Erfahrungen von Ohnmacht und Vollmacht der Freikirchen
Das Eingangsreferat „Verständnis von Amt und Macht im Neuen Testament“ hielt die ursprünglich aus der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) stammende Heidelberger Privatdozentin Dr. Heidrun Mader. Dabei sprach sie auch die Frage der Gleichberechtigung von Frauen und Männern hinsichtlich kirchlicher Ämter an, die auch in Freikirchen zu Kontroversen führt.
Viele Jünger möchten, wenn jemand „das Sagen hat“
Der Sozialethiker Dr. Ralf Dziewas, Professor an der Theologischen Hochschule des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG) in Elstal bei Potsdam, befasste sich mit „Machtstrukturen in kongregationalistischen Gemeinden und Gemeindebünden“. Er betonte, dass das Lebensgefühl und die Erwartungshaltung der von der 1968er-Bewegung geprägten Generationen in Bezug auf Machtausübung von den heute jüngeren Generationen auch in christlichen Gemeinden nicht uneingeschränkt geteilt würden. Während die jetzt schon Älteren sehr stark an demokratischen Strukturen, Diskussion und Machtteilung interessiert seien, wäre es vielen Jüngeren durchaus recht, wenn jemand „das Sagen hat“.
„In der Macht seiner Stärke. Charisma und Amt aus pfingstkirchlicher Perspektive“ lautete das Referat von Professor Dr. Wolfgang Vondey, Birmingham/England. Deutlich wies er auf theologische Defizite in den Pfingstkirchen hin, zeigte aber auch auf, welch hohes Potential in pfingstlich geprägter Spiritualität für dieses Thema stecke.
Der Karlsruher Pastor der International Christian Fellowship (ICF), Steffen Beck, neu ernannter Leiter von ICF Deutschland, berichtete über die „Leiterschafts-Konzepte und Leiterschafts-Standards in der deutschen ICF-Bewegung“. Hier spiele, ähnlich wie von Dziewas erläutert, Demokratie keine Rolle. Beck nahm für die Art, wie hier Macht in Anspruch genommen, zugeordnet und akzeptiert werde, unter anderem den Begriff „Gottes Schöpfungsordnung“ in Anspruch.
Gemeinde am Bildschirm?
Die nächsten beiden Abschnitte der Tagung widmeten sich unmittelbar aktuellen kirchlichen und kirchenpolitischen Themen. Zunächst diskutierten auf einem virtuellen Podium BEFG-Generalsekretär Christoph Stiba, Frank Uphoff, Vizepräses des Bundes Freikirchlicher Pfingstgemeinden, die Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden Doris Hege, der Pastor des Bundes Freier evangelischer Gemeinden Christoph Lenzen und Tobias Beißwenger, Superintendent in der Evangelisch-methodistischen Kirche, unter Moderation von Dr. Astrid Nachtigall (BEFG) über das Thema „Gemeinde leben am Bildschirm? Freikirchen in digitalen Zeiten“.
Quo vadis VEF?
Anschließend sprach Stiba, der auch Präsident der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) ist, nach einem einleitenden Vortrag mit den Teilnehmenden der Tagung über die Frage „Quo vadis VEF?“ Stiba erläuterte, dass der gleichnamig überschriebene Prozess der VEF von 2017 noch nicht am Ende wäre: „Will die VEF eine Vereinigung im Sinne eines Netzwerkes sein oder will sie mehr sein? Und wenn sie mehr sein will, wie soll dieses ‚mehr‘ dann aussehen?“ Noch gebe es viele Doppelstrukturen, andererseits würden die Mitgliedskirchen noch nicht genug Ressourcen für die ehren- und hauptamtliche Arbeit der VEF zur Verfügung stellen.
Professor Dr. Gilberto da Silva, der an der Lutherischen Theologischen Hochschule der SELK in Oberursel/Taunus lehrt, sprach beim Thema „August Vilmars Amtstheologie: Ohnmacht und Vollmacht des Evangeliums“ über einen Theologen aus seiner Konfession im 19. Jahrhundert. Der Journalist und Buchautor Markus Baum befasste sich mit dem Entscheidungs- und Leitungsmodell der Bruderhof-Gemeinschaften und seiner Entwicklung. Die hohen christlichen Ideale hätten jedoch gegenseitige erhebliche Verletzungen nicht verhindern können.
Umkehr der Machtpyramide
Zum Abschluss der Tagung befasste sich Dr. Martin Grabe, Ärztlicher Direktor der Klinik Hohe Mark in Oberursel, mit „Ohnmacht, Macht, Machtmissbrauch. Grenzüberschreitungen in der Gemeinde aus psychologischer Sicht“. Er berichtete zunächst aus seiner langjährigen Erfahrung mit Patienten aus landes- und freikirchlichen Gemeinden mit verschiedensten Krankheitsbildern im Zusammenhang von Machtmissbrauch. Dann zeigte er unter dem Begriff „dienendes Leiten“ auf, wie durch Umkehr der Machtpyramide gesunde, vielleicht sogar heilvolle Strukturen möglich seien.
VFF
1990 gründeten Theologen und Historiker aus verschiedenen Freikirchen den Verein für Freikirchenforschung. Initiator war Professor Dr. Robert Walton, seinerzeit Direktor des Seminars für Neue Kirchen- und Theologiegeschichte der Theologischen Fakultät der Universität Münster. Heute hat der Verein Mitglieder aus 27 Denominationen. Fach- und Laienhistoriker aus zwölf Ländern gehören ihm an. 180 Einzelpersonen und 21 Institute arbeiten zusammen, um wissenschaftliches Arbeiten im Rahmen der Freikirchenforschung zu fördern.
Der VFF befasst sich mit theologischen und kirchengeschichtlichen Themen aus freikirchlichen Blickwinkeln. Er fördert wissenschaftliches Arbeiten im Rahmen der Freikirchenforschung. Dazu unterhält der Verein auch eine freikirchliche Fachbibliothek, die ihren Standort an der Theologischen Hochschule der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten in Friedensau bei Magdeburg hat.
Darüber hinaus möchte der VFF Freikirchen bei der sachgerechten Archivierung von Quellenmaterial und beim Auf- und Ausbau von Archiven unterstützen. Tagungsbeiträge und Forschungsberichte werden im Jahrbuch des Vereins für Freikirchenforschung veröffentlicht.
Weitere Informationen: www.freikirchenforschung.de.
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