Frischzellenkur für die Realwirtschaft
- Wirtschaftswachstum in China und den USA überzeugt, Europa schwächelt weiter
- EU-Aufbaufonds bietet Chancen, wenn er auf Zukunftsfähigkeit getrimmt wird
- Überbordende Staatsschulden könnten langfristig in einen versteckten Schuldenschnitt münden
Impferfolge, umfassende fiskalische Hilfspakete und die unbegrenzte Liquiditätsbereitstellung der Notenbanken reflektieren sich in den jüngsten weltwirtschaftlichen Quartalsdaten. „In den letzten zwölf Monaten verzeichnete China ein historisches Wachstum von 18,3 Prozent, konnte aber im Vergleich zum Vorquartal kaum noch zulegen. Die USA zeigen über ein Jahr nur ein leichtes Plus, erzielten aber im Quartalsvergleich mit 6,4 Prozent ein deutliches Momentum“, so Thomas Böckelmann, leitender Portfoliomanager der Vermögensmanagement Euroswitch. Doch nicht alle Regionen wachsen gleichermaßen. Deutschland, das exemplarisch für Europa steht, wies im Jahres- wie Quartalsvergleich ein negatives Wachstum auf. „Da sich vor allem europäische exportorientierte Unternehmen dem Aufschwung in China und den USA kaum entziehen konnten, sind es die unverändert im Lockdown befindlichen Dienstleistungssektoren, die ihre Bremswirkung in Europa entfalten“, erklärt Böckelmann.
Unverändert Vollgas bei der Staatsverschuldung
Obwohl die Unternehmensberichte die Erwartungshaltung der Marktteilnehmer – zumindest in den USA – übererfüllten, ist fraglich, ob alle im Zuge der Pandemie verlorenen Arbeitsplätze in den nächsten Monaten wiederbelebt werden können. „Es wird offensichtlich, dass viele Branchen und Unternehmen die Pandemie nutzen, um mit dem Rückenwind der Hilfsprogramme Strukturen zu verändern und Kosten abzubauen. Politik und Notenbanken haben dies erkannt und bleiben weiter mit hohem Druck auf dem Gaspedal“, sagt Böckelmann. Insbesondere in den USA nimmt die Staatsverschuldung schwindelerregende Ausmaße an. „Vor allem Nachhaltigkeit und Rückzahlbarkeit aktueller Schuldenniveaus sind fragwürdig, bleiben aber zweitrangige Probleme, solange die Realzinsen (Zinsniveau abzüglich Inflation) negativ sind und vor allem die eigenen Notenbanken mehrheitlich die Schulden aufkaufen“, ist sich Böckelmann sicher. Insbesondere letzteres könnte auf eine Option einer langfristigen Lösung der sich androhenden Staatsschuldenkrise deuten. „Eine Zins- und Tilgungsaussetzung bei einer Laufzeitverlängerung um zum Beispiel 100 Jahre käme einem Schuldenschnitt gleich, ohne diesen als solchen benennen zu müssen“, so der Investmentexperte.
Zeit für Reformen
Unter der Prämisse würden auch die erstmals von der EU aufgenommenen Schulden kein wirtschaftliches Problem darstellen, auch wenn diese dem Geist von Maastricht komplett widersprechen. „Grundsätzlich ist dies als Einmalaktion zu begrüßen, wenn die Gelder zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit Europas, also vor allem für Digitalisierung und Bildung eingesetzt werden. Allerdings sind die Stimmen nicht zu unterschätzen, die laut nach Umverteilung und grüner Planwirtschaft schreien – beides kann nach Bewertung zahlreicher Ökonomen und Verbände den Erfolg Europas gefährden“, so Böckelmann. Nun sind alle Augen wieder auf Mario Draghi gerichtet: „Der ehemalige Chef der Europäischen Zentralbank, der mit seiner Aussage ‚whatever it takes‘ im Sommer 2012 bereits die Eurozone zusammengehalten hat, argumentiert gegen große Widerstände in seinem Land für zukunftsorientiertes Investieren und Reformen“, sagt Böckelmann. Die Tendenz in der Pandemie zu immer mehr Staat ist in den Augen des Investmentexperten zumindest bedenklich vor allem zu einer Zeit, in der die strukturellen Defizite der Bürokratie offenkundig geworden sind. „Letzteres hat die viel gescholtene EU-Kommission jetzt erkannt. Erstmals hat man Bürokratie als die Wirtschaft belastende Kosten wahrgenommen und benannt und will zukünftig sicherstellen, dass diese nicht weiter steigen. Vielleicht steht auch Europa am Anfang einer Frischzellenkur“, so Böckelmann abschließend.
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