Reisen & Urlaub

Spannungsfeld Alltagsraum und Urlaubs(t)raum: konkurrierende Ansprüche und Erwartungen von Einheimischen und Touristen

Unter dem Titel „Spannungsfeld Alltagsraum und Urlaubs(t)raum?“ diskutierte das Bayerische Zentrum für Tourismus am 24. Juni 2021 mit Expert*innen aus der Wissenschaft und Tourismuswirtschaft. Im Fokus der vierten Diskussionsrunde, die im Rahmen der Jahresdialogreihe „Tourismus neu denken – Bleibt alles anders?“ stattfand, stand die Frage, wie sich Destinationen aktuell und zukünftig ausrichten können, um die Tourismusakzeptanz einerseits bei Einheimischen zu erhalten oder zu verbessern, andererseits gleichzeitig die Attraktivität für Reisende zu bewahren.    

Deutschland atmet auf: Die Reiselust und das Fernweh sind nach mehr als einem Jahr Pandemie-Lähmung ungebrochen. Doch steht der Tourismus jetzt vor neuen großen Herausforderungen: Das Spannungsfeld zwischen Raumansprüchen von Touristen und Einheimischen wird (wieder) intensiver, kritische Stimmen werden laut. Die Tourismusakzeptanz und Bereitschaft der Einheimischen schwinden zunehmend. Der Konflikt zwischen Alltagsraum und Urlaubsraum ist nun auch in ländlichen Räumen angekommen. Doch welche Transformationen und Lösungsansätze für Destinationen sind denkbar? Diese und andere Fragen stellten sich Wissenschaftler*innen und Touristiker*innen während der digitalen Konferenz unter der Leitung von Prof. Dr. Jürgen Schmude von der Ludwig-Maximilians-Universität München und wissenschaftlicher Leiter des Bayerischen Zentrums für Tourismus.

Tourismusakzeptanz: Spannungsfeld zwischen Einheimischen und Reisenden
Parkchaos an bayerischen Seen, überlastete Verkehrswege an neuralgischen touristischen Sehenswürdigkeiten in Süddeutschland sowie Rücksichtslosigkeit gegenüber Natur- und Wildschutzgebieten: Einheimische werden in ihrem Alltags- und Lebensraum, nicht nur durch das veränderte Reiseverhalten der Deutschen während der Pandemie, durch erhöhtes Tourismusaufkommen herausgefordert. Immer mehr werden die Raumansprüche der Einheimischen durch Reisende strapaziert. Wie viel Tourismus erträgt eine Destination?

Das Thema der Tragfähigkeit wird in der Tourismuswissenschaft schon seit vielen Jahren diskutiert, wie der Moderator und wissenschaftliche Leiter des Bayerischen Zentrums für Tourismus Prof. Dr. Jürgen Schmude zu Beginn der Veranstaltung erläuterte. Neben Aspekten, die die Rahmenbedingungen von Tourismuskapazitäten an einem Ort beleuchten, würden in der heutigen Forschung vor allem die ökonomische Tragfähigkeit (also etwa steigende Immobilienpreise aufgrund hoher Tourismusintensität) und die psychologische/perzeptuelle Tragfähigkeit (Auswirkungen auf den Alltag der Einheimischen und die Erlebnisqualität der Touristen) betrachtet. „Die Problemfelder sind komplex. Tourismusakzeptanz, Lebensqualität, Wirtschaftsfaktor, Mobilität und die Tourismusintensität sind nur Teilaspekte, die es zu betrachten gilt, wenn es um die Diskussion von zukünftigen Lösungsansätzen geht. So rückt auch in der Praxis immer mehr die Frage in den Vordergrund, wie eine Tourismuszukunft gelingen kann, von der sowohl der Gast als auch Einheimische profitieren“, äußerte sich Schmude.

„Es braucht eine neue Form der Tourismusentwicklung und auch neue Ansätze in der Forschung, um die Herausforderungen zu bewältigen“, betonte Prof. Dr. Harald Pechlaner, Lehrstuhlinhaber Tourismus und Leiter des Zentrum für Entrepreneurship der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Als Beispiel, wie es auch anders gehen kann, nennt Pechlaner die Stadt Wien, die mit einer neuen Strategie das Social-Design in den Mittelpunkt stellt. Die wesentlichen Fragen dabei lauten: Was kann der Gast für die Stadt tun und wie schafft man Begegnungen statt nur reiner Erlebnisse?

Der Experte äußerte sich ebenfalls dazu, dass es jetzt an der Zeit sei, interdisziplinär zu agieren und Erkenntnisse beispielsweise aus der Geografie, Psychologie und den Wirtschaftswissenschaften mit in die Tourismusentwicklung einzubeziehen. Auch die Bürgerbeteiligung müsse neu interpretiert werden, innovative Konzepte entwickelt und zeitgemäße Narrative gefunden werden. Denn, so Pechlaner, „Bürgerbeteiligung ist dann gut, wenn nicht fertige Konzepte den Bürgern präsentiert werden, sondern diese von Beginn an in die Erstellung dieser Konzepte eingebunden werden.“ Der Wissenschaftler plädiert dafür, in Findungsprozessen mit den Bürgern die „großen“ Fragen zu stellen: Welchen Gast wollen wir? Wo wollen wir uns als Standort hin entwickeln? Wie kann ein gutes Leben und Wirtschaften gelingen? Wie sieht die Zukunft der Arbeit aus? Welche Raumordnung ist die richtige?

Aufklärung, Respekt und Digitalisierung als Lösungsansätze
Aufklärung und die Integration von Bürger*innen in die Diskussion um nachhaltige Tourismuskonzepte seien der Schlüssel für eine harmonisierende Tourismusakzeptanz. Angelika Schäffer, Geschäftsführerin des Tourismusverband Franken e. V., betonte: „Aufklärungsarbeit sei ein wesentlicher Schritt, um Bürger*innen vor Ort sowie Gäste miteinzubeziehen und für Harmonie zu sorgen, auch, wenn dies ein langwieriger Prozess sei.“ Dem Tourismusverband Franken gelang es vor allem über gezielte Social-Media-Kampagnen und Pressearbeit, Besucher*innen zu lenken und beispielsweise an weniger bekannte und weniger frequentierte Orte zu führen. In ländlichen Regionen jedoch, so Schäffer, sei die Überforderung durch ein erhöhtes Verkehrsaufkommen oder liegen gebliebenen Müll durch Tourist*innen oder Tagesausflügler*innen oft höher als in der Stadt, wo „man als Einheimischer und Gast eher akzeptiert, dass es voll und laut ist“. Schäffer plädiert: „Wir müssen wieder lernen mehr Respekt vor unserem Lebensraum und der Natur zu entwickeln.“

PD Dr. Philipp Namberger, Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschaftsgeographie und Tourismusforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München, schilderte konkrete Konfliktfelder zwischen Tourist*innen und Bewohner*innen innerhalb der Stadt München. Dabei verwies er auf eine Umfrage unter Münchner*innen aus dem Jahr 2018, die u. a. zeigte, dass circa ein Viertel der Bevölkerung Teile der Stadt mied, wenn dort aufgrund von Ereignissen, wie z. B. dem Oktoberfest oder Fußballspielen, Überlastungserscheinungen durch Overcrowding zu erwarten waren. Darüber hinaus beschrieb er den Einfluss von sogenannten Mitwohnzentralen, wie z. B. Airbnb, auf ganze Stadtteile, sowie die unmittelbaren Auswirkungen der Kurzzeitvermietungen auf die Bewohner*innen im eigenen (Mehrparteien-)Haus (z. B. Lärm im Haus, Verlust der Privatsphäre). Allgemein hat München seiner Meinung nach kein Problem mit Overtourism an sich, ein aus seiner Sicht ohnehin „leeres Konzept“, das u. a. wenig differenziert, mehrdeutig und subjektiv sei.

Stefan Fredlmeier, Tourismusdirektor von Füssen Tourismus und Marketing, hat in Füssen und Umgebung oft mit massiven Besucherströmen zu kämpfen, die sich vor allem an überfüllten Verkehrswegen und ungenügendem Parkraum zeigen würden. Auch Maximilian Stark von der Bürgerinitiative Rettet den Grünten e. V. nannte insbesondere den Individualverkehr als Problemfeld. Negative Begleiterscheinungen des Tourismus werden in der Bevölkerung oftmals stärker wahrgenommen als positive. Die Tourismusentwicklung muss zunehmend mit der Standortentwicklung zusammenwachsen, damit die Lebensqualität vor Ort erhalten bleibt.

Fredlmeier sieht die Touristiker*innen dabei in der Verantwortung, die Probleme zu lösen. Kausale Zusammenhänge und Auswirkungen von Maßnahmen bedürften einer differenzierten Betrachtung. Chancen auf wegweisende Veränderungen sieht Fredlmeier in der Mobilitätswende und im digitalen Monitoring. Durch das Sammeln, Aufarbeiten und Bereitstellen von Daten sowie Online-Buchbarkeit, wo immer möglich und sinnvoll, können Besucherströme sinnvoll gelenkt und Maßnahmen gezielt umgesetzt werden. „Auch Gäste haben keine Lust auf Staus, lange Parkplatzsuche oder überfüllte Plätze und Sehenswürdigkeiten“, so Fredlmeier.

Alle Expert*innen der Diskussionsrunde sind sich einig, dass sich mittel- bis langfristig das Verständnis von Tourismusentwicklung sowie das Reisebewusstsein verändern werden. In diesem Zusammenhang weist das Bayerische Zentrum für Tourismus auf den nächsten Termin am 22. Juli 2021 der Jahresdialogreihe „Tourismus neu denken – Bleibt alles anders?“ hin: Dann diskutieren Expert*innen aus Wissenschaft und Wirtschaft zum Thema „Besucherlenkung – Strategien und Maßnahmen“.

Die Vorträge (Keynotes) der Diskussionsteilnehmer*innen sind als Mitschnitt hier abrufbar:
Vortrag von Prof. Dr. Jürgen Schmude
Vortrag von Prof. Dr. Harald Pechlaner
Statement von Maximilian Stark

Über den Bayerisches Zentrum für Tourismus e.V.

Das Bayerische Zentrum für Tourismus (BZT) ist ein An-Institut der Hochschule Kempten. Es wurde im Zuge der neuen Tourismusinitiative des Bayerischen Staatsministeriums für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie gegründet und versteht sich als ein unabhängiger wissenschaftlicher Thinktank. Neben relevanten Forschungsprojekten initiiert und moderiert das BZT den praxisrelevanten Austausch zwischen Wissenschaftlern, Politikern und den verschiedenen Akteuren der Tourismuswirtschaft. Dabei stehen die Vermittlung von Wissen, die Identifikation wichtiger Themen der bayerischen Tourismuswirtschaft, die Vernetzung der bayerischen Tourismusakteure und ein lösungsorientierter Diskurs zur Förderung, Optimierung und Weiterentwicklung der Leistungsfähigkeit des bayerischen Tourismus im Fokus. Ziel des BZT ist die Förderung von Tourismuswissenschaft und -forschung sowie die Intensivierung des interdisziplinären Wissens- und Erfahrungsaustauschs. https://bzt.bayern/

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