TÜV Rheinland: Fahrassistenzsysteme im Langzeitbetrieb nicht immer verlässlich
Auch Assistenzsysteme verschleißen
„Fahrassistenzsysteme schützen Leben. Es ist aus unserer Sicht sinnvoll und richtig, dass ab kommendem Jahr eine Reihe von Assistenzsystemen zur Pflichtausstattung von Neufahrzeugen in der EU gehören, darunter Spurhalteassistenten, Notbremsfunktionen oder Rückfahrsysteme“, sagt Dr. Matthias Schubert, als Executive Vice President Mobilität bei TÜV Rheinland für das globale Mobilitätsgeschäft verantwortlich. Allerdings ist nach Einschätzung von Schubert zu wenig darüber bekannt, wie sich Unfälle, unsachgemäße Reparaturen oder Verschleiß langfristig auf die Funktionsfähigkeit von Assistenzsystemen und damit auf die Sicherheit im Straßenverkehr auswirken. „Assistenzsysteme müssen über viele Jahre hinweg zuverlässig funktionieren. Mit unserer Studie haben wir erste Erkenntnisse darüber gewonnen, unter welchen Umständen Spurhaltesysteme möglicherweise nur noch eingeschränkt funktionieren – und welche Folgen das für die Sicherheit auf den Straßen haben kann“, sagt Schubert. Er plädiert deshalb dafür, weitere Untersuchungen zur dauerhaften Verlässlichkeit der Assistenzsysteme und ihren Verschleiß durchzuführen.
Je nach Szenario zeigte sich in der aktuellen Studie von TÜV Rheinland und TRL, dass die geschätzte Zahl der durchschnittlichen jährlichen Risikoereignisse durch Fehlfunktionen der Systeme sogar bis zu 2,3 Millionen betragen kann. Als so genannte Risikoereignisse gelten Fehler im System, die die Leistung vermindern.
Modifiziertes Testfahrzeug mit verschiedenen Szenarien
Im Rahmen der Studie unternahmen Fachleute von TÜV Rheinland auf der Teststrecke Zalazone in Ungarn Fahrten mit einem modifizierten Testfahrzeug, das über ein hochmodernes Spurhalteassistenzsystem verfügte. So simulierten die Expertinnen und Experten von TÜV Rheinland beispielsweise Beschädigungen der Windschutzscheibe im Bereich der LKA-Kamera, eine fehlerhafte Kalibrierung der Kameras nach Austausch der Windschutzscheibe und Unterbrechungen der Datenkommunikation im Fahrzeug während der Fahrt. Weiterhin wurden Komponenten künstlich gealtert. In einem Szenario nahmen sie zudem Veränderungen am Fahrwerk vor.
Bei den Versuchsfahrten verglichen die Fachleute, wie sich der modifizierte Pkw jeweils in unterschiedlichen Streckenabschnitten (Kurve und Gerade) verhielt. Im Fokus standen Situationen, bei denen weder Kontrollleuchten noch andere Warnsysteme aktiviert wurden. Beobachtet haben die Fachleute etwa bei simulierten Steinschlägen in der Windschutzscheibe, dass sich die Funktion des LKA verschlechterte und es sich in seltenen Fällen ohne Vorwarnung abschaltete. Auch das Überfahren der Fahrbahnmarkierung ohne Vorwarnung oder Reaktion des Systems konnten die Fachleute feststellen. Bei der provozierten Kontaktunterbrechung in der Datenleitung des Pkws während der Fahrt deaktivierte sich das System sofort, die folgende abrupte Rückkehrbewegung des Lenkrads in Richtung der Mittelstellung kann die Fahrerin oder den Fahrer überraschen.
Der Routine-Effekt: Fahrerin und Fahrer werden überrascht
„Die zunehmende Verbreitung von Fahrassistenzsystemen führt dazu, dass wir uns immer mehr auf sie verlassen. Das passiert unbewusst – auch, wenn uns die Systeme eigentlich nur entlasten sollen und die Verantwortung immer bei uns als Fahrerin oder Fahrer verbleibt“, erklärt Rico Barth, globaler Leiter des Kompetenzbereichs vernetztes und automatisiertes Fahren bei TÜV Rheinland.
In der Studie sind Fehlermechanismen, die zu einer verminderten Leistung des LKA führen, als „Risikoereignis“ definiert. Ein Risikoereignis kann beispielsweise dann auftreten, wenn sich ein gealtertes Spurhalteassistenzsystem wie vorgesehen abschaltet, weil es wegen Beschädigung der Windschutzscheibe in gewissen Situationen nicht mehr richtig „sehen“ kann. „Die spontane Abschaltung des Systems wird dann problematisch, wenn der Fahrende in diesem Moment nicht voll konzentriert ist oder die Hände nicht fest am Lenkrad hat, weil sie oder er sich vollständig auf das System verlassen hat“, erklärt Rico Barth. „Mit anderen Worten: Manche Situationen erleben Fahrerinnen und Fahrer als Fehlfunktion, obwohl das Assistenzsystem richtig funktioniert.“
Regelmäßige technische Prüfung für dauerhafte Zuverlässigkeit
Technische Entwicklung und geänderte rechtliche Regelungen werden rasch zu einer weiten Verbreitung von Fahrassistenzsystemen führen. So schätzen die Autoren der Studie, dass bereits 2025 in der EU voraussichtlich rund 9,7 Millionen mit Kameras ausgestattete Windschutzscheiben ausgetauscht werden; 2019 waren es erst zwei Millionen. Die Qualität dieser millionenfachen Reparaturen hat erheblichen Einfluss auch auf die Funktion von Assistenzsystemen, von denen Komponenten in der Windschutzscheibe verbaut sind. „Die zunehmende Verbreitung von Assistenzsystemen und deren hervorragende technische Qualität sind enorm wichtig, um noch mehr Verkehrssicherheit zu erreichen“, sagt Matthias Schubert. „In unserer Studie hat sich aus unserer Sicht bestätigt: Wie gut ein technisches System auf Dauer funktioniert, kann nur eine regelmäßige Wartung und technische Überprüfung zeigen. Dafür ist unter anderem der Zugang zu den Systemdaten für unabhängige Dritte wie TÜV Rheinland im Rahmen der wiederkehrenden Hauptuntersuchungen wichtig. Die korrekte Funktionsweise eines Assistenzsystems kann sich schon durch kleine Unfälle oder fehlerhafte Reparaturen gravierend verändern.“
Das durchschnittliche Alter der zugelassenen Pkw in Deutschland liegt nach Angaben des Kraftfahrt-Bundesamtes aktuell bei 9,8 Jahren und steigt stetig an. Nach Meinung von Schubert sollten deshalb nun dringend weitere Erkenntnisse darüber gewonnen werden, wie sich die verlässliche Funktion der Fahrassistenzsysteme über deren gesamte Lebensdauer sicherstellen lässt. So könnte eine weitere Studie beispielsweise zusätzliche Assistenzsysteme wie etwa vorausschauende Notbremssysteme oder Assistenzsysteme aus dem Kleinwagensegment in den Blick nehmen.
Future Mobility Solutions bei TÜV Rheinland
Das internationale Kompetenzteam „Future Mobility Solutions“ bei TÜV Rheinland befasst sich mit zentralen Zukunftsthemen der Mobilität. Es führt weltweit Expertinnen und Experten zusammen, um Projekte beispielsweise in der Elektromobilität und für alternative Antriebstechnologien, zur verbesserten Fahrzeugsicherheit und Assistenzsystemen mit der „Vision Zero“, zum automatisierten und autonomen Fahren sowie zu neuen Mobilitätskonzepten voranzubringen. Bei der Zertifizierung innovativer Technologien – etwa für autonomes Fahren oder neue Fahrerassistenzsysteme – ist TÜV Rheinland als Partner an zahlreichen Projekten beteiligt. Zudem verfügt TÜV Rheinland über ein globales Netz an Prüfeinrichtungen und Kapazitäten auf zahlreichen Teststrecken unter anderem in China, Ungarn und Deutschland. Die Fahrversuche für die Studie zur Leistungsfähigkeit von Fahrassistenzsystemen wurden im ungarischen „ZalaZONE Automotive Proving Ground“ durchgeführt.
Weitere Informationen www.tuv.com/smartmobility bei TÜV Rheinland.
Sicherheit und Qualität in fast allen Wirtschafts- und Lebensbereichen: Dafür steht TÜV Rheinland. Mit mehr als 20.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von 2 Milliarden Euro zählt das vor rund 150 Jahren gegründete Unternehmen zu den weltweit führenden Prüfdienstleistern. Die hoch qualifizierten Expertinnen und Experten von TÜV Rheinland prüfen rund um den Globus technische Anlagen und Produkte, begleiten Innovationen in Technik und Wirtschaft, trainieren Menschen in zahlreichen Berufen und zertifizieren Managementsysteme nach internationalen Standards. Damit sorgen die unabhängigen Fachleute für Vertrauen entlang globaler Warenströme und Wertschöpfungsketten. Seit 2006 ist TÜV Rheinland Mitglied im Global Compact der Vereinten Nationen für mehr Nachhaltigkeit und gegen Korruption. Website: www.tuv.com
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