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Rikschafahrer im Tatra, Flucht über 2000 Kilometer und eine Liebesgeschichte mit Hindernissen – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

Wer heute nach China schaut, der ist oft genug ein wenig verwirrt. Was passiert dort eigentlich genau? Und wie soll man die Gesellschaftsordnung bezeichnen, die Anfang des 21. Jahrhunderts dort herrscht? Ist es tatsächlich ein kommunistisches Land, auch wenn die Kommunistische Partei Chinas, die gerade das 100. Jubiläum ihrer Gründung gefeiert hat, nach wie vor an der Führung ist? Fragen über Fragen, die auch in der Außen-, Wirtschafts- und Handelspolitik eine Rolle spielen. Stichwort: Neue Seidenstraße. Da war es vor knapp sechs Jahrzehnten noch etwas einfacher. In China wie in der DDR herrschte ein paar Jahre nach den im selben Jahr 1949 gegründeten Republiken Aufbruchsstimmung und ein noch ungetrübter Bruderbund zwischen Deutschland (Ost) und China. Einen starken Eindruck davon bietet das zweite der insgesamt fünf aktuellen Sonderangebote, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 13.08. 21 – Freitag, 20.08. 21) zu haben sind. Karl-Heinz Schleinitz präsentierte 1956 „Reisebilder aus China“. Ein spannender historischer Rückblick.

Vom selben Autor stammen auch das Doppel-E-Book „Ein Gewehr und fünfzig Schuss und Wie aus dem Großvater wieder Budjonny wurde“ sowie die Erzählung „Das Wanderdünenfräulein“, die zu einer Zeit spielt, als unverheiratete Leute nicht einfach so ein gemeinsames Hotelzimmer bekamen. Eigentlich nicht …

Und auch ein echter Biskupek ist wieder im Angebot. Diesmal offeriert Matthias Biskupek eine Art Wenderoman. Sein Titel „Der Quotensachse. Vom unaufhaltsamen Aufstieg eines Staatsbürgers sächsischer Nationalität“. Freuen Sie sich auf die Erlebnisse und Erfahrungen von Mario Claudius Zwintzscher.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. In dieser Woche lernen wir einen deutsch-australischen Schriftsteller kennen, der fast ein komplettes Jahrhundert durchlebt, durchlitten und durchkämpft hat – für eine bessere, für eine gerechte und auch für eine schöne Welt. Und er konnte davon wunderbare Storys erzählen. Aber lesen Sie doch einfach selbst, was er zu sagen hat.

Soeben ist bei EDITION digital das dritte Autorenbuch erschienen – „Begegnung mit einem Jahrhundertzeugen. Walter Kaufmann und seine Bücher“: Fast 100 Jahre alt geworden ist Walter Kaufmann, der am 15. April 2021 in Berlin starb. Dort war er am 19. Januar 1924 auch geboren worden – allerdings als Jitzchak Schmeidler, uneheliches Kind einer aus Polen nach Deutschland ausgewanderten Jüdin, die im großen Kaufhaus Tietz am Alexanderplatz arbeitete. Im Alter von drei Jahren wurde er von dem jüdischen Rechtsanwalt Dr. Sally Kaufmann und dessen Frau Johanna adoptiert und nach Duisburg gebracht. Walter, wie er jetzt hieß, war acht Jahre alt, als in Deutschland die Nazis an die Macht kamen, was für seine Familie und für ihn furchtbare Folgen hatte. Seine leibliche Mutter und seine Adoptiveltern wurden ermordet. Er selbst hatte das Glück zu überleben, gelangte 1939 mit einem der letzten überhaupt möglichen Kindertransporte über die Niederlande nach England, wurde später als „enemy alien“ nach Australien deportiert und kehrte Mitte der 1950er Jahre nach Europa, Deutschland und in die DDR zurück. Mit seinem australischen Pass bereiste er von dort aus die Welt und brachte abenteuerlich und spannend, aber auch mit einer klaren politischen Haltung geschriebene Texte, Reportagen und Erzählungen, Romane mit. Das Autorenbuch „Begegnung mit einem Jahrhundertzeugen“ möchte neugierig machen auf Walter Kaufmann und sein Lebenswerk, präsentiert auch viele Textauszüge aus seinen Büchern, von denen fast alle bei EDITION digital als E-Books verfügbar sind. Dem Buch vorangestellt ist auch ein ausführliches Interview mit Kaufmann, das am Tage seines 97. Geburtstages begonnen wurde. Und eben darauf bezieht sich auch die erste Frage dieses Gesprächs:

„Ein Talent zeigt sich schon in den ersten Geschichten“ Fragen an und Antworten von Walter Kaufmann

Zunächst einmal einen herzlichen Glückwünsch zu Ihrem 97. Geburtstag. Congratulations. Wie geht es Ihnen an diesem besonderen Tag?
Ganz ehrlich bin ich gerade ein bisschen angeschlagen. Es waren so viele Anrufe.

97 Jahre – das klingt phantastisch. Was wünschen Sie sich in diesem hohen Alter als Mensch, als politischer Kämpfer und nicht zuletzt als Schriftsteller?

Als Erstes wünsche ich das Ende von Corona. Und das Ende einer amerikanischen Politik, die die ganze Welt aus den Fugen bringt. Als Schriftsteller habe ich mir stets die Anerkennung meiner Arbeit gewünscht – Man lebt nicht nur vom Brot allein. Anerkennung war mir vom ersten Tag meines Schreibens bis heute wichtig.

97 Jahre, Jahrgang 1924, wie blicken Sie von heute aus gesehen auf dieses Jahrhundert Stück Leben zurück? Wie war es? Lässt sich das in einen Begriff fassen?

Ich wünschte, die Zeiten wären weniger kriegerisch gewesen. Weniger grausam. Ich bin dankbar, dass ich überlebte, ohne ernsthaften Schaden genommen zu haben.

Herr Kaufmann, noch eine vorgezogene Frage: Was verstehen Sie unter Glück? Das haben wir eben erörtert: Anerkennung meiner Lebensleistung. Gesundheit. Und eine ausgeglichene Partnerschaft in der Ehe.

In einer Ihrer biografischen Storys berichten Sie von der Suche nach Ihrer Mutter im Berlin der Fünfzigerjahre. Was wissen Sie über Ihre Mutter? Haben Sie später noch mehr erfahren?

Ich habe nach dem Kriege nach ihr gesucht. Dabei hatte ich stets den Eindruck, dass man mir ausgewichen ist. Mal hieß es, sie sei „Gott behüte“ nicht verschleppt worden. Mal, dass sie sich noch ins Ruhrgebiet habe retten können. Aber wahrscheinlich ist sie doch von der Großen Hamburger in Berlin aus verschleppt und in Auschwitz ermordet worden. Das wird die schonungslose Wahrheit sein.

Gibt es noch irgendwo ein Bild dieser polnischen Jüdin, die Sie geboren hat, oder ist buchstäblich in Auschwitz alles zu Asche geworden?

Es gibt eine visuelle Erinnerung. In dem 1920 in Rostock erschienenen Buch „Das ostjüdische Antlitz“ von Arnold Zweig finden sich auch 52 Steinzeichnungen von Hermann Struck, darunter etliche Porträts. Das auf der Seite 108 könnte meine Mutter im Alter von etwa zwanzig Jahren zeigen.

Wie kam es zur Adoption durch das Anwaltsehepaar aus Duisburg? Und welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Eltern? Haben Sie irgendwann später herausfinden können, ob Ihr Adoptivvater auch Ihr leiblicher Vater war?

Erst vor wenigen Wochen erfuhr ich von einem Anwalt in Duisburg, der in Vorbereitung einer Abhandlung über das Schicksal jüdischer Anwälte im Rheinland bestimmte Unterlagen durchgesehen und sich besonders in die über meinen Vater vertieft hatte. Dabei war er auch auf die junge Frau Rachela Schmeidler aufmerksam geworden und zu dem Schluss gelangt, dass mein Adoptivvater mein leiblicher Vater war. Das sind allerdings nur Spekulationen.

Aber es könnte sehr wahrscheinlich so gewesen sein?

Ja, warum sollte jemand ein Kind aus Berlin adoptieren und es nach Duisburg bringen, wenn es sicherlich auch im Rheinland Kinder gegeben hätte, die zur Adoption standen.

Haben Sie Fotografien von Ihren Stiefeltern?

Ja, Sie finden sich in meiner 2015 im Dittrich-Verlag Berlin veröffentlichten Autobiografie „Im Fluss der Zeit“, die auch als E-Book verfügbar ist.

Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters.

Erstmals 1956 erschien im Kongress Verlag Berlin „Reisebilder aus China“ von Karl-Heinz Schleinitz: Im Jahre 1956 begleitete der Autor 230 junge Deutsche des Staatlichen Volkskunstensembles der DDR auf einer zehnwöchigen Tournee durch das neue China, dessen Gesicht ein anderes geworden ist, seit am 1. Oktober 1949 dort die rote Fahne mit den fünf Sternen als Zeichen der Volksherrschaft gehisst wurde. Karl-Heinz Schleinitz schildert interessant und fesselnd das Leben der Menschen in dem volkreichsten Land der Erde. Aus den vielen kleinen Erlebnissen und Gesprächen mit Arbeitern und Künstlern, mit Wissenschaftlern und Bauern, mit Kindern und alten Männern formt sich ein anschauliches Bild der sprunghaften Entwicklung Volkschinas zu einer modernen Großmacht. Hier ein Auszug vom Anfang des Buches, als das Ensemble (und der es begleitende Berichterstatter) in China angekommen sind:

„ERSTE STATION: PEKING

Charbin, Mukden, Tientsin. Nach zwei Tagen Fahrt lächelt Annemarie (Annemarie? Eine waschechte Chinesin, die in Deutschland geboren wurde – die Ablösung für Natascha) mit perlweißen Zähnen, deutet auf die gerade vorbeiziehende Stadtmauer und sagt „Peking“. Auf die Minute pünktlich rollt der Zug auf dem Hauptbahnhof ein.

Musik, Blumen, Umarmungen alter Bekannter vom Besuch des chinesischen Jugendkunstensembles in Berlin. Heute sieht man sich hier, morgen da, die Welt ist klein! Begrüßung durch den Stellvertretenden Kulturminister Liu Dshih-min.

Auf dem Bahnhofsvorplatz warten die Omnibusse. Aber die Koffer, die Koffer! Keine Angst, die haben mittlerweile Beine bekommen. Unendlich sacht, als hätte jeder kostbares Porzellan zum Inhalt, wandern sie über die Hände unserer Freunde von der Volksbefreiungsarmee aus den Eisenbahnwagen in die Lastkraftwagen.

Verwirrend ist die Farbenpracht in den Straßen der alten Kaiserstadt, aber noch unübersichtlicher nach unseren Begriffen der Straßenverkehr. Schwarz von Menschen sind die Gehsteige. Auf der Straße haben die Radfahrer die Übermacht. Dazwischen modernste sowjetische Autos und „Tatras“ aus der Tschechoslowakei, „Ikarus“-Omnibusse aus Ungarn und viele amerikanische Wagen.

„Wo habt ihr die her?“

„Amerikanische Erbschaft, über die Kuomintangarmee. Genügt das?“

Es genügt.

Am auffälligsten sind die Rikschas, jene dreirädrigen, von Menschen bewegten Verkehrsmittel, die heute noch in den engen Straßen und bei der verhältnismäßig geringen Motorisierung eine gewisse Daseinsberechtigung haben. Die Fahrgäste sitzen bequem in einem Sessel über der Hinterachse: Mütter, die ihre Kinder zum Kindergarten bringen, Studenten mit der Kollegtasche auf den Knien, Soldaten, Geschäftsleute und natürlich Arbeiter, die von der Schicht kommen. Unsereiner kennt die einzelnen Berufsgruppen noch nicht heraus, verflixt, die Gastgeber sehen alle gleich aus; aber die Dolmetscher, die uns auch künftig begleiten werden, wissen natürlich Bescheid. Andere Rikschas haben drei, vier ausgeschlachtete Schweine geladen oder ganze Möbeltransporte. Wie vor fünfzig Jahren, zwanzig Jahren, wie vor fünf Jahren …

Vor fünf Jahren? Irrtum, lieber Freund! Vor fünf Jahren noch hätte uns kein Rikschafahrer lachenden Gesichts zugewinkt, er hätte sich abgewandt, wäre den Weißen aus dem Wege gegangen, weil er in ihnen seinen Feind sah. Die Polizisten waren seine Feinde, die Offiziere der Kuomintang, die ganze mit den Ausländern paktierende Ausbeutergesellschaft. Rikschakuli – verachtetster Beruf in China.

Heute lacht er, weil er Mensch unter Menschen, gewerkschaftlich organisiert ist, acht Stunden Arbeitszeit, satt zu essen, gute Kleidung hat, und morgen wird er einen „SIS“ oder „Tatra“ fahren, das weiß er auch!

Vorsichtig fahren die Omnibuslenker durch die winkligen Straßen, und doch kommt unsereinem das bei dem Gewimmel schon tollkühn vor. Noch eine letzte Kurve durch ein Tor und wir halten vor dem Friedenshotel. Empfang durch die ganze Belegschaft vor der Eingangshalle, Direktor, Fahrstuhlführer, Koch, Friseur, Kellner und die chinesischen Christels von der Post. Acht Stockwerke geht es hinauf, dann über weiche Teppiche, in denen jeder Schritt versinkt wie im Moos, in die Zimmer.

Heimat für drei Wochen!

*

Ungewohnt sind die Geräusche, die uns anderntags aus dem Schlafe wecken. Tak-taktak macht die Klapper in der Hand eines Händlers, der in den Körben am Tragestock aus Bambus das Frühstück wiegenden Schrittes zur Auswahl bis vor die Tür bringt. Unablässig tönt das Hupen der Wagen von den Hauptstraßen herüber und mischt sich mit den lang gezogenen, warnenden Rufen der Polizisten auf den Verkehrsinseln; fast singend preist ein Händler seine Waren an.

Ein anderer Ton kommt langsam näher: tom, tom, teromtomtom. Chinesische Trommeln. Ich stoße das Fenster auf, die Sonne blendet herein vom pastellenen Himmel. Unten marschieren Junge Pioniere. In der Nähe des Hotels halten sie und formieren sich vor einem etwa fünf Meter langen roten Plakat. Sie singen. Menschen sammeln sich um die Kinder. Dann spricht ein älterer Schüler zu den Versammelten.

Die Tür zu meinem Zimmer wird aufgestoßen, und erregt ruft der Nachbar von gegenüber, ich möchte mal schnell rüberkommen, unten „sei was los“. Zu spät, mein Lieber, bei mir ist unten das gleiche „los“! Und statt zum Nachbarn flitze ich nach unten.

Ich erwische nur den Schluss der kleinen Wahldemonstration. Ein Liedchen noch aus silberhellen Kehlen, und die Jungen Pioniere ziehen weiter. Vor dem roten Plakat stehen Menschen und lesen die Namen der Kandidaten, die von den demokratischen Parteien für die Wahlen zur Volksvertretung, die ersten demokratischen Wahlen in der chinesischen Geschichte, aufgestellt sind. Mit feinem Strohgeflecht, so fein wie eine Borte, mit Blumen und Grün ist das Plakat umrahmt. Daneben hängt ein Briefkasten, damit jeder seine Meinung zu den aufgestellten Kandidaten schriftlich kundtun kann.

Man lässt sich im Menschenstrom treiben. Soldaten und Studenten, Schlittschuhe über den Schultern, überholen uns schwatzend, und man steckt unvermittelt im Zentralen Basar. Bonbons, Schuhe, Füllfederhalter, Koffer (Leder natürlich!), Wurst, Hühnchen, Reißzwecken, Hosen, was steht zu Diensten? Oder eine Uhr? Ein Paradies für Käufer! Schwer ist es, aus dem Labyrinth herauszufinden, aber dann stellt man fest, dass es auf der Wang-Fu-tsin-Straße nicht minder interessant ist. Alles ist hier zu haben. In einem Geschäft sind Elektromotoren ausgestellt. Chinesisches Fabrikat. „Haben wir früher nicht gebaut.“

„Früher“ – und das heißt: vor der Befreiung …

Im nächsten Laden gibt es herrlichen Schmuck, Bernstein, Smaragde, andere Edelsteine, Elfenbeinschnitzereien, wie sie nur in China zu finden sind. Hochbetrieb ist in der staatlichen Buchhandlung nebenan. Der chinesische Kunde wählt lange, holt sich die meist einfach broschierten Bücher selbst aus den Regalen, blättert, liest, stellt sie wieder weg, oder er sucht Passendes aus dem großen Berg mit Bildergeschichten heraus, der sich auf dem Tisch in der Mitte türmt.

„Aber die Bücher werden doch davon nicht besser, sind Sie denn damit einverstanden?“

„Warum nicht? Hauptsache, dass gelesen wird!“

„Und wenn jeder an die Bücher heran kann, haben Sie keine Angst, dass sie gestohlen werden?“

„Ich kenne keinen solchen Fall. Aber wenn ein Buch gestohlen werden sollte, dann doch nur, weil es gefällt – und auch dann wird es gelesen!“

Ein Buchladen, der mehr ist – eine Lesehalle; noch mehr – eine Bildungsstätte.

Du gehst in eines der ungezählten Stoffgeschäfte. Eine Fülle wie im HO-Warenhaus am Berliner Alex zum Wochenende, wenn es Geld gegeben hat. An großen Reifen, die wie ein Karussell drehbar sind, hängen lange Stoffbänder der verschiedensten Muster. Jedes hat eine Nummer. Der Kunde sagt zur gewählten Nummer nur noch die Meterzahl – schon wird der Kauf perfekt. Dienst am Kunden, Dienst am Staatssäckel, der dadurch den Lohn für einige tausend Verkäufer spart!

„Bitte, wie viel Stoffmuster gibt es etwa in Ihrem Laden?“, möchte ich wissen.

„So an die 300 Muster, aber nur Baumwolle und Leinen. Seidenstoffe gibt es zwei Häuser weiter, bitte!“

Du lieber Himmel, dreihundert Muster! Und man denkt an die Frau in Berlin, wünscht ihr diese Auswahl in einem HO-Geschäft und sich selber, nie beim Einkauf dabei sein zu müssen …

*

Gestern, Heiligabend, als wir vormittags ankamen, schickten uns die chinesischen Freunde kurzerhand ins Bett. Kein Protest half. Abends stand dann ein Weihnachtsbaum, ein richtiger deutscher Weihnachtsbaum, geschmückt mit Kugeln, Lichtern und Engelshaar (wie sieben Stunden später daheim in den Stuben) mitten im Saal. Und wenn der Weihnachtsbaum auch keine Tanne, sondern eine Zypresse war – ein Weihnachtsbaum war es doch, beschert von den chinesischen Freunden.

Die Proben beginnen. Die Omnibusse fahren vorbei am Tor des Himmlischen Friedens, Zeuge der großen Vergangenheit, Zeuge der gewaltigen Demonstrationen der Freude im neuen China, zum Stadtteil Tien tschiau, zu deutsch: Himmelsbrücke. Das ist ein Arbeiterwohnviertel mit eng ineinander geschachtelten einstöckigen Häuschen. Oft bestehen sie nur aus einem von Lehmwänden umschlossenen Raum. Man weiß nicht, wo in diesem Stadtteil Fußsteige beginnen und Läden aufhören oder auch umgekehrt.

Gehandelt wird mit allen erdenklichen Dingen, die handelsfähig sind, wobei diesem Begriff keine Grenzen gesetzt sind. In einem Straßenzug beispielsweise gibt es nur gebrauchte Fahrraddecken.

Ulla (Ulla? Ja, Annemaries Schwester, die auch in Deutschland geboren wurde) erzählt: die Einwohner dieses Stadtteils, die Arbeiter, sagten zu ihrer Regierung, dass der weite Weg zu den großen Theatern der Innenstadt zu unbequem sei. Neue Wohnhäuser werden in Tien tschiau entstehen, elegante Ladenstraßen, aber zuerst brauchten sie, die Arbeiter, ein Theater in ihrem Stadtteil. Das war im Frühjahr 1953. Wenige Monate später, im Juli, griffen Spaten in die lehmige Erde und schafften Platz für die Fundamente des Baues. Ende Januar sollte das Haus fertig sein. Als es aber hieß, dass ein deutsches Ensemble käme, beschlossen die Arbeiter, es vorfristig fertigzustellen – um einen ganzen Monat! Sie wollten nämlich die Gastgeber sein …

„Schafft ihr’s?“, fragen die deutschen Künstler die Arbeiter. Durch das Dach über der Bühne lacht noch unschuldigen Blickes der Himmel. Hobelspäne liegen herum, Werkzeuge der Elektriker; die Maler streichen gerade die Geländer. In der Ecke steht ein Flügel, schwarz und feierlich, schaut so drein wie ein Frack, der sich auf eine Kirmes verlaufen hat. „Förster“ liest man in Gold auf schwarzem Grund; ein „Förster“ aus Löbau!

Der Feierliche muss herhalten, um die Akustik auszuprobieren. Parkett: gut; Balkon: gut; letztes Eckchen des Balkons, der 740 Plätze hat, während im Parkett 1000 Besucher sitzen werden: Akustik ebenfalls ausgezeichnet. Prüfung bestanden. Ein Hoch den Baumeistern!

Das Ensemble beginnt mit der Probe.“

Im folgenden E-Book „Ein Gewehr und fünfzig Schuss und Wie aus dem Großvater wieder Budjonny wurde“ von Karl-Heinz Schleinitz sind zwei Bücher aus der Reihe „Robinsons billige Bücher“ zusammengefasst: Erstmals 1963 war „Wie aus dem Großvater wieder Budjonny wurde“ erschienen und 1970 „Ein Gewehr und fünfzig Schuss“: Petrograd 1917. Tausende Kilometer hat Franz Klinger nach seiner Flucht aus dem Kriegsgefangenenlager zu Fuß zurückgelegt. Tödlichen Gefahren hat er getrotzt: den hungrigen Wölfen, dem Treibeis der Wolga, Hunger, Schnee und Kälte. Nun steht er endlich am Hafen und hält Ausschau nach einem neutralen Schiff. Es soll ihn in die Heimat zurückbringen. Da legt sich eine Hand schwer auf seine Schulter. Ein Gendarm? Karl-Heinz Schleinitz berichtet vom Schicksal des deutschen Soldaten Franz Klinger, der während des ersten Weltkrieges aus russischer Gefangenschaft flieht, Revolution und Bürgerkrieg miterlebt und als Kompaniechef unter Tschapajew den Weg zur Kommunistischen Partei findet.

Spellhagen, ein kleines Dorf am Rande des Kreises Useklam, um 1960. In diesem Dorf trugen sich die wunderlichen Geschichten zu zwischen Jürgen Stiebitz, einem zwölfjährigen Jungen, der feuerrotes Haar hat wie sein Vater, und seinem Großvater August Stiebitz. Beide mochten sich, obgleich sie sich dauernd kabbelten. Warum nannte man Großvater Budjonny? Stammt die Inschrift im finsteren, feuchten Verließ des Schlosses tatsächlich von ihm? Warum hat ihn der Baron nach dem Kapp-Putsch eingesperrt? Was ist mit seinem Freund Schramm, der 1930 schnell aus dem Dorf verschwinden musste? Hier der Beginn von „Ein Gewehr und fünfzig Schuss“, wo Franz Klinger anfangs für verrückt erklärt wird und auf Heimweh hofft – bei seinem Pritschen-Nachbarn:

DIE FLUCHT

„Ich halte es nicht mehr aus“, flüstere ich. „Ich fliehe.“

„Der Franz Klinger ist verrückt!“, antwortet Triebel, der auf der Pritsche unter mir liegt, als ob er mit einem anderen spräche. „Total verrückt! Der will von den Wölfen gefressen werden. Wär‘ zwar nicht viel dran an uns – immerhin, als Kompott… Nee, Franz. Selbst das gönn‘ ich ihnen nicht.“

„Mit Wölfen kann man fertig werden“, tuschele ich. „Musst einen ordentlichen Knüppel bei dir haben. Und wenn wir nicht zwei, sondern drei wären…“

Statt darauf einzugehen, kichert Triebel. Ich stelle mir vor, wie sein Adamsapfel dabei hüpft.

„Was kicherst du?“, flüstere ich ärgerlich.

„Ich habe mir nur ausgemalt, wie ein Kavallerist loszieht. Zu Fuß. Wir stecken im Südural, Franz! Bis nach Deutschland über zweitausend Kilometer. Und die tippeln? Noch dazu im Winter? Gestern Nacht waren dreiunddreißig Grad.“

„Du hast eben kein Heimweh!“

„Was weißt du“, antwortet Triebel. Seine Stimme ist seltsam verändert.

Also doch Heimweh? Ich werde einen günstigeren Augenblick abwarten, um ihn doch noch herumzukriegen.

Die Gelegenheit bietet sich am nächsten Tag. Wir sind einem Kommando zugeteilt, das Bäume fällt, und arbeiten abseits von den anderen. Wir haben hinter einem Gebüsch den knietiefen Schnee weggeschoben und uns ein Feuer gemacht. Gelegentlich ruhen wir daran aus. Zuerst fällt kein Wort. Wir sitzen, die klammen Hände den Flammen entgegen gestreckt, halten die Augen geschlossen und genießen, wie die Wärme langsam in den Körper kriecht. Erst taut der Reif von den Augenbrauen und Bärten. Dann tauen die Lebensgeister.

„Erzähle von zu Hause“, bitte ich. Ich will ihn an sein Heimweh erinnern.

Der Freund erzählt, erst stockend, als wäre die Stimme noch eingefroren, dann immer fließender von seinem Berlin. Von dem Hinterhof, in dem er groß geworden ist. Von einer riesigen Fabrik, Halle an Halle, eine ganze Stadt für sich, in der früher Maschinen gebaut und jetzt auch Granaten gedreht werden. Von den Versammlungen der Berliner Arbeiter. Dreißigtausend hatten noch wenige Tage vor Beginn des Krieges gegen das aufkommende Unheil protestiert.

Ich komme aus einem kleinen Dorf in Ostpreußen. Eine solche Menschenmenge kann ich mir kaum vorstellen. Aber eins ist mir klar: Was muss das für eine Kraft sein, wenn dreißigtausend Arbeiter das gleiche wollen und fordern!

Plötzlich beginnt Triebel zu singen. Nicht laut, nur so vor sich hin. Er hat eine etwas heisere Stimme, aber er singt gern. Und es hört sich gut an. Dieses neue, mir unbekannte Lied, das er angestimmt hat, gefällt mit so gut, dass ich darüber mein Vorhaben vergesse.

„Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“, singt der Freund, und nun die zweite Strophe: „Seht, wie der Zug von Millionen endlos aus Nächtigem quillt…“ Ich starre in das Feuer und vergesse, wo wir sitzen, ich höre nur das Lied und sehe hinter den Flammen Gesicht an Gesicht, Hunderte, Tausende – eine unübersehbare Menge schmaler Triebelgesichter, und höre, wie sie alle den Schluss singen: „… Ewig der Sklaverei ein Ende, heilig die letzte Schlacht!“ Dann ist Stille. Nur über uns das schwache Pochen eines Spechtes, in der Ferne Axtschläge und Kreischen von Sägen.

„Noch mal!“, flüstere ich, als ob man hier in der froststarrenden Einsamkeit des Waldes nicht laut sprechen dürfte.

Und diesmal singe ich mit.

Es dröhnt mir in den Ohren, dabei kommen die Worte kaum über meine Lippen, so leise forme ich sie, bis hin zu den letzten, „… heilig die letzte Schlacht!“

„Begreifst du nun?“, sagte Triebel. „Ich habe einfach keine Lust, von hier zu fliehen. Soll ich wieder Granaten abfeuern, die meinen Chef reicher und reicher machen? Soll ich womöglich für ihn ins Gras beißen? Nee, ich bin froh, dass der Krieg für mich zu Ende ist.“

„Eben hast du noch gesungen „heilig die letzte Schlacht“, sage ich. „Und nun – überhaupt nicht mehr kämpfen?“

Triebel sieht mich an, als hätte ich etwas Dummes gesagt. „Das ist etwas anderes“, meint er dann. „Eines Tages werden wir Arbeiter in der Stadt und ihr auf den Gutshöfen die Waffen gegen unsere Herren richten, damit die Fabriken und das Land endlich uns gehören. Diese Schlacht wird die letzte sein. Wenn die Stunde heran ist – ich werde mein Leben nicht schonen.“

Wieder bin ich meinem Ziel nicht näher gekommen.“

Erstmals 1969 veröffentlichte Karl-Heinz Schleinitz im Eulenspiegel Verlag Berlin seine Erzählung „Das Wanderdünenfräulein“: Kud und Gäd sind jung, verliebt und glücklich. Sie haben ein winzig kleines Zimmerchen an der Ostsee ergattert und der Wirt hat ihre Lüge geglaubt, dass sie verheiratet sind. Sonst wäre es nichts mit dem Zimmer geworden. Beide verbringen unbeschwerte Urlaubstage am Meer und unterhalten sich mit Witz und Humor über Gott und die Welt, die spießige alte Dame aus dem Westen eingeschlossen. Da soll ein Telegramm an Fräulein Meyer zugestellt werden und ihre Lügenblase scheint zu platzen. Kud bekommt mit List das Telegramm, das gleichzeitig das Ende ihres Urlaubs bedeutet. Aber sicher nicht das Ende ihrer Liebe. Hier die Kapitel 2 und 3 dieser Liebesgeschichte mit Hindernissen:

2

Unser Zimmernummerchen „43“ ist ein charmanter Übertreiber. Sein richtiger Titel wäre vielleicht „12“ oder „14“. Doch da man im vierten Stockwerk unter den Schwalbennestern dieses Handtuchhauses thront und außerdem das dritte Kämmerchen ist, bildet sich mit wissenschaftlicher Exaktheit und damit rechtskräftig die neue Hochstapelnummer.

Von oben bis unten, gewissermaßen von Webekante zu Webkante, riecht es nach Blutwurst mit Sauerkohl. Wir riechen es nicht. Im Nachbarzimmer trällert ein Mädchen, das wir nie zu sehen bekommen, schon zur Hahnenfrühe Thüringer Gegenwartsschaffen. Wir hören es nicht. Überhaupt sind wir die zahmsten Gäste. Das hängt damit zusammen, dass wir ein Webfehler sind, gewissermaßen.

Als wir vor Tagen das Hotelchen betraten, geziemend freundlich, rechneten wir selbstverständlich damit, auf Munk zu stoßen. Alles uns nicht Wohlgesinnte ist Munk. Und da saß es auch, ein Mustermunk, rundköpfig, stoppelbesät, mit einer Mütze auf dem Kopf, die hinter Schanghai die Blattern hatte. „Zimmer? Nö.“

Großes Munkschütteln unter dem Blatternstück. Großer Stadtmenschseufzer bei mir, durch und durch echt schon, und bei Gäd zum dreizehnten Male an diesem Tage „Hab’ ich’s nicht gesagt?“, diesmal mit dem Zusatz „Idiot du“.

„Wartense mal“, sagte der Alte. Rührte ihn mein Schicksal?

„Ja bitte“, sagte ich rasch.

Ein misstrauischer Blick aus schmalen Munkaugen. „Sie sinn doch Ehelüt, noch?“

Ich griff nach dem Strohhalm. „Ja, ja, selbstverständlich, wir haben schon zwei Kinder, nur, soll man sie mitschleppen, man weiß ja nicht, wie man’s trifft, noch?“

„Se sinn doch nicht etwa zu Ferien hier?“ Kopfschütteln in Blond und Schwarz, sehr energisch.

„Dann is gut. Dann geiht’s. Is nämlich so, wat de Marie is, de hat uns in Stich geloten. Is gleich Saison, und bliwt in Wurzen! Awer kommt se doch, müssen Se rut!“

So landeten wir in der Personaletage, im Zimmer der treulosen Marie, gelobt sei ihre Untugend. Freilich hatte vordem der Alte mit kurzsichtigen Augen die Ausweise berochen und mit dem Anmeldeschein verglichen. „Dat stimmt doch all, noch? Ik hew de Brill verlegt.“ Sein Blick, der mich traf, war so bittend, dass ich ihn nicht enttäuschen konnte, wobei ich mir im Klaren bin, es mit unserem verehrten Gesetzgeber angelegt zu haben. Aber der Alte war kein Munk mehr, sondern ein herrlich markanter Küstenbewohner, fast langschädlig, schon mit der Knospe eines Seemannsvollbartes, und auf dem Kopf eine Mütze, die vom Ruhm glorreicher Fahrten sang, kurz: Vadder Breithack, Hausmeister und Empfangschef i. V. im Hause „Seeräuber“ HOG.

Zehn Minuten später, bereits in „43“, machte mir Gäd Vorhaltungen. Sie sagte, es hätte genügt, uns ein einziges Kind anzulügen. Immer diese Übertreibungen, ich solle sie endlich unterlassen.

Ich musste widersprechen. Kam es nicht darauf an, den Anschein hellster Wahrheit zu verbreiten? Und da sind doch wohl unseren studentenhaft jungen Jahren entsprechend zwei Kinder schon eher typisch.

3

Ich liege abseits von den anderen, ihrer Strandkorbstadt, diesem Babylon der Dialekte und Gerüche. Stadt haben wir das ganze Jahr über. Und neben mir liegen ein Leuchtturm und eine Nase. Die eine Entfernung würde eine Kameraeinstellung von unendlich, die andere von 0,8 verlangen. 0,8 ist näher als unendlich. Ein Apfelfipslutschröhrchen a. D. biedert sich zum Fliegenspielen an.

„Kud?“

„Hm?“

„Kud – haben die Werktätigen das Recht auf Erholung?“

„Wenn ich mich recht erinnere …“

„Dann verscheuch mir die Fliegen!“

„Sch, sch!“, heuchele ich.

Gäd hält die Augen geschlossen: die Schlummernde Venus von Giorgione mit dem Bekleidungsstück Sonnenbrille. „Keiner kann das so schön wie du“, sagt Venus Gäd. „Wie stark du bist!“ Meine Bewusstseinsbizeps schwellen. Nun lächelt Gäd wie Asta Nielsen im Stummfilm, sie hätte auch schweigen sollen wie sie, aber sie sagt: „Bist ein richtiger Fliegenscheucherich!“

Ich wende mich ab und stelle die Pupillen auf unendlich.

„Kud?“

„Hm?“

„Bist du eingeschnappt?“

„Ich? Wieso denn? Wie kommst du darauf?“

„Nur so. Vergiss nicht: Deine Mammi hat dich mir als Mann und Mensch anvertraut, dass du mich beschützt und in ordentlichem Zustand wieder abgibst. Männer dürfen nicht gnitzen. Das verschlägt ihren lieben Frauen den Teint.“

Der launenlose Mann, die Kosmetik auf homöopathischer Basis.

Die Metaphysik ist gnädig und schickt gleichen Augenblicks das Instrument der Rache. Auf fliegender Basis. Einen Marienkäfer. Er kurvt unentschlossen. Was schwankst du, Freund Käfer, Genosse Glücksbringer?

Kinderzeiten springen auf. Kornblumenkränze in Semmelblondhaaren … kribbelnde Grummetluft … vom Dorf her Bimmelbang … Und ein Verschen:

Summ, summ, summ,

lieber Käfer, kumm,

setze dich auf meine Nase,

drück auf deine Käferblase,

schiet ein bissken Glück …

Achtung, Landung! 0,8 liegt näher als unendlich, ein „Hoch“ auf die Erfinder der Geometrie, die freundlichen Förderer des Glücks!

„Kud, du sollst nicht immer krabbeln, denkst du, ich weiß nicht, dass du es bist!“

„Stillhalten! Gleich geschieht was Schönes!“

Statt auf das Glück zu warten, probiert Gäd die Mechanik ihrer Nasenhaut. Sie funktioniert und macht ein Beben unter dem Fahrgestell des Käferapparates. Der Pilot in ihm gibt Vollgas.

Gäd reißt die Augen auf. Die Radarspiegel darin irren dem taumelnden Flug nach.

„Was scheuchst du das Glück weg, Frau!“, schelte ich.

„Ach – ich dachte, du warst’s“, sagt sie und ist betrübt. Weil ihre Radarstrahlen nun das Glücksobjekt in unendlich verlieren? Oder?

Sie schaltet auf 0,8 um und lächelt. „Könntest du es nicht sein?“

0,8 liegt näher als unendlich, fällt mir endlich wieder ein, und ich werfe mich über sie und küsse ihren Mund, den Hals, na, was man zum Küssen eben vorfindet.

„Au, du zerknautschst mir die Bluse!“, stöhnt sie flehend.

„Hast doch keine Bluse an!“, flüstere ich.

„Hauptsache, man sagt’s!“, fleht sie stöhnend.“

Erstmals 1996 hat Matthias Biskupek im Gustav Kiepenheuer Verlag den durch die Stiftung Kulturfonds geförderten Roman „Der Quotensachse. Vom unaufhaltsamen Aufstieg eines Staatsbürgers sächsischer Nationalität“ herausgebracht. Die Presse war des Lobes voll: „Bei Biskupek kommt´s knüppelhageldick. Da wird nicht geschmunzelt und geblinzelt, nicht kokettiert und vielleicht gar ein bisschen mitempfunden. Das Buch ist genau, ungemein bösartig und teilweise in der Art, wie der Autor mit höhnisch verzogener Lippe kalauert“, schrieb die „Sächsische Zeitung“. In der „Süddeutschen Zeitung“ war zu lesen: „Endlich mal einer, dem die deutsche Wende gut bekommen ist! Mario Claudius Zwintzscher aus Ainitzsch an der Zschopau hat, wie es sich gehört, im Jahre 1989 seinen ersten demokratischen Wahlkampf mit Hilfe des sächsischen Nationalstolzes gewonnen.“ Und „Takt“ aus Leipzig urteilte damals: „Das Buch, das die tierisch-ernsten Wendewälzer aus den Regalen fegt.“ Und so fängt der Regal-Feger an:

Lehmseife und Fragebogen

Es geht mir verdammt gut, und das ist nicht gut so.

Normalerweise ist das Leben wie eine Verkehrsampel. Es leuchtet sehr lange rot und lange gelb und ziemlich kurz grün. Bei mir aber dauert die Grünphase schon viel zu lange, und das kann, das darf eigentlich gar nicht gut gehen.

Irgendjemand müsste mir doch von rechts in die Quere kommen oder meinetwegen auch von links: vorwärts ein Ruck; rücklings der Druck – ich will das bitte überhaupt nicht politisch verstanden haben. Ich bin, wenn es erlaubt ist, wahlfreudig, mediengestählt, aber parteipolitisch tolerant. Obwohl ich auf gesellschaftlich vorgeschobenem Posten ausharre. Denn mein Ausschuss zur Bekämpfung Unsolidarischen Verhaltens ragt aus der allgemeinen Gleichgültigkeit heraus. Der Aufprall des Ausschusses auf die gemeine Realität ist längst überfällig.

Ich komme aus einem gruseligen Staat und lebe in einem angesehenen Land. Ich wundere mich nur, warum das Programm des Niedergangs bei mir versagt. Eine Grünphase löst die nächste ab; ich weiß gar nicht, wie all die anderen zwischen meinen langen lindgrünen Gelegenheiten über die Kreuzung huschen können. Es muss doch mal krachen. So viel Geduld kann niemand mit mir haben.

Mein Leben begann bereits unnormal schön. Blauer Himmel und nirgendwo eine Klimakatastrophe am Firmament. Sie sollten sich das mal anhören:

Als ich dieser Welt meinen ersten guten Tag wünschte, hatte Sachsen über sechs Millionen Einwohner. Die stellten rote, brüchige Ziegel her, zum Aufbau, und klein karierte Baumwollstoffe, zum Einkleiden. Die Straßenbahnen fuhren zwischen spitzen Trümmerbergen herum, weil die Sachsen wieder mal auf der falschen Seite gekämpft hatten. Bei der Schlacht von Mühlberg hatten wir diese saublöden Niederlagen schmalkaldischen Lutheranern und im Siebenjährigen Krieg unfähigen Österreichern zu verdanken. In der Völkerschlacht bei Leipzig kämpften Franzmänner und Rheinländer uns in die Katastrophe. Die Preußen zwackten damals genüsslerisch einen riesigen Flatschen Sachsen ab und hocken bis heute auf solchen Perlen wie Jüterbog, Belzig und Treuenbrietzen. Im Ersten und im Zweiten Weltkrieg waren es dann die Deutschen, denen wir unser nationales Unglück zuzuschreiben hatten. Wieder war ein Zipfelchen Sachsen weg und diesmal bei den Polen gelandet. Hätten die Deutschen den Hitler nicht gewählt und nicht diese dämliche, holprige Autobahn voller Engstellen, Baustellen und Unfallstellen quer durch unser Land von Meerane im Westen bis Bautzen im Osten geschlagen, dann würde bis heute alles schneller vorangehen.

Doch als Sachse meckert man nicht, sondern gniedschd höchstens. Drum gniedschde mein Vater auch, als meine Mutter zu entbinden hatte, im Landesfrauenkrankenhaus zu Leipzig. Er sollte sich alleine was zu essen machen, zwo Spiegeleier in die Pfanne schlagen, aber es war die Zeit, als Spiegeleier in Sachsen ausgesprochen selten in Pfannen wuchsen.

Die Nullserie ihrer Familienverplanung hatten meine Eltern schon zwei Jahre vor mir hergestellt, einen typischen älteren Bruder, rechthaberisch, musikalisch, laut, beflissen, duckmäuserisch, hochintelligent und mich begeistert als Spielhäschen begrüßend. Wäre er eifersüchtig gewesen, hätte er mich geknufft und verklappst, hätte meines Lebens Kurve ganz andere Beulen und Senken bekommen. Doch er war begeistert. Und wartete bei der Nixenweg-Oma sehnsüchtig auf mein Eintreffen.

Ich kann mich nicht mal dunkel erinnern, ob ich ordentlich abgenabelt wurde und das Brusttrinken exakt erlernt habe. So was ist ja wichtig zu wissen, damit man dem Psychologen etwas mitzuteilen hat, falls man Nägel kaut, beim Anblick von Miederwarengeschäften zu schwitzen beginnt oder unter dem Einfluss von Resedaduft unbedingt frischgebackene Dreipfundbrote anbeißen will. Resedaduft habe ich erst später wegen des ihm innewohnenden SEDADU als etwas Merkwürdiges wahrgenommen; ich müsste da von jener Geschichte, wie ich „Mama am Ofen“ schreiben wollte, berichten. Vielleicht heißt sie auch „Mama am SEDADU“, und vielleicht komme ich noch dazu. Damals jedenfalls bin ich mit duftloser Lehmseife gewaschen worden, einer Seife, die sich quasi gewaschen hatte. Rau aber herzlos. Keine Kernseife, mit der wir jetzt umweltverträglich schrubben. Gute Seife war Westseife, doch die hieß damals noch nicht so, weil es sie noch überhaupt nicht gab und der Westen bloß im Westen lag. Sechs Millionen waren wir in Sachsen, die keine Westseife kannten. Von den sechs Millionen dürfte fast eine Million aus Schlesiern, Sudetendeutschen, Balkantypen, Halbrussen, Ganzpolen und Opankenheinis bestanden haben. Oder zwei, drei, sieben Millionen? Die Hälfte dieser Bezeichnungen habe ich damals übrigens weder ausgesprochen noch im Wortspeicher bereitgehalten, denn ich war im Babystatus als politisch korrekt bekannt, hegte in meinem süßen Nuckelschlaf keinerlei Rassenvorurteile. Im Gegenteil, ich war sogar ziemlich dunkel behaart, was mit der südsächsischen Herkunft meiner Mutter, deren Vorfahren aus den schwarzen Wäldern des Vogtlandes stammten, zu tun haben dürfte.

Meine Geburt fand im Oktober statt; ich bin ein Kind der Kartoffelernte, im Sternzeichen der Waage angetreten, wie jene Republik, die zwei Wochen vor meiner Geburt im fernen Berlin vom Präsidenten Wilhelm Pieck und dem Sachsen Walter Ulbricht gemacht worden war. Dies muss mich damals schon beeindruckt haben, denn zum Zwecke der Veraktung meines Lebenslaufs wurde mir ein Fragebogen auf den frischen, roten Bauch gelegt. Ich trug jenen Bogen gar friedlich, wie später alle Verwaltungsauflagen, und krähte meine Zustimmung dazu leis ins Krankenzimmer. Der Bogen war so groß, dass man mich hätte darin einwickeln können, er verkörperte noch gute Friedensware mit geschwärzten Stellen. Das Hakenkreuz am oberen Ende war mit einem scharfen Schnitt ein für alle Mal abgetrennt worden. Ein für alle Mal. Vermutlich bin ich später sehr oft mit Fragebögen eingewickelt worden, was ich nicht beklagen, nur wahrheitsgemäß auflisten möchte.

Kaum war ich jedenfalls da, wurde der Bogen mit guter deutscher Sütterlinschrift ausgefüllt: Religion: evangelisch. Beruf: ohne. Besonderes Kennzeichen: brüllt kaum. Muttersprache: sächsisch. Vaterland: kaputt. Appetit: befriedigend. Ohren: stramm angelegt. Alter: wenige Minuten. Geschlecht: Zipfel. Versorgungsstatus: Lebensmittelkarte einfach, mütterlicherseits. Patriotismus: noch unausgebildet. Windel: Vorkriegsware. Name: Mario Claudius Zwintzscher.“

Bleibt zum Beispiel die zumindest spekulative Frage, wie dieser Mario Claudius Zwintzscher heute die Deutsche Einheit und die Regierungszeit von Angela Merkel, die damals noch gar keine Kanzlerin war, beurteilen und für wen er sich bei der diesjährigen Bundestagswahl am 26. September entscheiden würde. Na klar, es ist nur eine spekulative Frage, aber man wird doch bei allem Ernst der Politik auch einmal spekulieren dürfen, oder?

Viel Spaß beim Spekulieren, beim Nachdenken über Ihre Wahlentscheidung und natürlich vor allem beim Lesen, weiter einen schönen Sommer, bleiben Sie auch weiter vorsichtig, vor allem aber schön gesund und munter und bis demnächst. Ach übrigens, wie leuchtet eigentlich Ihre Lebens-Ampel so? Rot, gelb oder grün? Und das ist wirklich nicht politisch gemeint.

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