Stehen wir vor einem neuen Inflationsparadigma?
Inflation in den USA
„In der vergangenen Woche haben die Gesamt- sowie die Kerninflation mit 4,2 beziehungsweise drei Prozent ein Mehrjahreshoch in den USA erreicht,“ analysiert Siviero. Der jüngste Anstieg der US-Renditen und der Rückgang der Aktienkurse deuteten allerdings darauf hin, dass es eine Diskrepanz zwischen der Haltung der Fed und den Erwartungen des Marktes gibt. Die Märkte seien der Meinung, dass die Fed den Ereignissen hinterherläuft und dass sie bald viel schneller und härter auf die geldpolitische Bremse treten müsse, als ihre Prognosen vermuten lassen. „Der aktuelle Inflationsschub wurde vor allem durch die beispielslose geld- und fiskalpolitische Reaktion auf die COVID-19-Pandemie, den sprunghaften Anstieg der Energie- und Rohstoffpreise, pandemiebedingte Engpässe und Unterbrechungen in den Lieferketten sowie einen besonders wichtigen Basiseffekt begünstigt,“ so Siviero. Außerdem werde erwartet, dass die Haushalte mit der Wiederbelebung der Wirtschaft beginnen werden, die Ersparnisse aus der Pandemie auszugeben. „Das kann einen Nachholbedarf auslösen, was den Inflationsdruck verstärken wird,“ erläutert Siviero. „Trotzdem glauben wir, dass die Inflation vorübergehend sein wird.“
Inflation in Deutschland
„In Deutschland dürfte die Inflationsrate im April auf zwei Prozent angestiegen sein,“ analysiert Siviero. Ein wesentlicher Treiber dabei seien die Energiekosten, die deutlich höher liegen als im Jahr zuvor. Im Dezember 2020 habe die Inflationsrate noch bei -0,3 Prozent gelegen, da zu diesem Zeitpunkt noch der negative Effekt aus der Mehrwertsteuersenkung von 19 auf 16 Prozent, die von Juli 2020 bis Dezember 2020 galt, vorhanden war. „Dementsprechend wird diese Maßnahme im Juli 2021 einen positiven, also ansteigenden Effekt auf die Inflationsrate haben,“ so Siviero. Es sei also sicher, dass die Inflationsrate in Deutschland im Sommer 2021 deutlich über 2 Prozent steigen wird.
Auswirkungen auf Lieferketten und Nachfrage
„Die COVID-19-Pandemie hat der Weltwirtschaft einen großen Angebots- und Nachfrageschock zugefügt,“ erläutert Siviero. „Die durch die Impfkampagne ausgelöste Erholung und die schrittweise Wiederöffnung der Wirtschaft führt zu einem Wirtschaftsboom, der jedoch nur vorübergehender Natur ist.“ Demnach lähme die weltweite Chip-Knappheit die Autoproduktion und auch die Preise für viele andere Rohstoffe stiegen stark an. Der Grund dafür sei, dass einige dieser Rohstoffe schwer zu beschaffen seien und die Frachtraten Rekordhöhen erreicht hätten. Dass die US-Regierung ein Konjunkturprogramm nach dem anderen auflege, ließe die globale Nachfrage noch weiter ansteigen. „Daher könnte ‚Versorgungsengpass‘ zum Wort des Jahres 2021 werden,“ so Siviero. „Sobald die Weltwirtschaft zu ihrem vorpandemischen Aktivitätsniveau zurückfindet und die Wirkung der fiskalischen Anreize erschöpft ist, wird das Wirtschaftswachstum aber wahrscheinlich auf seinen natürlichen Pfad zurückkehren.“ Die Inflation solle sich dann ebenfalls wieder normalisieren.
Aufgrund der schrittweisen Erholung der Wirtschaft werde es jedoch in manchen Wirtschaftssektoren weiterhin zu einem Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage kommen. „Das wird zu schwankenden Wirtschaftsdaten führen und damit zu einer Phase höherer Inflation, bis sich die Wirtschaft vollständig erholt hat und wieder ins Gleichgewicht kommt,“ analysiert Siviero.
Sobald der wirtschaftliche Aufschwung abgeschlossen sei, würden die derzeitigen Engpässe und Unterbrechungen der Versorgungskette schrittweise abgebaut, was zu einer Normalisierung der Preise für Rohstoffe und Zwischenprodukte beitragen werde. „Da die Lieferkettenengpässe und andere Reibungsverluste vorübergehend sind, ist es unwahrscheinlich, dass sie zu einer anhaltend höheren Inflation führen,“ so Siviero. „Strukturelle Kräfte, die im vergangenen Jahrzehnt eine wichtige Rolle gespielt haben, wie Demografie, Globalisierung und Technologie, werden zudem mittelfristig einen disinflationären Druck aufrechterhalten.“
Die Beschäftigung werde aufgrund struktureller Veränderungen und Unsicherheiten bezüglich der Konjunkturentwicklung wahrscheinlich noch einige Zeit unter Druck bleiben. „Während die aktuellen Ungleichgewichte und Störungen in einigen Sektoren zu einem vorübergehenden Arbeitskräftemangel führen können, hat die Pandemie den Prozess hin zur Automatisierung und Digitalisierung beschleunigt,“ erläutert Siviero. Viele Berufsbilder würden daher nach dem Ende der Pandemie nicht mehr existieren, was zu einer Umverteilung der Arbeitskräfte zwischen den Sektoren führen könne. Dies brauche Zeit und trage dazu bei Lohnsteigerungen und Inflation unter Kontrolle zu halten.
Zugleich stelle sich aufgrund der Unsicherheiten über die Beschäftigungs- und zukünftigen Einkommensaussichten die Frage, wie viel von den angesammelten Ersparnissen wirklich ausgegeben werde. Derzeit gäbe es Anzeichen dafür, dass beispielsweise nur ein kleiner Teil der Subventionen von den US-Privathaushalten bisher ausgegeben wurde, während der Rest entweder angelegt oder zum Schuldenabbau verwendet wurde.
Geldpolitische Unterstützung
„Die Zentralbanken der fortgeschrittenen Volkswirtschaften haben die jüngsten Inflationsschübe bislang relativ gelassen gesehen,“ so Siviero. Diese sähen die vorübergehenden Preissteigerungen als positives Zeichen, das dazu beitrage, die Inflationserwartungen in der Nähe der Zielwerte zu verankern. Die im August des letzten Jahres bekannt gegebene Überarbeitung des geldpolitischen Rahmens hat das durchschnittliche Inflationsziel von zwei Prozent der Fed langfristig neu formuliert. Demnach werde eine Inflation oberhalb des Ziels für eine gewisse Zeit toleriert, um Zeiten auszugleichen, in denen die Inflation darunter lag.
„Die Zentralbanken haben zwar scheinbar ihren präventiven Ansatz für den Umgang mit der Inflation aufgegeben, doch ihre bisherigen Erfolge bei der Eindämmung des Inflationsdrucks sollten uns beruhigen, dass sie über die notwendigen Instrumente verfügen, um mit jedem ungerechtfertigten und anhaltenden Inflationsdruck umzugehen,“ so Siviero. Alles in allem bedeute dies, dass die Inflation in nächster Zeit anziehen werde und für weitere Volatilität bei den Vermögenswerten sorgen dürfte. „Der Preisanstieg wird aber nur vorübergehend sein,“ schließt Siviero. Die politischen Entscheidungsträger würden es wahrscheinlich vorziehen, weitere substanzielle Fortschritte in Richtung ihrer politischen Ziele abzuwarten, bevor sie ihre geldpolitischen Maßnahmen zurückfahren.
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