunststiftung Nikolassee und unterstützt von der Hamburg Innovation GmbH. Weitere Partnerinnen sind die Katholische Akademie Hamburg sowie die Evangelische Akademie der Nordkirche.

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