Ein Kahn auf Grund, ein Top-Agent, ein toter Schriftsteller sowie ein Reformer in der Kutsche- Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
Hannes versteht die Welt nicht mehr in „Taube Klara oder Zufälle gibt es nicht“ von Wolf Spillner. Und er beobachtet die Erwachsenen und ihr Verhalten ganz genau.
In „Janusgesichter. Stories aus der Klemm & Klau GmbH Ost“ von Hans-Ulrich Lüdemann ermittelt wieder Mildred Sox – eine Privatdetektivin mit einer nicht ganz geraden Biografie – zumindest nach der Wende nicht.
Warum er etwas gegen das Unrecht tun musste, wie das geschah und was er von der neuen Zeit hielt, das zeigen die Gedichte von Hasso Grabner in seinem Band „Fünfzehn Schritte gradaus“ aus dem Jahre 1958.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Wieder steht ein Blick zurück auf dem literarischen Programm. Und wieder geht es um den Widerstand gegen die deutschen Besatzer eines europäischen Landes und deren Helfer – unter den Einheimischen. Doch es gibt eine starke Gegenbewegung. Und einen Plan.
Als Heft 88 dessen Erzählerreihe erschien erstmals 1964 im Deutschen Militärverlag Berlin „Das Schiff im Dunkeln“ von Hasso Grabner: Paris 1940 kurz vor dem Einmarsch der Deutschen: Über 185 kg schweres Wasser, fast alle in Norwegen verfügbaren Bestände, lagerten in einem Pariser Institut. Der Direktor, Professor für Kernphysik, sucht Unterstützung, damit diese Bestände noch rechtzeitig vor einer möglichen deutschen Besetzung außer Landes gebracht werden. Aber die zuständigen Stellen haben ihre eigenen Probleme. Die Deutschen haben längst davon Wind bekommen und einen Verräter gefunden. Ein lebensgefährlicher Wettlauf beginnt: Der Vormarsch der Deutschen und die Versuche ihrer Handlanger, das schwere Wasser in Paris zu belassen und andererseits der Kampf einiger aufrechter Franzosen gegen Bürokratismus, Gleichgültigkeit und Egoismus, um die Kanister mit dem kriegswichtigen schweren Wasser rechtzeitig nach Großbritannien zu bringen. Und so beginnt dieser lebensgefährliche Wettlauf:
„1. Kapitel
Mit einem Ruck drehte der Professor das Rundfunkgerät ab. Radio Paris log. Anders konnte man die Nachrichten über die letzten schrecklichen Tage nicht nennen. Jeder Franzose wusste, die deutschen Faschisten hatten am 10. Mai mit einer Unmasse von Panzern, Bombenflugzeugen, motorisierten Verbänden die Offensive begonnen, die belgisch-niederländischen Grenzbefestigungen durchbrochen und nach vier Tagen die niederländische Armee zur Kapitulation gezwungen. Davon sprachen die Menschen seit fünf Tagen überall, nur in den Sendungen von Radio Paris war, von einigen dürftigen Sätzen abgesehen, nichts zu hören. Große Berichte über glanzvolle Waffentaten des französischen Alpenjägerkorps im fernen Narvik, Mitteilungen über Roosevelts aufmunternde Besorgnis, Geschwätz um ein Geschwätz des italienischen Außenministers, Russlandhetze – das nannte sich Nachrichten.
Dabei fieberte Paris nach genauen Informationen. Schon tauchten die ersten Flüchtlinge aus dem Norden in den Straßen auf, die wilde, unkontrollierbare Gerüchte verbreiteten. Nach ihnen zu urteilen, musste der Ansturm der Deutschen heftig über die Ardennen und die flandrische Ebene hinweggebraust sein.
Der Professor riss sich am Hemdkragen. Die entsetzliche Ungewissheit erstickte ihn fast. Was war mit Frankreich? Konnten die dürftigen Befestigungen an der französisch-belgischen Grenze den Feind aufhalten? Erwies sich die als unüberwindlich gepriesene Maginotlinie als ein unnützes Spielzeug?
Der Professor stellte sich diese Fragen aus zweierlei Gründen. Er war Franzose und wie jeder gute Franzose um das Schicksal seines Vaterlandes besorgt. Er war aber auch Wissenschaftler, ein bedeutender Kernphysiker, dessen Name weit über Frankreichs Grenzen einen guten Klang hatte. Mit tiefer Unruhe verfolgte er seit Jahr und Tag, wie korrupte Politiker und unfähige Militärs aus Angst vor dem Volk mit den deutschen Faschisten liebäugelten, die Verteidigungskraft des Landes lähmten, Verwirrung und Defätismus in die Bevölkerung trugen.
Seit die Nazis in Polen eingefallen waren, hatte er das Ministerium bestürmt, sofort die moderne Wissenschaft in den Dienst der Landesverteidigung zu stellen. Nach langen Monaten war es ihm endlich gelungen, Dautry, den Rüstungsminister und Großindustriellen, zu bewegen, in Norwegen alles verfügbare schwere Wasser aufzukaufen. Es war buchstäblich fünf Minuten vor zwölf geschehen. Ende März 1940 landete das Sonderflugzeug in Le Bourget, dem Pariser Flughafen, mit zwölf versiegelten Aluminiumkanistern an Bord. Damit verfügte Frankreich über einhundertfünfundachtzig Kilo schweren Wassers, was fast alle europäischen Bestände ausmachte.
Jetzt hatten die Hitlertruppen Norwegen bis auf winzige Reste besetzt und damit auch die „Norsk Hydro“, Europas einzige Fabrikationsstätte für schweres Wasser. Ob die Mitarbeiter dort Zeit gehabt hatten, ihre Geschäftsunterlagen zu vernichten, war mehr als fraglich, und wenn doch – es gab in Norwegen genug Anhänger des Verräters Vidkun Quisling. So oder so würden die Deutschen vom Verkauf der gesamten Bestände des schweren Wassers an Frankreich erfahren. Ihre Fachleute wussten auch, dass es in Frankreich nur einen Ort gab, an dem schweres Wasser zweckentsprechend aufbewahrt werden konnte: das Institut, dem der Professor vorstand. Daraus ergab sich des Gelehrten doppelte Sorge um den Stand der Schlacht an Frankreichs Nordgrenze. Hielt die Front, so mussten die zwölf kostbaren Kanister im Institut bleiben; nur hier war mit ihrem Inhalt die furchtbare Waffe zu schmieden, die Hitlers Eroberungswahn brechen konnte. Hielt die Front nicht, so mussten die Kanister unverzüglich aus Paris geschafft werden, am besten gleich außer Landes.
Vor diesem Dilemma stand der Professor seit sechs Tagen. Während dieser Zeit hatte er bei Dutzenden Behörden vorgesprochen, war von Dienststelle zu Dienststelle gelaufen, hatte gebettelt, gefleht, gefordert, gedroht – vergebens. Niemand wusste etwas, niemand wollte oder konnte ihm Genaues sagen.
In den ersten zwei, drei Tagen hatten ihn hohe Beamte, an deren Treue zu Frankreich er zu zweifeln begann, verlacht oder gar Schwarzseher und Defätist geschimpft. Diese Töne waren seltener geworden, aber Unsicherheit und Verworrenheit aller Auskünfte hatten von Stunde zu Stunde zugenommen.
Heute schrieb man den 16. Mai, und die Volksweisheit „Der Abend ist klüger als der Morgen“ schien sich selbst Lügen zu strafen. Was man gestern noch zu wissen geglaubt hatte, galt heute schon nicht mehr, was heute noch galt, würde morgen vielleicht ungültig sein.
Der Professor sprang auf. Handeln, handeln! Es musste etwas geschehen, ehe die letzte Sicherheit dahinschmolz.
Er verließ das Haus. Wohin? Verdammtes Kriegsministerium. Zehnmal wohl war er dort gewesen. Er würde ein elftes Mal hingehen müssen. Wer sollte besser Bescheid wissen als die Herren dort?
Eine Taxe brachte ihn zum Boulevard Saint-Germain. Vor dem Eingang des protzigen Gebäudes summte ein Bienenschwarm von Menschen, Uniformen aller Waffengattungen, hie und da zwischen diesem Glanz ein fast schäbig wirkender Zivilist.
Der Pförtner fragte barsch, ob der Besucher angemeldet sei. Der Professor lachte bitter auf; wer sollte hier telefonisch durchkommen. Er zückte seinen Ausweis als Mitglied der Académie francaise und durfte schließlich passieren. Der Chefadjutant des Kriegsministers empfing den ihm wohlbekannten Gelehrten mit einem Achselzucken: keine genaue Kenntnis der Lage. Monsieur!
Reichlich unakademisch hieb der Professor mit der Faust auf den Tisch. „Ich verlange den Minister oder den Staatssekretär zu sprechen. Es geht um alles, mein Herr!“
Der Adjutant seufzte. „Bei Gott, es geht um alles, monsieur le professeur.“
Müde, resigniert nahm er den Hörer auf. Der Chef des Büros des Staatssekretärs meldete sich. Unmöglich! Keine Minute Zeit hat der Herr Staatssekretär! Mit ratlosem Bedauern legte der Adjutant den Hörer hin.
„Mann, sagen Sie mir. wie die Front steht“, fuhr der Professor auf. Verbittert antwortete der Offizier: „Die Front steht gut – laut Bericht. Aber das werden Sie ja selbst gehört haben, mein Herr.“
„Ich gehe zum Präsidenten der Republik“, sagte der Professor drohend.
Der Adjutant nickte. „Gehen Sie, mein Herr, Sie können ihm weinen helfen, mehr aber nicht.“
Wortlos wandte sich der Professor ab und verließ das Haus. Bis zum Quai d’Orsay waren es nur einige Schritt. Vielleicht wusste das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten mehr?“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:
1987 veröffentlichte Wolf Spillner im Kinderbuchverlag Berlin „Taube Klara oder Zufälle gibt es nicht“: So kannte Hannes seine Mutter noch nicht: Opas Lieblingstaube Klara hing tot in ihrer Hand. Sicher, resolut war Mutter schon immer, der Kapitän zu Hause, obwohl doch Vater auf großen Schiffen zur See fuhr. Aber Mutter war auch verständnisvoll, lieb und vor allem: hilfsbereit. Nicht einen Augenblick hatte sie gezögert, mit dem Schlitten in der Weihnachtsnacht durch Kälte und Schnee zu ziehen, um den hilflosen Nachbarn Pinkau zu holen, dem andere die Hilfe verweigerten. Doch Klara töten? Omas einzige Gefährtin nach Opas Tod? Gewiss, Mutter hatte sich vor ihr geekelt, vor dem Taubendreck in der Küche, sie fürchtete um Omas Gesundheit und würde Oma am liebsten mit nach Berlin nehmen. – Zwei Weihnachtstage zu Besuch am Jammerfeld – Hannes wird sie nie vergessen. „Taube Klara“ wurde in acht Sprachen übersetzt und 1991 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Hier der Beginn der aus Sicht von Hannes erzählten Geschichte einer Annäherung, auch wenn es da noch gar nicht so aussieht:
„Taube Klara
Die Landschaft ist grau und dreckig grün. Die Bäume stehen kahl wie Besen auf den platten Feldern. Wir sind schon über die Elbe gefahren, über die lange Brücke. Schnee gibt es hier nicht mehr. Vielleicht hat es zu Hause in Berlin nicht geschneit. Liegt ja mehr im Süden. Hier im Zug ist es ganz schön warm.
In Groß Proseken gab es noch etwas Schnee. Aber als wir in dem Bus-Wartehaus standen, pingelte schon Regen auf dem Blechdach. Omas Ziehwagen wurde total nass, und ich dachte daran, wie Oma den Wagen allein durch den nassen Schnee zurück zum Jammerfeld ziehen musste. In diesem Dreckwetter. Ich habe gefroren.
Oma band sich ihr Tuch fester und schob sich den Hut unter dem Tuch weiter nach vorn. Ihr Gesicht war noch kleiner als vorher und ihre Augen sehr hell, wie Wasser. Da hat sie es noch mal gesagt.
„Du machst mir bisschen angst, Karin“, sagte Oma.
Mutter schob die Schultern nach vorn zusammen. Nicht nur wegen der kalten Nässe. Sie wollte es nicht hören, und ich wünschte sehr, dass der Bus endlich um die Kurve kommen sollte, hinter der Kirche hervor, über die holprige Dorfstraße.
„Der Willi hat eine gute Frau in dir“, sagte Oma, „bist auch ein gutes Mädchen. Aber wirst ja gemerkt haben, es möcht besser sein, wenn ich nicht komme!“
Mutter schüttelte nur den Kopf. Ich weiß, sie hat Oma genau verstanden. Dann rollte der Bus heran, und Mutter hat unseren Koffer aufgehoben. Antworten konnte sie nicht mehr.
Mir saß wieder so ein dicker Kloß im Hals. „Oma“, habe ich gesagt, „Oma!“ Mehr konnte ich nicht.
„Ist ja schon gut, Jungche, ist ja gut!“
Oma nahm mich in ihre Arme. Richtig gedrückt hat sie mich, und ich fühlte ihre spitze Nase an meiner Backe.
„Nun mach schon, Hannes“, rief Mutter, und der Busfahrer drückte auf seine Hupe. Der Motor lief sehr laut. Ich konnte kaum verstehen, was Oma sagte. Ich nahm die Skier, die standen noch im Wartehaus.
„Komm auch wirklich wieder, Hannes“, sagte Oma. „Und deine Mutter auch!“
Dann fuhren wir los, und ich konnte sie nur noch undeutlich sehen. Die Scheiben waren so bespritzt vom nassen Straßendreck. Oma blieb als dunkler Fleck vor der Wartebude, der sich winkend bewegte, bis der Bus in die Kurve ging. Genau da musste ich plötzlich denken, dass sie ganz und gar weg sein könnte. So wie Opa. Ich will aber nicht denken, dass sie weg ist.
Der Zug schaukelt. Er stuckert, und die Räder tuckern auf den Schienenstößen. Mutter schläft. Sie hat sich in die Ecke gekuschelt, den Mantel halb über sich. Ihr Kopf schaukelt an der Lehne hin und her. Sie sieht richtig lieb aus, wenn sie schläft. Wie auf Befehl kann sie schlafen. Das hat sie sich beigebracht, und das braucht sie auch, wenn sie Nachtdienst hat im Krankenhaus. Aber sie kann auch auf einen Schlag wieder wach sein, und dann ist sie voll da, ohne lange zu blinzeln. Augen auf, und es geht weiter. Mit der Arbeit oder was gerade so anliegt. Willenssache, sagt sie, reine Willenssache.
Über dem Koffer wackeln meine Skier hin und her. Wenn sie runterfallen, knallen sie uns und den anderen Leuten genau auf die Beine. Aber sie fallen nicht. Mutter hat ihre Tasche davorgeklemmt. Kann gar nichts passieren.
Mutter ist perfekt, sagt Vater. Ob er das immer gut findet, weiß ich nicht, denn wenn er von See kommt, ist sie der Käptn zu Hause. Sie ist immer der Käptn, und sie weiß, was Sache ist, egal, was anliegt. Für Oma wollte sie’s auch wissen. Und Oma sagt: Du machst mir bisschen angst!
In meinem Campingbeutel steckt der Vogel aus Holz. Eine Taube ist das nicht. Er hat keine roten Augen wie Klara, und Klara ist tot, und Oma weiß das. Wie es dazu kam, weiß ich noch immer nicht. Vielleicht wollte Mutter Klara gar nicht totmachen. Kann ja sein, dass es Zufall war.
Zufälle gibt es nicht, sagt Vater. Alles hat Ursachen! Kein Schiff läuft aus Zufall auf Grund. Wer seinen Kahn auf Grund setzt, der hat nicht aufgepasst. Oder der weiß zuwenig. Und dann, peng, passiert es. Wenn der Hund nicht, dann hätt er den Hasen gehabt, sagt Vater. Wenn der Hund nicht gekackt hätte! Aber solche Sprüche will Mutter nicht hören. Das gehört sich nicht! Also hält sich Vater zurück. Er grient nur ein bisschen und sagt: Wenn der Hund nicht…
Ich weiß genau, was Vater denkt, und Mutter natürlich auch. Es kann schon ausreichen, dass sie sauer ist. Kommt ganz drauf an, wie ihr Dienst war. Was alles passiert ist im Krankenhaus.
Zufall oder nicht – Klara ist tot. Liegt im Müllcontainer am Jammerfeld. Nichts mit weggeflogen oder Habicht! Das kann man Oma nicht erzählen.
Mutter, Mutter! Ich versuche schon wieder, mir vorzustellen, was sie sich so gedacht hat. Wie sie mit der Taube über den Hof kam. Das vergesse ich nicht, und sie soll es auch nicht vergessen. Deshalb habe ich meinen Holzvogel mitgenommen. Ohne rote Augen.
Mutter schläft, und ihr Kopf schaukelt an der Lehne hin und her.
Der Zug ist voll. Auf dem Gang stehen eine Menge Leute mit ihren Koffern. Mutter kann das nicht passieren. Sie hat schon lange vorher Platzkarten bestellt. Da habe ich noch nicht an Weihnachten gedacht. Aber wir haben jetzt Fensterplätze!
Wenn es so voll ist, fahre ich nicht gerne. Dann haben alle nur schlechte Laune, wenn man mal den Gang lang zur Toilette muss. Dabei könnte es gut sein, so mit anderen Leuten im Abteil. Da kann man was lernen. Manchmal ist viel dummes Gequatsche dabei, aber oft ist es auch interessant oder sogar spannend. Ich höre gerne zu. Doch jetzt erzählt keiner was.
Das Mädchen in der Ecke an der Tür strickt. Das wird ein Pullover, hellblau. Ihre Hände sind ganz fix. In der anderen Ecke sitzt ein Mann mit einem Rätselheft. Manchmal pult er mit seinem Kugelschreiber im Ohr. Dann weiß er wohl nicht weiter. Wenn er den Kuli verkehrt rum ins Ohr stecken würde, hätte er schon blaue Flecken. Das passiert aber nicht. Er peilt nur über seine Brille im Abteil umher. Dann wackelt er ein bisschen mit dem Kopf und macht weiter. Kreuzworträtsel sind doof.“
Erstmals 1999 erschien in der DIE-Reihe (Delikte, Indizien, Ermittlungen) des Verlags Das Neue Berlin „Janusgesichter. Stories aus der Klemm & Klau GmbH Ost“ von Hans-Ulrich Lüdemann. Zunächst spricht die Heldin des Buches über sich selbst: „Mein Name ist Mildred Sox, Diplom-Kriminalistin. Ich bin diejenige, die aufgrund besonderer Lebensumstände (mein Ex-Lebenskamerad war IM und hatte mich als Quelle gegen meine Genossen in der MUK missbraucht) aus dem Polizeidienst gefeuert wurde und demzufolge geradezu als Überlebensstrategie eine Privatdetektei in Potsdam gründen musste …
Alle weiteren Fakten sind meiner Story „Detektei Rote Socke“ zu entnehmen. Niemand hatte mir in der Wiege gesungen, dass ich als illegitime Tochter einer blaublütigen Amalia von Hohenheim und dem in Deutschland stationierten GI James Fenimore Sox, später bei Nacht und Nebel in die USA verschwunden und seinerzeit millionenschwerer Eigentümer des Baseball-Teams Boston Red Sox, als diplomierte Kriminalistin in der DDR (Abschluss an der Humboldt Universität Berlin) Karriere machen sollte. Die übrigen fünfzehn Geschichten in „JANUSGESICHTER“ beschreiben in der Regel Fälle aus dem deutschen Osten wie sie mir entweder in der eigenen MUK, von früheren Genossen anderer Mord-Untersuchungs-Kommissionen oder von späteren Kollegen in verschiedenen Sokos bekannt wurden. Zumeist handelt es sich um eine Kriminalität, wie sie vor 1990 im Osten nicht vorhanden war“. Ihre „Detektei Rote Socke“ führt Mildred Sox mit weiteren Stories fort. Hier der Anfang von einer davon:
„TATORT F-SEXUNDNEUNZIG
Von einem höchst blamabel abgeschlossenen Kriminalfall wird, wie im Nordosten Deutschlands bei solcherlei Ereignissen allgemein und von altersher üblich, nur hinter vorgehaltener Hand erzählt. Dies geschieht um so versteckter, wenn der Täter nicht zu fassen war. In jener Sache begann alles damit, dass Kriminalobermeister Held einen Stolz in sich fühlte, ähnlich dem jenes ungelenk plattdeutsch Süßholz raspelnden Jungbauern, der es gegen eine überhebliche Konkurrenz aus der nahen Stadt geschafft hatte, die Schönste im Saale zum Tanze führen zu dürfen …
Anders gesagt: Die Kollegen in der Kriminalinspektion würden bannich staunen, wenn ausgerechnet er, der von allen ganz offensichtlich unterschätzte frischgebackene Kriminalobermeister Pit Held, weil ein kleiner und unauffälliger Mitarbeiter mit Abitur, ihnen seinen Bericht präsentierte! Auf dem Beifahrersitz neben ihm lag nämlich das lackschwarze Diplomatenköfferchen des ermordeten Schriftstellers Daubner mit seinem alles offenbarenden Buchmanuskript und hinter ihm saß in Handschellen – kein geringerer als der überführte Täter …
„Die nächsten Abiturjubiläen werden Ihre Klassenkameraden wohl ohne Sie feiern, Herr Zentlin“, redete Held munter drauflos und er warf einen prüfenden Blick in den Rückspiegel. „Auch wenn Sie vor der Abfahrt telefonisch Ihren Anwalt zu uns in die Kriminalinspektion bestellt haben – der wird nicht viel für Sie ausrichten können, meine ich. Richten Sie sich besser schon mal darauf ein, Herr Zentlin, dass Sie etliche Jahre werden absitzen müssen.“
„Ich – etliche Jahre werde absitzen müssen?“, tönte Zentlin gelassen aus dem Wagenfond. „Junger Mann – das haben Sie gesagt.“
In seinem handgestrickten Rollkragen-Pullover aus grober Schafwolle und einem speckigen dunkelblauen Hamburger auf dem massigen Schädel sah der graubärtige Zentlin eher wie ein erfahrener Segler aus, der nach anstrengendem Wochenendtörn heimgekehrt war.
„Als Sie anreisten, haben Sie da bereits von diesem Manuskript Ihres ehemaligen Mitschülers Daubner gewusst? Dass der ein Buch über einen Top-Agenten der DDR namens OMEGA alias Edgar Zentlin geschrieben hatte und sozusagen als Heimspiel am Abend vor seinem Tod eine Premiere mit dem Text über Ihr Leben veranstaltete, ehe er sich auf die Suche nach einem Buchverlag begeben wollte? Das ist dir schon ein Ding, mein lieber Scholli!“ Fast in Ehrfurcht ergriffen von seiner blitzgescheiten Auffassungsgabe, seufzte Kriminalobermeister Held. Erklärend fügte er hinzu: „Soviel Grips muss einer erst mal haben, meine ich. OMEGA – der letzte Buchstabe im griechischen Alphabet gleich dem deutschen Z wie Zentlin – Dunnerklüter!“
Der künftige vorpommersche Sherlock Holmes schwätzte in einem fort. Er tat dies beileibe nicht, weil ihm etwa die Angst vor der eigenen Courage gleichsam im Nacken saß, sondern nur, um ihre gemeinsame Fahrzeit etwas zu verkürzen. Dabei schien Held gar keine Antwort von seinem zwangsweise im Fond sitzenden Passagier zu erwarten. Über die konkreten Tatzusammenhänge sollten sich Helds Vorgesetzten ihre Köpfe zerbrechen. Die waren besser bezahlt und hielten sich sowieso für die Klügsten und Erfahrensten überhaupt. Es war ja schon unter ihrer Würde, den neuen Mitarbeiter Pit Held mit seinem Dienstrang anzusprechen. Es hieß von Anfang an immer nur: KOM Held. Zugunsten jener älteren Kollegen mochte der Betroffene allerdings nicht annehmen, dass sich hinter dieser Wortzusammensetzung gar eine leicht ironische Anspielung verstecken könnte. Aber egal wie – Kriminalobermeister Held würde ihnen alle notwendigen Fakten zum Fall Daubner, den überführten Mörder inbegriffen, frei Haus liefern.
„Was es doch für Zufälle im Leben gibt, meine ich.“ Erneut vergewisserte Held sich im Rückspiegel, dass mit Zentlin alias OMEGA alles seine Ordnung hatte. Dann fuhr er fort: „Also dieses Abitur-Jubiläum. Da müssen Sie ja mittlerweile alle um Mitte fünfzig sein, meine ich. War Ihnen eigentlich wohl dabei, in solch einem Etablissement zu übernachten? Zugegeben – der Platz auf der Klippe ist wohl der schönste am Bodden. Mein lieber Scholli: dass einer aus Ihrer ehemaligen Klasse aus dem Westen zurückkommt und so ein Haus in seinem Geburtsort bauen lässt? Eine dankbare Gemeinde hat der jedenfalls hinter sich. Kommt doch in den nächsten Jahren ein Geldregen an Steuern auf ihr Dorf hernieder. F-SEXUNDNEUNZIG – darauf muss einer erst mal kommen, Herr Zentlin. Ich weiß nicht, ob Sie das noch wissen: die alte F-96 läuft zwischen Stralsund und Greifswald parallel zur Fernverkehrsstraße 96a – heute sagt man ja Bundesstraße 96 oder Europastraße 251 dazu“, wandte Held der Ordnung halber ein. „Was soll’s. Alle Stewardessen in diesem einer Raumkapsel nachempfundenen Motel sind also den Männern nicht nur im Restaurant zu Diensten! Jeder Gast kann sie nach einem Verzehr im Restaurant für ein Dessert for Two after bestellen! Ganz offiziell. Eine neue Serviererin tritt dann sofort an deren Stelle. Sie sind doch ein weit gereister Mann, Herr Zentlin – ist das nun die neueste Variante im Rotlicht-Milieu?“
„Reinhard hatte schon während unserer Schulzeit immer originelle Ideen“, ließ der Mann im Fond sich vernehmen.
„Aber wie ich gehört habe, Herr Zentlin, soll auch das Abitur-Jubiläum zu Beginn harmonisch verlaufen sein?“ Der Kriminalobermeister hielt inne, weil er sich auf eine stark befahrene Kreuzung, deren Ampelregelung ausgefallen war, konzentrieren musste. Einige Minuten schwieg der Kriminalist, ehe er in Ermangelung einer Antwort seinen Faden weiterspann:
„Tscha – wenn unsereiner Ihren ehemaligen Klassenkameraden glauben darf – bis jener Klaus Daubner irgendwann, getrunken hatte er wohl auch nicht gerade wenig, zu später Stunde anfing, aus dem Nähkästchen zu plaudern: wer wem mal übel gesinnt gewesen war; welcher Lehrer mal mit welcher Schülerin gern ein Techtelmechtel gehabt hätte; was es mit den Ausreißern oder Ausreisern unter den ehemaligen Klassenkameraden so alles auf sich hatte. Hatte er doch wörtlich gesagt, Herr Zentlin: Zu den Letzteren, und das sei doch wohl für alle Anwesenden garantiert neu, zähle als sogenannter Kundschafter des Friedens auch ihr ewiger Klassenprimus Edgar Zentlin – gegenwärtig als Geschäftsführer in nobler Hamburger Chefetage von EURO-ELECTRONIC untergetaucht …”
Pit Helds bewusst eingelegte Kunstpause veranlasste den vierschrötigen Mann, unter dessen Schirmmütze sich ein grauer Haaransatz nicht verstecken konnte, überhaupt nicht, der soeben gehörten Schilderung beizupflichten oder zu widersprechen.
„Dieser Klaus Daubner war wohl schon in der Schulzeit nicht sehr beliebt gewesen, Herr Zentlin? Oder ist der erst durch seine Krankheit so gallebitter geworden?” Da wiederum keine Antwort hinten ihm zu vernehmen war, ließ Held seinem Redefluss weiter freien Lauf: „Dessen einsames Leben im Rollstuhl stelle ich mir nicht leicht vor. Sie muss er ja besonders gut gekannt haben, Herr Zentlin? Hat Daubner Sie denn des Öfteren besucht im Westen? In seinem Buch über jenen MfS-Kurier OMEGA, aus dem er am Abend vorgelesen hatte; da soll Daubner ja einige Details, die für eine Anklage durch die Staatsanwaltschaft ausreichen könnten, preisgegeben haben. Haben mir, wie gesagt, Ihre ehemaligen Klassenkameraden jedenfalls so erzählt. Stimmt es wirklich, dass Sie als Stasi-Kurier zur Tarnung Ihrer Tätigkeit in Spanien Hochsee-Jachten vermieteten und Modenschauen in Amsterdam organisierten? Finde ich toll! Und dann: Ihre Wohnung soll genau dem Büro des Polizeipräsidenten gegenüber gelegen sein. Und nach dem, was Daubner zum Besten gegeben hat – er soll auch in seinem Manuskript, die Stelle hatte er dem Vernehmen nach wohl sogar vorgelesen, Herr Zentlin, Ihre fantastische elektronische Abhöranlage beschrieben haben. Konnten Sie denn mit den installierten Richtmikrofonen wirklich Gespräche im gegenüberliegenden Polizeipräsidium abhorchen?”
Edgar Zentlin alias OMEGA verhielt sich wie die Beschuldigten in guten Filmen – er verwies Pit Held auf seinen Anwalt, der sicherlich bereits auf ihn in der Kriminalinspektion wartete. Zentlin schwieg auch hartnäckig, als der andere von ihm wissen wollte, wann er in der Nacht seine raffinierte Idee ausgeführt habe, um den Schriftsteller Klaus Daubner mitsamt Auto aus zwanzig Metern Höhe von der Steilküste in den Bodden stürzen zu lassen.“
2002 veröffentlichte Hans Bentzien im Westkreuz-Verlag GmbH Berlin/Bonn „Überhaupt zeige man Charakter! Leben und Werk des preußischen Staatskanzlers und Reformers Karl August Fürst von Hardenberg“: Karl August Fürst von Hardenberg (1750-1822), von 1804 bis 1806 preußischer Außenminister und von 1810 bis 1822 Staatskanzler, kämpfte zeit seines Lebens in Preußen um grundlegende Reformen und um eine Stellung, die ihm das in direkter Absprache mit dem König Friedrich Wilhelm III. Sein Hauptziel, die Einführung einer Verfassung und die Mitsprache des Bürgertums, hat er nicht erreicht. Trotz vieler Niederlagen, z. B. musste er auf Drängen Napoleons 1806 als Außenminister zurücktreten, gab er nicht auf und erhielt erst im höheren Alter die verdiente Anerkennung. Mit hohem diplomatischem Geschick führte er Friedensverhandlungen mit England, Frankreich, Österreich und Russland und erreichte auf dem Wiener Kongress 1815 erheblichen Gebietszuwachs für Preußen. Er war maßgeblich an der Gewerbefreiheit, der Bauernbefreiung und der Emanzipation der Juden in Preußen beteiligt. Hans Bentzien schildert in seinem Buch sehr fundiert und interessant Leben und Arbeit Hardenbergs und gibt gleichzeitig einen guten Einblick in die Geschichte Preußens im 18. und 19.Jahrhundert. Besuchen wir den Schlossherrn und sein Anwesen:
„Das Schloss, der Schlossherr
Das Anwesen muss jeden Betrachter entzücken, der an den Rand des Oderbruchs kommt. Eine solche architektonische Kostbarkeit in dieser abgelegenen Gegend? Ungewöhnlich ist es nicht, um nur einige Beispiele zu nennen: Schloss Steinhöfel bei Fürstenwalde, ein bedeutendes Werk David Gillys, mit einem der ersten englischen Parks von Eyserbeck und in der Nähe Alt Madlitz mit seinem Gutshaus in stattlichem Spätbarock, unweit von Tempelberg, dem ersten Wohnsitz Karl August von Hardenbergs in Preußen oder die dreiflügelige Schlossanlage aus dem Ende des 17. Jahrhunderts in Heinersdorf sowie nördlich davon, in Prötzel, das imposante Schloss des Grafen Kameke, nach einer Idee von Andreas Schlüter. Man muss nur den Landstreifen zwischen Berlin und Küstrin unter die Wanderschuhe nehmen, und man hat ein überzeugendes Beispiel für die preußische Art, Staatsdiener fürstlich zu belohnen. Das alte Wort von Friedrich Wilhelm I. „Hat Geld, soll bauen!“ findet hier seine Ausprägung. Die fürstliche Dotation umfasste eines der größten Besitztümer in Deutschland „zum Andenken unseres Staatskanzlers Herrn Fürsten von Hardenberg“, und es sollte den Namen Neuhardenberg führen, wie es in der Verleihungsurkunde König Friedrich Wilhelms III. vom 11. November 1814 heißt.
Zwischen der Verleihung und der tatsächlichen Inbesitznahme liegen fast acht Jahre. Das Schloss musste umgebaut werden und war jetzt der als Alterssitz eines Fürsten gedachte zentrale Ort einer Ansammlung von Gütern, Wäldern, Teichen, Mühlen, Schäfereien, Brauereien und Schnapsbrennereien. Über die Einwohner war Karl August Fürst von Hardenberg jetzt der Patronats- und Gerichtsherr und konnte hier seine Reformen durchführen, soweit sie auf die Landbevölkerung anzuwenden waren. Die Bauabnahme erfolgte wahrscheinlich kurz vor seinem 72. Geburtstag, zu Pfingsten 1822. Er notiert, dass Schinkel angekommen sei und Neubart, der Maurermeister, von Schinkel Zeichnungen bekommen habe. Beide seien wieder abgefahren und Pückler, der an der Gestaltung des englischen Parks beteiligt war, sei eingetroffen. Aber der Besuch des Schwiegersohns galt wohl eher dem Jubilar. Weitere Gäste waren zur Feier aus Berlin gekommen.
Im Juli und August fährt er noch einige Mal von Berlin nach Neuhardenberg, trifft sich auch noch einmal am 13. und 14. Juli mit Schinkel und Pückler und vier Wochen später verlässt er Neuhardenberg für immer. Sollte es ein Symbol für sein Wirken sein, so wäre es bestimmt nicht dieses Schloss, sondern eine Kutsche. Er hat Europa unermüdlich bereist, es gibt Berechnungen darüber. Einen großen Teil seines Lebens verbrachte er arbeitend in einer Kutsche auf staubigen Straßen, allein oder in großer Kolonne.
Er strebte immer danach, sich mit bedeutenden Männern zu umgeben, Stümper waren ihm ein Gräuel, und so gab es auch nur einen Baumeister, der für den Umbau seines Schlosses infrage kam: Karl Friedrich Schinkel. Als zwanzigjähriger Anfänger hatte der bereits hier gewirkt. Sein Lehrer David Gilly wollte oder konnte nicht lange von Berlin fernbleiben, und so schickte er den jungen Mann, um das 1801 abgebrannte Dorf Quilitz modern umzugestalten. So wie wir heute Neuhardenberg als Angerdorf sehen, hat Schinkel es konzipiert, Wohnhäuser und Stallungen wurden voneinander getrennt. Auch an der Kirche erkennen wir den Einfluss seiner Kunst. Der Gewölbehimmel mit den 3582 Sternen erinnert an seine Bühnendekoration für Mozarts „Zauberflöte“. Ursprünglich war das Schloss des Generals Joachim Bernhard von Prittwitz nur einstöckig. Die Legende berichtet zwar, er beabsichtigte, es aufzustocken, dass aber sein König, Friedrich II., dem er auf dem Schlachtfeld des nahe gelegenen Kunersdorf (Kunowice) das Leben gerettet hatte, einem Mann seines Ranges doch nicht erlauben wollte, „hoch hinaus“ zu bauen. Später fiel der Prittwitzsche Besitz wieder an die Krone zurück, und der König fasste ihn mit dem Hauptort Quilitz zur Herrschaft Neuhardenberg zusammen.
Karl August von Hardenberg kannte die Gegend und hatte den Sohn des Generals mehrfach besucht. Anfang Juli 1806 notiert er: „Zu Tempelberg den eigenen Haushalt angefangen.“ Das ebenfalls im Kreis Lebus unweit von Fürstenwalde gelegene Gut hatte er um die Jahrhundertwende vom Erlös seines Besitzes Hardenberg/Nörten, den er an einen Verwandten verkaufte, erworben. Damit hatte er sich von seiner hannoverschen Herkunft konsequent entfernt und wurde auch dem Wohnsitz nach ein Preuße. Hier brachte er seine Mätresse Charlotte Schönemann unter, nachdem er von seiner zweiten Frau geschieden worden war. Sie war bei Hofe nicht zugelassen und musste sich damit begnügen, seine wertvollen Sammlungen von Büchern und Gemälden zu hüten und für den Freundeskreis Gastgeberin und musikalischer Mittelpunkt zu sein. Der Sängerin war Karl August von Hardenberg in Frankfurt am Main begegnet. Trotz seines Ehestandes hatte er sie mit sich genommen. Nach seiner Scheidung hatte er allerdings keine Erlaubnis für eine Ehe mit ihr vom König erhalten. Immerhin war er preußischer Minister und daher in jeder Beziehung an den Hof gebunden. Eine Bürgerliche zu heiraten war damals für einen Freiherrn in hoher staatlicher Stellung undenkbar.
Tempelberg war ein Glücksfall in verschiedener Beziehung, die landwirtschaftlichen Bedingungen waren günstig. Trotz eines heißen Sommers stand die Ernte gut. Der Vergleich mit den Gutsnachbarn fiel zu seinen Gunsten aus. Wichtiger aber war, dass der Ort recht abgelegen, wenn nicht abgeschirmt war, und daher für allerlei diplomatisch vertrauliche Unternehmungen bestens geeignet. Für Kuriere von Berlin günstig gelegen, konnte man ihn auf der Verbindungsstraße Berlin-Fürstenwalde-Frankfurt/Oder schnell erreichen. Heute noch liegt der Ort abseits von den Hauptstraßen. Die Erinnerung an den Staatskanzler ist hier nicht mehr lebendig. Von den Gebäuden stehen nur noch wenige Scheunen, vom Park ist kaum etwas erhalten. Das Schloss wurde ein Opfer der Kämpfe schnell gebauter Verteidigungsringe um Berlin und wurde im April 1945, von SS-Einheiten verteidigt, durch sowjetische Artillerie zerstört.
Von hier aus unternahm Hardenberg mit Freunden und Angestellten zahlreiche Ausflüge ins Oderbruch und jenseits der Oder, besichtigte zum Verkauf stehende Güter und besuchte Quilitz und den seinerzeit schon berühmten Albrecht Daniel Thaer in Möglin, wo gerade die Mögliner Lehranstalt eröffnet wurde. Das war der Beginn einer modernen Landwirtschaftswissenschaft. Der fast gleichaltrige Arzt aus Celle hatte sich in der Biologie weitergebildet, die damals am weitesten entwickelte englische Landwirtschaft studiert und 1798 ein aufsehenerregendes Werk „für denkende Landwirte und Cameralisten“ veröffentlicht. Hardenberg machte den König auf diesen Neuerer aufmerksam und erreichte, dass Thaer auf 300 Hektar Land in Möglin und Umgebung seine Studien und die Lehrtätigkeit fortsetzen konnte. Eine namhafte Anschubfinanzierung aus der königlichen Schatulle erleichterte den Schritt nach Brandenburg, wo er 1809 zum Staatsrat berufen wurde. Von seinem Nachbarn wollte Hardenberg lernen, fand aber, dass dessen theoretischen Überlegungen weit interessanter waren als seine praktischen Ergebnisse. Das Andenken an Karl August Fürst von Hardenberg in Tempelberg war verschüttet, weil es weder ein Denkmal noch andere Hinweise gab.
Doch viele der Besucher werden sich fragen, worin seine Verdienste bestanden, warum weiß man so wenig von ihm? Sein ständiges Spannungsverhältnis zum König und der Verdacht seiner Zeitgenossen, er sei ein Anhänger der französischen Revolution, wisse sich aber gut zu tarnen, veranlasste den König, Friedrich Wilhelm III. den schriftlichen Nachlass Karl August von Hardenbergs für 50 Jahre ins Geheime Staatsarchiv zu legen. Als Bismarck 1772 die Siegel der Akten seines Vorgängers erbrach, waren die Ideen Hardenbergs entweder schon verwirklicht und hatten sich somit durchgesetzt, oder die politische Entwicklung des kaiserlichen Deutschland verlief nach einem halben Jahrhundert in eine andere Richtung. Neue politische Kräfte waren am Ruder, der Adel verlor an Bedeutung, die Bourgeoisie hatte die Führung im Staat übernommen. Trotzdem, sein hauptsächliches Vermächtnis, die Strukturen des Staates permanent zu reformieren und sein ständiges Wirken für einen effizienten Staat, in dem zwischen Oben und Unten, zwischen Regierung und Volk ein Einverständnis bestehen muss, hat damals wie heute seine Bedeutung. Mit einer einfachen Antwort wird man kaum auf die Gründe kommen, warum Karl August von Hardenberg fast in Vergessenheit geraten ist. Die Meinungen über ihn reichen von der Bewunderung seiner Königin Luise „Unser Hardenberg“ bis zur Verteufelung als gefährlicher Jakobiner auf der Mainzer Verfolgungsliste für die sogenannten Demagogen. Dabei hatte er selbst die Karlsbader Beschlüsse gegen jede Art von revolutionärem Geist für den preußischen Vertragspartner unterzeichnen müssen. Dagegen waren grobschnitzige Urteile wie „Höfling, Lebemann, Frauenheld, gesinnungsloser Anpasser“ und ähnliches noch milde. Aber jede noch so überspitze Beurteilung enthält ein Körnchen Wahrheit. Er hat die verschiedenen Seiten des Lebens ausgekostet, im Guten wie im Bösen und ist wie ein starkes Schiff in den Wellentälern der politischen Verhältnisse des Absolutismus einmal ganz oben und bald darauf ganz unten gesegelt. Zugleich war er scharf in seinem Urteil, selten ungerecht, aber bei weitem nicht immer weise, dabei schnell entflammbar, wenn eine Idee es lohnte.“
Erstmals 1958 veröffentlichte der Aufbau-Verlag Berlin den Gedicht-Band „Fünfzehn Schritte gradaus“ von Hasso Grabner, zu dem der Autor selber Folgendes schrieb und damit zugleich einen Blick auf seine Biografie erlaubt: „Als die ersten der hier abgedruckten Gedichte entstanden, hatte ich ein Vierteljahrhundert meines Lebens hinter mir. Sehr freundlich sind sie nicht gewesen, diese fünfundzwanzig Jahre, obwohl ich sie heute nicht missen möchte. Lehrten sie mich doch, dass eine Heimnäherin für ein Dutzend Sommerkleider vier Mark und sechzig Pfennig Nählohn bekam, wovon sie auch noch den Zwirn bezahlen musste. Länger als zwei Tage brauchte man dafür nicht, den Tag zu zwölf Stunden gerechnet. Währenddessen erholten sich die Damen der Stadt für etwa die gleiche bescheidene Summe auf der Felsche-Terrasse.
War das nicht lehrreich? War es nicht leicht begreifbar, dass man etwas gegen das Unrecht tun musste? In der Arbeiterjugend und von 1929 an im Kommunistischen Jugendverband tat ich es denn.
Die Nazis erzwangen im Buch unseres Lebens einen neuen Abschnitt, einen Punkt aber konnten sie nicht setzen. Dafür setzten sie uns ins Zuchthaus, und da die gesiebte Luft Waldheims der roten Bazillen offensichtlich nicht Herr wurde, verschafften sie uns noch die rauere des Totenberges bei Weimar und eine Nachkur im Strafbataillon 999.
Unter diesen Bedingungen entstanden die ersten drei Teile des vorliegenden Bändchens, als Gegengift sozusagen. Die im Zuchthaus geschriebenen Gedichte mussten der Zensur und dem Blubo-geschärften Blick des Zensors standhalten. „Purpurne Bänder“ waren schon sehr gewagt. Im Lager schrieb man sich nichts auf, das wäre noch gewagter gewesen. Manches davon habe ich auswendig gelernt, manche Bruchstücke später rekonstruiert. In den Schreibstuben der 999er Einheiten gab es auch genug Knechte. Die Lust am gebundenen Wort und am Reim konnte aber niemand totzensieren.
Die Gedichte des „Neuen Lebens“ sprechen – hoffe ich – für sich selbst. Auch ihre Inhalte durfte ich erleben. Hier einige Beispiele aus der neuen, verheißungsvollen Zeit:
„Januar 1946
- 1. Mai 1946
Steh auf Sturm, Frühlingssturm, wilder Geselle,
jage die Wolken unserer Himmel gen West.
Du bist der unüberwindliche, unverdrossene, schnelle
Freund aller Müdegewordenen, der uns erschauern lässt.
Niemand kann sich mehr deinem werbenden Rufe
entziehen,
alle Herzen erfüllt dein Lied des Lebens mit Macht,
alle unsere trüben Gedanken fliehen,
leuchtendes Frührot siegt über Wintersnacht.
Kleinmut und Trübsal füllte finstere Stunden,
Eis und Schnee hielten uns als Gefangene fest,
Kälte und Dunkel haben wir überwunden,
Glücklich der Tag, der uns wieder hoffen lässt.
Glücklich der Tag, da uns wieder Wiesen grünen,
glücklich der Tag, an dem hell der Himmel blaut,
glücklich der Tag, an dem selbst zwischen Ruinen
nun der Mensch wieder besserer Zukunft vertraut.
Maientag, Maitag, der so unendlich entbehrte,
Tag des Triumphes über die Finsternis,
unter deinen Händen wird unsre alte Erde
jung und schön, strahlend und siegesgewiss.
Maientag, Maitag, Tag heller Lebensfreude,
reiße die zagenden Menschen kraftvoll empor!
Maientag, Maitag, glückdurchzittertes Heute,
das sich nicht an das düstere Gestern verlor.
Silvester 1948
Die Glocken läuten zum letzten Male
im Jahr und – Neujahr freie Fahrt!
Aber die Kumpel dort unten im Tale
feiern Silvester auf ihre Art.
Aus Stahl wird Brot – so summt die Hütte,
und dieses Wort hat sie alle gepackt.
Um seine zukunftsfrohe Mitte
dreht sich das Werk im schnellen Takt.
Drüben, in seiner Gaszentrale
jagt der Schwungräder stählerner Kreis.
Cowper summen und Pfeifsignale
gellen über der Werkbahn Gleis.
Hochofen vier wird abgestochen.
Gurgelnd wälzt sich die goldene Flut
über die Rinne. Die Adern kochen,
aber der sprühende Abstich ist gut.
Gierig saugt der Mischer die frischen
Pfannen in sein gefräßiges Loch.
Heute will er mischen und mischen
und ausspeien, ausspeien noch und noch.
Donnernd sprudeln auf der Bühne
Konverter grelle Kaskaden von Glanz.
Ausbruch von Urgewalten, kühne
Funkenfontänen im wütenden Tanz.
Männer mit Mienen wie Erz und Feuer
stehen von Flammenglut umloht,
selbst schon Flamme und Stahl und neuer
Morgen im Morgenrot.
Schweiß und Ruß auf ihren Stirnen
und ihres großen Willens Glut.
Vor ihm neigen Konverterbirnen
ehrfürchtig sich und zollen Tribut.
Schmelze auf Schmelze in die Kokillen,
Block auf Block durch die Straße gejagt!
Max voran – mit unserem Willen
sind wir Sieger, ehe es tagt.
Max voran – mit ihm verbunden
wie Schwefel und Pech auf Gedeih und Verderb.
Prosit Neujahr! – In diesen Stunden
wurden wir Sieger im Wettbewerb.
1950
StalinalleeFreude ist – tief und echt –
in den firstenschmückenden Kronen.
Bauherren sind die Millionen.
Niemand ist Knecht!
Bauherrn und Werkleute – ein Geschlecht!
Sie werden in diesen Häusern wohnen,
die ihre Mühen lohnen,
gut und gerecht.
Drum schmückt sich auch der morgenblasse
Himmel mit vieler Turmdrehkrane
feingliedrigem Ornament,
über dem der Arbeiterklasse
rote Fahne
brennt.
Die Partei
Sie sagt dir nicht,
träume von Morgen
und sieh, dass du heute gut ruhst.
Sie sagt dir,
du musst dich sorgen,
dass du heute das Rechte tust.
Sie sagt dir nicht,
iss und trink nur
und laß dir im Übrigen Zeit.
Sie sagt dir,
dass jedes Ding nur
durch deine Arbeit gedeiht.
Sie sagt dir nicht,
schwätze und schwärme,
was die Zukunft dir Großes gebiert.
Sie sagt dir,
Licht und Wärme
werden vor Ort produziert.
Sie sagt dir nicht,
lache und lebe,
Kleider und Reisen und Wein!
Sie sagt dir,
jedem Gewebe
muß eine Weberin sein.
Sie sagt dir nicht
Illusionen
von einem Schlaraffenland.
Sie sagt dir,
die Millionen
haben es selbst in der Hand.
Sie sagt dir nichts
Populäres
und was man darunter versteht.
Sie sagt dir,
wie über Schweres
der Weg zum Leichten geht.
Sie sagt dir,
Leben und Lachen
und Reisen und Wärme und Wein
sind eines tatfrohen, wachen
Kampfes Gewinn allein.“
Das klingt vielleicht für den einen oder anderen wie aus einer längst vergangenen Zeit. Und es sind seitdem auch ein paar Jahrzehnte vergangen und die Welt hat sich verändert – nicht unbedingt zugunsten des Fortschritts und zum Wohle der Menschheit. Daher ist es wichtig, sich zumindest hin und wieder zu erinnern, welche Kämpfe damals gekämpft wurden und welche großen, aus heutiger Sicht vielleicht etwas zu großen Hoffnungen mit dem Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung verknüpft worden waren.
Viel Vergnügen und Anregungen zum Nachdenken, weiter einen schön Mai, der vielleicht bald manches neu macht, bleiben Sie in diesen noch immer sehr wechselvollen und noch immer schwierigen Zeiten vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.
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