Ausstellung: Leere Kisten als plastisches Thema bei Joseph Beuys
„Höhere Wesen befahlen: Lebenslauf Werklauf mythologisieren.“ (Georg Imdahl). Ergänzt wird die Präsentation durch einige andere „leere Kisten“ sowie Graphiken, Werbematerial des VICE-Versands, frühe Angebotslisten des Multiples und Kataloge. In einer Begleitpublikation zur Ausstellung werden die Hintergründe der Produktion und mögliche Interpretationen ausführlich erläutert.
Die unbearbeiteten Holzkisten wurden jeweils in größerer Stückzahl vom Herausgeber Wolfgang Feelisch (VICE-Versand, Remscheid) zu Beuys gebracht und von ihm einzeln bearbeitet. Wenn man die in Laufe der Jahre enorm hohe Stückzahl von ca. 12.000 Objekten bedenkt, dann hat der Künstler sich hier eine große Arbeitsleistung zugemutet: „Bei der Holzkiste ist es schon eine erhebliche Arbeit (…), denn der Feelisch kommt alle naselang, und da geht jedesmal ein ganzer Tag drauf, denn die Dinge muss ich ja alle selber machen, sonst werden sie nichts.“
Beuys gestaltete die Innenseite der Kisten Stück für Stück handschriftlich mit dem Wort „Intuition“ sowie mit zwei darunter gesetzten Bleistiftstrichen. Der obere, etwas kürzere, ist an beiden Seiten durch einen senkrechten Strich begrenzt. Der untere beginnt kaum merklich, dann deutlicher werdend auf der linken Seite und endet schließlich ebenfalls mit einem kurzen senkrechten Strich. Wenn wir auf den ursprünglichen Titel des Multiples „Intuition … statt Kochbuch“ zurückgreifen, scheint der obere, beidseitig begrenzte Strich am ehesten für das rationale, geplante Denken und Handeln zu stehen (das Kochbuch). Der im Ungefähren beginnende, wie aus dem Nichts auftauchende untere Strich könnte demgegenüber für die Intuition stehen: Wir wissen nicht, woher sie aus unserem Inneren auftaucht, können die Quelle in unserem Unbewussten nicht benennen – aber das Ergebnis führt weiter, noch über den darüber liegenden Strich hinaus. Der Mathematiker Henri Poincaré (1854 – 1912) brachte es auf die knappe Formel: „Mit Logik kann man Beweise führen, aber keine neuen Erkenntnisse gewinnen, dazu gehört Intuition.“
Auf der Rückseite des Multiples hat Beuys seine Signatur und das Datum an den oberen Rand gesetzt. Zumindest anfänglich signierte Beuys mit vollem Namen als „Joseph Beuys“ und datierte „1968“. Ab einem unbekannten späteren Zeitpunkt reduzierte sich die Signatur auf „Beuys“ und die Jahreszahl auf „68“. Die Stelle für die Signatur wählte Beuys mit Bedacht: „Er wollte, dass das Multiple sich nicht edel und kostbar präsentiert. Und damit es niemand quasi als Bild an die Wand hängen und damit als erledigt betrachten sollte (womöglich „auf blauem Samt“), signierte er auf der Rückseite mittig, da wo man einen Bilderhaken hätte montieren können.“ Dass viele Käufer trotzdem so verfuhren, steht auf einem anderen Blatt.
Eine fortlaufende Nummerierung des Multiples, wie sie Gerhard Richter für seine ein Jahr zuvor erschienene Graphik „Blattecke“ (1967) bis heute vornimmt, erfolgte nicht. Warum aber hat Beuys sich dieser enormen Arbeit unterzogen, jedes Multiple von Hand zu bearbeiten? Warum hat er so viel Zeit und Energie über Jahre hinweg – von 1968 bis kurz vor seinem Tod 1986 – investiert in ein Objekt, das mit einem anfänglichen Verkaufspreis von 8,- -DM (also ca. 4,–€) kaum einmal die Produktionskosten deckte?
Joseph Beuys selber gab einen entscheidenden Hinweis zu diesem Thema in einem Interview anlässlich seiner Ausstellung im Guggenheim Museum in New York 1979. Hier führt er aus, dass er in der Zeit seiner transformativen Krise Mitte der 1950er Jahre eine Kiste gemacht („gummierte Kiste“, 1957) und mit einem Gemisch aus Teer und Gummi bestrichen habe. Diese leere Kiste habe für einen inneren, geistigen wie auch äußeren realen Raum gestanden. In krisenhaften Umbruchsituationen brauche es die Abgrenzung gegen störende Einflüsse, einen freien Raum („Freiraum“), um in Ruhe und Isolation etwas Neues zu entwickeln, aus sich selbst heraus entstehen lassen zu können. Leere Kisten spielen dementsprechend immer wieder eine Rolle im Werk des Künstlers. Gerade die Intuitionskiste repräsentiert diese entscheidende Erfahrung und Erkenntnis, die Notwendigkeit, sich leer zu machen, sich von Ballast zu befreien, um offen zu werden für einen Neuanfang. Die Intuition ist dabei der Kompass für den eigenen, neuen Weg. In komplexen, unübersichtlichen Situationen helfen uns die Konzepte und Kochbücher der Vergangenheit nicht weiter.
Die Ausstellung im Kunstmuseum Villa Zanders zeigt keine spektakulären Objekte des Künstlers. Wir sind eher mit einer stillen Aufforderung konfrontiert, den eigenen Weg zu reflektieren, uns zu fragen, ob wir unser Leben, unser Lebens- und Arbeitsumfeld so gestaltet haben, wie es unseren Möglichkeiten und Bedürfnissen entspricht. „Jeder Mensch ist ein Künstler“, dieser bekannte Ausspruch von Joseph Beuys, meint ja genau das: sich immer wieder leer zu machen, sich auf seine innere Stimme, auf seine Intuition zu verlassen, um äußere, gesellschaftliche Anforderungen und innere Bedürfnisse und Eigenheiten in Übereinstimmung zu bringen, sie kreativ zu gestalten.
Auf einer in dieser Ausstellung gezeigten Karteikarte von Joseph Beuys steht: „Unsichtbare Kooperatöre (Unsichtbare Plastik)“. Wenn wir bereit sind, uns auf die Werke des Künstlers einzulassen, werden wir zu seinen „Kooperatören“. Es beginnt in uns zu arbeiten, wir denken nach, stellen Fragen. „Denken ist Plastik“, hat Beuys gesagt. Es entsteht eine „unsichtbare Plastik“, eine neue Frage, ein neuer Gedanke, eine neue Theorie – vielleicht ist es sogar der Beginn einer Revolution.
Kurator Hartmut Kraft
Publikation Es erscheint ein Katalog mit vielen Abbildungen und einem Text von Hartmut Kraft: Joseph Beuys, Intuition, 1968. Entstehungsgeschichte, Deutungen und Variationen eines Multiples, Verlag Kettler Dortmund, 2021. Preis 19,80 €
Vortrag Prof. Hartmut Kraft, Kurator der Ausstellung und Autor des Katalogs, erläutert die Thematik in der Reihe „Gespräche im Roten Salon“, Dienstag, 15.06.2021, 19:30 Uhr
Abbildung Joseph Beuys vor der Kunstakademie Düsseldorf bei der Arbeit an den Intuitionskisten. Foto Nino Barbieri, 1970er Jahre, © VG Bild-Kunst, Bonn, 2021
Kunstmuseum Villa Zanders
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