Auf der Landkarte der Erinnerung, ein Mord im Atelier und Madeleine wird leichtsinnig – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Diesmal stehen eine Landschaft und deren Veränderung im Mittelpunkt des Interesses und ein König, der aus Gründen gesunder Staatsfinanzen gewissermaßen ein (negatives) Nachhaltigkeitsprojekt in Gang setzt oder setzen lässt, das wir heute wegen der Umweltbelastungen und der Hochwassergefahr auf keinen Fall wieder in Angriff nehmen würden.
Erstmals 1997 veröffentlichte Hans Bentzien im Westkreuz-Verlag GmbH Berlin/Bonn „Damm und Deich – fruchtbar und reich. Märkische Miniaturen“, worin Beiträge gesammelt sind, die Bentzien für eine Sendereihe von Antenne Brandenburg verfasst hatte und deren Anliegen er selbst so erklärte: Am Beginn unserer Betrachtungen zum Jubiläumsjahr 1997, in dem vor 250 Jahren der Plan gefasst und sogleich umgesetzt wurde, das Oderbruch zu regulieren, mag eine Zwischenbilanz Friedrichs II. stehen, der in seinem Politischen Testament von 1752 detaillierte Angaben zur Situation an der Oder macht: „Längs der Oder und Netze, einem kleinen Fluss in der Neumark, zog sich ein Streifen unangebauten, wilden und unzugänglichen Sumpflandes. Ich begann damit, die Sümpfe von Damm bei Stettin zu entwässern. Durch einen Deich wurde die Oder eingedämmt und das neue Land an die Erbauer der dort angelegten Dörfer verteilt. Dieses Werk wird im nächsten Jahre vollendet und das Land mit ungefähr 4000 Seelen besiedelt sein. Zwischen Freienwalde und Küstrin überschwemmte die Oder die schönsten Wiesen und setzte unaufhörlich ein herrliches Gebiet unter Wasser, das dadurch unbrauchbar wurde. Zunächst erhielt die Oder ein neues Bett durch einen Kanal, der die Windungen abschneidet und die Schifffahrt um vier Meilen verkürzt. Der Kanal wird im kommenden Jahr fertig. Durch die Eindämmung des Flusses wird ein Gebiet gewonnen, wo 6000 Seelen ihre Nahrung, Ackerland und Viehweiden finden. Wenn ich am Leben bleibe, wird die ganze Besiedelung im Jahr 1756 beendet sein.“ (Zwischenbilanz Friedrichs II. von 1752. Seine Planung beschränkte sich nicht nur auf das Oderbruch, wie so mancher hier annimmt, sondern war ein Teil seiner merkantilistischen Handelspolitik. Was bedeutet, dass die Wirtschaftsbilanz immer ausgeglichen sein musste. Schulden, Negativbilanzen und andere Misswirtschaft versuchte er immer, selbst im Krieg, zu vermeiden. In den Grundsätzen seiner Staatsverwaltung heißt es, dass „zwei Sachen zur Aufnahme und zum wahren Besten eines Landes gereichen: 1. aus fremden Landen Geld hereinzuziehen und 2. zu verhindern, dass das Geld nicht unnötigerweise aus dem Lande gehen müsse“. Der Handel war für den ersten Punkt, das Gewerbe für den zweiten Punkt verantwortlich. In diesem Zusammenhang also müssen wir die Anstrengungen Preußens für eine gesunde Volkswirtschaft sehen und die einzelnen Aspekte der Arbeiten im Oderbruch betrachten, einer umfangreichen Maßnahme zur Verbesserung der Infrastruktur, wie wir heute sagen würden. Daher ist es wohl gerechtfertigt, wenn wir – auch angesichts der heutigen desolaten Lage dieses Landstrichs – in diesem Jahr (1997) etwas genauer in die schöne Gegend an der Oder schauen. Hier eine dieser Miniaturen:
„Oder-Havel-Kanal oder Von Hamburg an die Oder
Unser Land ist nicht nur ein Land von Heide und Sand, sondern auch der Seen und Wasserstraßen. Und heute, wo jeder über den drohenden Verkehrsinfarkt nachdenkt, machen riesige Projekte über den weiteren Ausbau der Wasserstraßen von sich reden. Besonders die Havel soll passgerecht für Riesenschiffe zurechtgestutzt werden – gewaltige Eingriffe in die Uferzonen sind scheinbar unerlässlich. Widerstand regt sich, zumal seit der Wende die Kähne und Prähme mehr und mehr stillliegen. In den Zeiten des Kurfürsten Joachim II. wurde der erste Kanal gegraben, also seit 1558, und zwar von der Spree bis an die Brücke von Müllrose. 40 000 Taler hatte der Kaiser beigesteuert, aber der Anteil des Brandenburgers, die Strecke von Müllrose bis an die Oder zu finanzieren, fiel aus. Joachim gab das Geld für Lustbarkeiten her.
Erst hundert Jahre später wurde der Friedrich- Wilhelm-Kanal, wie er nun nach dem Großen Kurfürsten hieß, von diesem erneut betrieben, 20 m breit, 2 m tief. Das erste Schiff brachte Salz von Hamburg nach Frankfurt an der Oder. 1669 war diese Ost-West-Wasserverbindung perfekt. Dabei hatte es bereits 1605 eine andere Verbindung gegeben. Die Havel wurde von Liebenwalde aus über die ausgebaute Finow – an Eberswalde vorbei – bis Hohensaaten mit der Oder verbunden, der Finowkanal mit fünf Schleusen angelegt. Doch der Dreißigjährige Krieg ließ den staubfreien Verkehr nicht zu, wie so vieles verfiel auch dieses Bauwerk.
Friedrich II. war es, der den zerfallenen Kanal wieder aufgraben ließ. Anlass dafür war die Berechnung, wie viel billiger, weil schneller, die Salztransporte von Berlin nach Stettin gebracht werden konnten. Auf der Rücktour nahmen die Kähne Holz aus der Neumark für die Bauvorhaben der Städte Berlin und Potsdam mit, ja auch für Magdeburg brachte man das Holz aus den Wäldern östlich der Oder. Auf die wassertechnische und ökonomische Berechnung folgte sofort die Tat. Viele Arbeiter und sogar sechshundert Soldaten rodeten und gruben in schwerer körperlicher Arbeit. Um die Wassertransporte zu beschleunigen, ließ Friedrich einen zweiten Graben ziehen, und zwar zwischen Brandenburg und der Elbe, den Plauer Kanal, der nördlich Magdeburgs in den großen Fluss mündet. Damit war Magdeburg angeschlossen, aber Havelberg verlor seine Bedeutung als Teil der Ost-West-Verbindung, denn die im Unterlauf schwer schiffbare Havel trat zurück.
Heute spricht alles dafür, dass das nicht unbedeutende Werk unserer Vorfahren nicht weniger, sondern mehr geachtet werden muss, stehen wir doch vor der Frage, wie der zunehmende Ost-West-Verkehr nicht nur von der Straße auf die Schiene, sondern auch auf das Wasser gebracht werden soll. Wer sonst hätte dafür gesorgt, dass Berlin mit neumärkischem und polnischem Kies errichtet wurde, wenn nicht die Binnenschiffer.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters.
Erstmals 2003 erschien bei Eulenspiegel – Das Neue Berlin – Verlagsgesellschaft mbH & Co KG Berlin „Was heißt eigentlich „DDR“? Böhmische Dörfer in Deutsch & Geschichte“ von Matthias Biskupek. Was heißt denn das gleich? Was war denn das eigentlich? Damit die ganze DDR nicht zu einem einzigen böhmischen Dorf auf der Landkarte der Erinnerung wird, hat Matthias Biskupek den DDR-Wortschatz in seinen schönsten und geheimnisvollsten Blüten mit lexikalischer Akribie aufgerollt und gibt unter der Hand eine Nachhilfestunde in Geschichte. Ein Buch, das jenen, die durch die Ungnade der Geburt nichts Richtiges mit dem Begriff Dispatcher oder Jumo-Lappen anzufangen wissen, Aufklärung verschafft und mit dem auch die heranwachsende Generation der Erfurter oder Leipziger die Chance hat, ihre Eltern wenigstens hin und wieder zu verstehen. Hier drei dieser Verständnishilfen:
„Rinderoffenstall
Alle geschichtlichen Taten werden irgendwann wieder ruchbar. Wenn der Begriff ,Kuhhandel’ in der Epoche von Rinderwahnsinn und Brüsseler Büros eine ganz neue Deutung erhält, so hatte auch das gute alte Rindvieh, das in manchen Zeiten vegetarischen Verbraucherschützern gefährlicher als ein Atomtransport erschien, eine exponierte Stellung in der DDR-Landwirtschaftsgeschichte.
Stalin war zwar schon gestorben, in den gruselig-seligen mittleren Fünfzigern, aber der Slogan ,Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen’ war allgegenwärtig. Besonders in der Landwirtschaft taten sich auf fernen Forschungsfeldern großartige Dinge: Mitschurin sollte Tomaten von Riesengröße gezüchtet haben. Es ging ein Witz um: Kennst du die Mitschurin-Kreuzung aus Erdbeere und Kürbis? Sieht aus wie eine Erdbeere, ist so groß wie eine Erdbeere und schmeckt wie Kürbis.
Mit Nikita Chruschtschow hatte ein Mann des ukrainischen Dorfes den Moskauer Chefposten erklommen – überall wurde heftig Neuland gewonnen. Der Mais, in Chruschtschows Heimat allgegenwärtig, wurde nun auch in der DDR angebaut. Da er hier aber vor allem als Futterpflanze genutzt wurde, wurde Chruschtschows Spruch: ,Der Mais, das ist die Wurst am Stängel’ bald populär – und im Unterschied zu anderen Übernahmen kann man das bis heute gelten lassen. Mais-Silage ist gewiss gesünderes Viehfutter als Tiermehl.
Aus der Sowjetunion kam aber auch die Kunde von in Gänze gesunden Kühen. Die Sowjet-Kuh sollte deutschem Vieh Vorbild sein. Rinder litten nämlich hierzulande an TBC – die menschlichen TBC-Kranken wurden mit viel frischer Luft geheilt. Und den deutschen, kränklichen Kühen sollte nun ähnliches verordnet werden: der Rinderoffenstall. Wenn der schädliche Wechsel zwischen sommerlicher Weide draußen und winterlicher Stallhaltung durch eine hochmoderne Methode verhindert würde, liefen alsbald nur noch kerngesunde Rinder mit gigantischer Milchleistung durchs deutsche Demokratenland. Das abgehärtete Rind, flink wie ein Windhund, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl … nein, das war ein Slogan aus noch tieferer deutscher Geschichte. Bleiben wir im jungen Nichtbundesland DDR: Der Rinderoffenstall war eine Art Carport, in dem die Tiere bald sowjetisiert würden, also den Unbilden der Natur in allzeit freier Luft trotzen könnten.
Das Besondere an DDR-Beschlüssen war, dass sie in Windeseile von oben nach unten ,durchgestellt’ wurden. Hatte sich in einem leitenden Politbürokopf irgendein Rinderwahnsinn eingestellt, so grassierte er bald auch in allen nachgeordneten Köpfen. Überall mussten die soeben vergenossenschaftlichten Bäuerlein Rinderoffenställe bauen. Notfalls wurde alten geschlossenen Ställen einfach eine Mauer entnommen. Dass deutsche Rinderrassen sibirische Kälte nicht ganz so gut ertrugen wie langhaarige Artgenossen, focht die Sowjet-Methodiker nicht an. Dass die Euter als natürliche Kühl-Aggregate überfordert waren, wussten zwar die Bauern, aber die Instrukteure – auch ein schönes, altes Zeitgeist-Wort –, die Instrukteure waren der festen Ansicht, es läge nur an der ideologisch verstockten Bauernklasse.
Die Wirklichkeit – zurückgehende Milchleistung, erfrorene Kühe – belehrte die Eiferer in diesem Fall recht schnell: Die Rinderoffenställe wurden bald wieder geschlossen. Und wie immer konnten die Instrukteure nun den Bauern erneut Vorhaltungen machen: Genossen Bauern! Diesen Fehlschlag hättet Ihr doch voraussehen müssen! Ihr seid schließlich die Spezialisten! Wir geben nur die ideologische Richtung an. Und die lautet: Die deutsche Kuh lebt ungesund und liefert zu wenig Milch. Und ist das, Genossen Bauern, etwa falsch?
Mit den Rinderoffenställen ist eine jener Kampagnen losgetreten worden, die erstaunlich schnell nur noch als Beispiel für anbiederndes Funktionärsdenken stand. Kein DDR-Kabarett der Sechziger- und Siebzigerjahre, das nicht irgendwann eine Rindernummer im Programm hatte oder wenigstens das Reizwort ,Rinderoffenstall’ fallen ließ. Es war alles längst vorbei, die Rinder aus den zugigen Ställen waren im Wortsinn längst gegessen, aber man konnte den Führungsgenossen ihre Dämlichkeit vorhalten. Weil die Rinderoffenstallkampagnen der Gegenwart tabu waren, rächte man sich immer und immer wieder an längst totgewitzelten echten Rinderoffenställen. Und weil man sich all das kaum vorstellen kann aus heutiger Sicht – was die mit den blöden Zonis aber auch alles haben machen können! – freue ich mich schon darauf, wenn heutige Rinderwahnsinnsbeschlüsse dereinst in ganzen Büchern erklärt werden. Frauofrau! (Das wird frau später aus Gleichstellungsgründen sagen müssen) Frauofrau! – müssen die bescheuert gewesen sein! Die Deutschen am Anfang des dritten Jahrtausends!
Brigadetagebuch
Gleich, wo wir zur Schule gingen: Wenn der Unterricht nach deutschem System ablief, lernten wir das Zergliedern. Ein zusammengesetztes Wort gliedert sich danach in Grund- und Bestimmungswort.
Was ein Tagebuch ist, soll hier nicht zergliedert werden; wir nehmen es als Grundwort. Autoren schreiben zum Beispiel hinein: „Montag. Muss unbedingt noch das Manuskript für ‚Was heißt eigentlich DDR?‘ überarbeiten, habe aber keine Zeit, weil ich Tagebuch führen muss …“ Nähern wir uns nun dem Bestimmungswort des Begriffs ,Brigadetagebuch’. Die Brigade. Ein militärischer Ausdruck, der eine Heeresabteilung, größer als Kompanie und Regiment, kleiner als Armee, bezeichnet. Im DDR-Betrieb aber war die Brigade ,eine Wettbewerbsgruppe; das kleinste Arbeitskollektiv in der volkseigenen Wirtschaft in gemeinschaftlicher Lohnverrechnung’. Der Chef hieß Brigadier, ,der von allen Arbeitern anerkannte fortschrittlichste Arbeiter der Brigade’. Solch Bezeichnung rührte daher, weil ,Meister’ oder bei den Maurern ,Polier’ in früher DDR als bürgerlich galt – in der Sowjetunion mochte man weder Meister noch Handwerk kennen. Aus dem Keltischen übers Italienische und Französische war der Brigadier ins Russische übernommen worden, und als Sowjetbegriff hatten deutsche Meister nun Brigadiere zu sein, waren aber doch nur Vorarbeiter. Spät erst in der sozialistischen Wirtschaftsgeschichte erhielt der Meister seine Würde und seine Führungsfähigkeit zurück.
Wir sind abgekommen und haben ein Stück Geschichte erzählt – das eben aber war Aufgabe des Brigadetagebuchs. Ein solches war meist ordentlich ledergebunden (sehr gern rot, gülden geprägt der Deckel) und enthielt viele blütenweiße Seiten. Da hinein nun waren die Erfolge, die Erfolge und die Erfolge der Brigade zu schreiben, ökonomische und kulturelle. Der Brigadetagebuchführer, der öfter eine Brigadetagebuchführerin war, bekam sogar ein paar Stunden frei, um in Schönschrift aufzulisten: ,Wir erfüllten den Plan auch im dritten Quartal zu hundertundsieben Prozent, und Kollege Greiner-Müller hatte wiederum den größten Anteil daran. Sorgen macht uns unser Lehrling Conny, aber wir haben eine Patenschaft über ihn übernommen, damit seine Fehlschichten ein für alle Mal der Vergangenheit angehören.’ Wer Fantasie hat und DDR-Brigaden von innen erlebte, kann daraus nun ganze Geschichten schöpfen. Den anderen wollen wir nicht zu viel Mühe bereiten, sondern nur andeuten, dass Brigadetagebücher vor allem das außerbetriebliche Leben der Brigade widerspiegelten: ,Unser Brigadeausflug erfolgte in bewährter Weise ins schöne Schwarzatal, wo uns nach einem kräftigen Marsch, den die Kollegen Baumert und Henseleit aus fadenscheinigen Gründen ablehnten (Fußverletzung) und per Pkw absolvierten, das Ziel erwartete. 15.20 Uhr trafen alle im Gasthaus ‚Trippsteinblick‘ ein, wo die Kegelbahn bereits ‚angewärmt‘ war. Mit fünf Abräumern gewann erwartungsgemäß Kollegin Müller, Elfie, was aber insofern nicht verwunderte, da sie mit der BSG Chemie Bezirksmeister im Kegeln ist. Danach stärkten wir uns alle an Rostbrätln, von Koll. Hase fachmännisch besorgt und gebraten, und am Bier, dem einige Kollegen wieder etwas zu heftig zusprachen. Um 22.00 Uhr kam der bestellte Bus zurück, so dass wir zusammenfassend feststellen können, dass die Organisation, die in den Händen unseres Gewerkschaftsvertrauensmannes Olberth, Frank, lag, nichts zu wünschen übrig ließ.’
Vielleicht sollte man zu diesem Stücklein anmerken, dass BSG die Abkürzung für Betriebssportgemeinschaft war und sowohl Sport wie auch solche Brigadeausflüge großzügig alimentiert wurden: Die Zeit konnte herausgearbeitet werden, bis in die Achtzigerjahre hinein galten solche Veranstaltungen auch als Arbeitszeit, und der Brigadier ,schrieb dafür Durchschnitt’. Allseitig entwickelte Arbeiter sollten eben auch Kultur genießen – es gab dafür Punkte, die bei Prämien und im Ökulei eine Rolle spielten. Ich merke, es tut sich schon wieder eine ganze Anzahl böhmischer Dörfer auf – verschieben wir’s nach hinten. Nur soviel noch: Es gab auch Brigadetagebuchvergleiche; manche Brigadetagebuchführer hatten literarischen Ehrgeiz und schrieben die Erlebnisse der Brigade so auf, dass sich hinten alles reimte. Schriftsteller leiteten dann wiederum die besten Brigadetagebuchführer an: ,Zirkel Schreibender Arbeiter’ und ,Poetenseminare’ grüßten im Staat der Organisationsvernetzungen von ferne – auch das sind andere Geschichten …
Wer heute in da oder dort aufbewahrte Brigadetagebücher hineinschaut, erfährt nur einen ganz bestimmten Teil einer jeglichen Geschichte. Diese ist manchmal unfreiwillig komisch, manchmal ganz wunderbar komisch und meistens so halb fertig wie das ganze Leben.
Ottokar Domma und Alfons Zitterbacke
Manche Fantasiefiguren aus entschwundenen Welten, als Kinder noch Bücher lasen, müssen erklärt werden. Mit den beiden Rangen, wie man in besagter Vorzeit zu jenen Menschenlehrlingen sagte, die wir jetzt gar neckisch Kids heißen, den Knaben (jugendbuchdeutsch) beziehungsweise Buben (christliches Sozialdeutsch) Ottokar und Alfons hat es jedenfalls eine Bewandtnis, bei der sich harter Realismus und rosenrote Romantik aufs Merkwürdigste mischen.
Nehmen wir zunächst jenen Ottokar Domma, der als ,Der brave Schüler Ottokar’ bis ,Ottokar, das Früchtchen’ in vielen Büchern herumspukt. Sein Nachname Domma führt uns auf die richtige Spur, ins echt böhmische Dorf. ,Domma’ heißt in diversen slawischen Sprachen, natürlich auch im Tschechischen, zu Hause, daheim oder Haus. Der Volksbildungs-Mensch und Journalist Otto Häuser hingegen stammt direkt aus dem Böhmischen und mochte unter seinem den Vorgesetzten bekannten Namen keine heiteren Schulgeschichten in der Satirezeitung ,Eulenspiegel’ veröffentlichen. So machte er den ,Häuser’ zum ,Domma’ und schrieb unter diesem Pseudonym und aus der Sicht eines Elfjährigen Kinder- und Pioniergeschichten, die humorvoll (ziemlich selten in der DDR) den Bildungsbetrieb von unten anschauten. Da gab es den Pilei, also den Pionierleiter, und die Lehrer Herrn Burschelmann und Fräulein Heidenröslein sowie Schuldirektor Keiler, aber auch Freund Harald und Schweinesigi.
Ottokar erzählte aus ganz naiver Sicht, was ihm seltsam vorkam in der Schule. Und weil dieser Humor vom braven Soldaten Schwejk etwas abbekommen hatte, wurde Domma unter Erwachsenen zur beliebten Figur. Bei Lesungen des Eulenspiegel Verlages zog Otto Häuser folglich ein erstaunlich großes Publikum an – das oft als humorlos gescholtene deutsche Volk hatte, solange es DDR-förmig war, ein gewaltiges Bedürfnis nach kollektivem Lachen.
,Kollektives Lachen’ war zum Beispiel im Jahr 1958 ein bei Wissenschaftlern gern gebrauchter Begriff, in jenem Jahr, als das Kinderbuch ,Alfons Zitterbacke’ erschien. Vier Jahre später hieß die Fortsetzung ,Alfons Zitterbacke hat wieder Ärger’.
Ganz auftragsgemäß entstand im Kinderbuchverlag Berlin die Figur des Pechvogels Alfons, eines etwas unbeholfenen, träumerischen, aber nichtsdestotrotz immer sehr vorbildlich sein wollenden Schülers. Zitterbacke-Erfinder, der FDJ-Funktionär, Redakteur und Schriftsteller Gerhard Holtz-Baumert, führt in seinem Buch eine Lektorin, die Dame Zweu ein, die sich die unglaublichen Geschichten des Alfons erzählen lässt, ausgiebig darüber lacht – Zitterbacke weiß nie, warum – und ein Buch draus macht.
Nun ist schon der Name ,Zitterbacke’ für heutige Lach- und Sachforscher ein typisches Relikt angestrengter Humorigkeit im Sozialismus. Vergleicht man die Zitterbacke-Geschichten aber mit denen üblicher deutscher Jugendbücher aus jener Zeit, haben sie offensichtlich genau jenen Witz und jene Tiefe, die Kinder mögen. Sollte es denn nur am mangelnden Angebot gelegen haben, dass Zitterbacke von den Kinderbibliotheksnutzern so heftig geliebt wurde? Man kannte damals die Pinocchio-Geschichten wie auch ,Zwiebelchen’ des Italieners Gianni Rodari; beliebt waren ,Ede und Unku’, ,Die rote Zora und ihre Bande’ oder ,Sally Bleistift in Amerika’, Jugendbücher aus den Zwanzigern bis Vierzigern. Natürlich wurde ein Arkadi Gaidar und sein Kinderbuch von 1940, ,Timur und sein Trupp’, heftig gelesen – auch Alfons Zitterbacke kennt dies und will nun selbst ,Timurhelfer’ sein. Dazu muss schon wieder erklärt werden.– Timur, Sowjetschüler, lebt kurz vor Ausbruch des Krieges am Rande Moskaus in einer Datschenkolonie und beginnt, mit seinen Freunden alten Leuten und Revolutionsveteranen zu helfen. Doch er will seine Hilfe geheimhalten, ganz so, wie sein zwanzig Jahre später lebender deutscher Nachfahr Alfons. Zitterbacke aber geraten all seine Hilfsversuche zu Katastrophen; in der DDR war der Heroismus eines Timur nurmehr in der Farce möglich, könnte der heutige gutwillige Einordner feststellen. Eine kommunistische Unterwanderung durch Alfons und Ottokar hingegen muss unsere stabile demokratische Gesellschaft kaum fürchten. Die stabile demokratische Gesellschaft liest keine Papierbücher.“
Erstmals 1998 veröffentlichte Matthias Biskupek im Gustav Kiepenheuer Verlag Leipzig „Schloss Zockendorf. Eine Mordsgeschichte“: Schloss Zockendorf – eine Insel der Kunst im Ödland der Unkultur. Stipendiaten aus Ost und West kämpfen hier in aller Ruhe an der postmodernen Kunstfront und gegen den Argwohn der Eingeborenen. Eines Nachts geschieht im Atelier ein Mord, kurz danach ein zweiter …
Installationskünstler, Lückenbüßer, der Arbeiterdichter aus dem wendisch-sumpfigen Unrechtsstaat und die ewige Stipendienempfängerin aus Idar-Oberstein bevölkern das Künstlerhaus Schloss Zockendorf. Verwaltet werden sie von ebenso vielen Direktoren und Inventarnummern, die eine gläserne Administration praktizieren. Die Öffentlichkeit nimmt den ewig währenden Kunstkampf jedoch kaum wahr, ächtet ihn gar als Verschwendung von Steuergeldern. Als plötzlich ein Mord geschieht, wird vom Tierschutzverein bis zum allgegenwärtigen Lausitz-Express so mancherlei in Bewegung gesetzt. In einem Kriminalspektakel führt Matthias Biskupek die Kunst- und Ost-West-Debatten der Gegenwart vor. In grotesken Situationen und komischen Dialogen entwirft er einen Mikrokosmos, der mit lebenden Zeitgenossen und gegenwärtigen Verhältnissen garantiert nichts gemein hat. Das Buch beginnt mit einer eigentümlichen Tatortbesichtigung:
„1. Tatort
Das Schloss stand weiß und aufrecht im warmen Regen, der über das wendisch-lausitzische Land hinging, als ein jüngerer Herr mitsamt gewaltigem Koffer einem mittelgroßen Taxi entstieg. Das Taxi wendete und fuhr, kaum ein malerisches Auspuffwölkchen auf der Dorfstraße hinterlassend, schnurstracks zurück in die Heimat aller hiesigen Taxis, den zwanzig Kilometer entfernten Landkreissitz. In das Dorf mit dem weißen Schloss führte nämlich nur eine Straße hinein.
Es war dieselbe, die auch wieder herausführte.
Der junge Mann stand mit seinem großen Koffer vor dem Gebäudeensemble, Schloss Zockendorf genannt. Es bestand aus einem größeren, klassizistisch anmutenden Mittelbau, an den Seitenflügel gehängt waren, barocken Rettungshäuschen vergleichbar. Den Kenner mochte das Schloss an einen gekappten spätgotischen Flügelaltar erinnern, nur dass spätgotische Elemente kaum auffindbar waren. Zum asymmetrisch platzierten Eingangsportal führten geschwungene Stufen hinauf. Links dieser dreiflügeligen weißen Anlage duckte sich unter hohen Kastanien ein Glas- und Betonkomplex mit einer langen Reihe braun verglaster Fenster, Frucht postmoderner Bemühungen. Dahinter konnte man die Gemäuer eines Bauwerks erkennen, vermutlich vor hundertfünfzig Jahren als Orangerie konzipiert, welches so stark unter italienischem Einfluss stand, dass es sich mitten in regenfeuchter Lausitz zu schämen schien. An der rechten Seite des Hauptgebäudes gab es fünf bucklige Figuren aus weißem Gestein. Sie starrten aus riesigen Augäpfeln, in die kleine Löcher gebohrt worden waren, unbewegt jedem Eindringling entgegen. Noch weiter hinten, am Rande eines versandeten Kiefernwaldes, verloren sich Schuppen und weiß getünchte Baracken. Sie waren mit jenen kräftigen, norddeutschen Backsteinschornsteinen und blechernen Rauchfangröhren gekrönt, die der wendischen Lausitz all das anheimelnd-urtümliche Ostgermanisch-Slawische geben, welches süddeutsche und texanische Touristen zu spitzen Begeisterungsschreien animiert.
Das Ganze befand sich in einem weitläufigen Park, der neben Kastanien auch Eichen, Buchen, Ulmen, Douglasien, Vogelbeerbäume, Haselnussbuschwerk, Rhododendronzucht und Rhododendronordnung, isländisches Kriechgrün, preußisches Straßenbegleitgrün, Palmoliven, Kaktusgehölze und Marmorgewächse enthielt. Selbst die Besitzer des Standardwerks „Rothmaler: Alle Pflanzen in einem Buch für nur 29,95“ wären wohl ratlos gewesen ob dieser Vielfalt. Das dunkle Auge eines Teiches und die hellen Kieswege mehrerer Rondelle zeigten deutschen Gestaltungswillen im wendisch-märkischen Trockensumpfgebiet. Eine kaum meterhohe Backsteinmauer, auf deren First man spitze grüne Glasscherben für immer und ewig einzementiert hatte, säumte die gesamte Anlage.
Der junge Mann mit dem großen Koffer stand noch immer vor dem Tor, neben dem eine Messingtafel, mit glänzenden Schrauben im Mauerwerk verankert, folgendes mitteilte:
KÜNSTLERHAUS SCHLOSS ZOCKENDORF
Eine Einrichtung der Gemeinnützigen Stiftung KulturTest e.V
Aufsichtsratsvorsitzender:
Senator i. R. Prof. Dr. Juergen Sigfrid Klonnhusen
Der Zutritt ist an Werktagen nur Stipendiaten und Gästen des Künstlerhauses Schloss Zockendorf gestattet.
Orangerie und Schlossmuseum „Wilhelmine von Hardenberg“ sind samstags und sonntags von 13.30 bis 17.00 Uhr für den Publikumsverkehr geöffnet.
Im Auftrag der Leitung des Schlosses Zockendorf: Sabine von Ziethenow, Direktorin.
Das Schild war hochglanzgeputzt und das Tor verschlossen. Der junge Mann suchte nach einer Klingel, fand aber keine. Sich durch Rufen bemerkbar zu machen, war ihm peinlich, zumal nichts darauf hindeutete, dass selbst lautes Gebrüll über den großen Rasen hinweg jemanden erreicht hätte.
Er wuchtete seinen Koffer entschlossen über die glasscherbenbewehrte Mauer. Am Kofferstoff machte es sanft „raatsch“. Der Kommentar lautete „Shit“. Anschließend hievte der Mann sich selbst über die Mauer, was wiederum ein sanftes Geräusch und die deutsche Übersetzung vorigen Kommentars zur Folge hatte.
Mitsamt Koffer marschierte der junge Mann tapfer auf den Schlosseingang zu, als ein Herr seinen Weg kreuzte. Der Herr trug schlotternde Kleidung, ging leicht vornübergebeugt, das Gesäß nach hinten gereckt. Sein sonnenverbranntes Gesicht, dessen Züge zur Mitte hin in ein Knäuel mündeten, war von langem, dünnem, offensichtlich schwarz gefärbtem und dauergewelltem Haar umgeben. Man musste unwillkürlich an einen Pavian denken, der sein Gesäß auf dem Hals trug. Ungeachtet dessen wollte der junge Mann ihn ansprechen. Kaum aber hatte er den Ansatz eines „Entschuldigen Sie, wo ist hier …“ herausgebracht, als der Herr „Nieter mit allem Katerviehzeuk! Grießgodd!“ aus seinem roten Gesicht hervorschleuderte und armschlenkernd auf einer imaginären Linie weiterzog.
Die große Eingangstür zum Mittelgebäude war ebenfalls verschlossen. Der junge Mann klopfte an alle erreichbaren Fenster. Hinter einem erschien ein breites weibliches Gesicht und alsbald ward ihm die Tür aufgetan. „Mein Name ist Mitzke, Dr. Mirko Mitzke“, sagte der junge Mann, „ich möchte zu Frau von Ziethenow. Leider haben Sie keine Klingel.“
„Grüß Gott, Herr Dr. Mitzke“, sagte das Damengesicht, „ich bin die Frau Eisele, ökonomische Direktorin des Hauses. Aus Stuttgart. Sie sind also mein zukünftiger Stellvertreter? Die Chefin erwartet Sie schon. Wissen Sie, wir haben keine Klingel, weil man in unser offenes Haus jederzeit eintreten kann. Ohne Voranmeldung. Wir praktizieren gläserne Verwaltung.“
„Das Tor war leider auch verschlossen. Wie soll man sich ohne Klingel bemerkbar machen?“
„Das Tor klemmt. Vielleicht könnten Sie dafür sorgen, dass man ein Schild mit der Mitteilung des Klemmens anbringt? Das wäre dann gleich eine schöne Arbeitsaufgabe“, entgegnete Frau Eisele. Währenddessen aber war man vor einer Tür mit wiederum glänzender Messingtafel angelangt: „Direktion des Künstlerhauses Schloss Zockendorf – Die Direktorin – Der stellvertretende Direktor – Sekretariat.“
Frau Eisele klopfte.“
Erstmals 2007 veröffentlichte Matthias Biskupek im Eulenspiegel Verlag Berlin „EINE MORALISCHE ANSTALT. Roman mit richtigen Requisiten, letzten Vorhängen und Theaterblut“: Ein junger Mann betritt die Bretter, die die Welt bedeuten. Er wird gecastet, aber das heißt zu der Zeit noch Kadergespräch. Er findet sich wieder als Regieassistent mit Spielverpflichtung. Schnell merkt er, dass auch hinter den Kulissen ein spannendes Spiel läuft, in dem es um Liebe, Karriere und handfeste Intrigen geht. Matthias Biskupeks Roman führt in ein Provinztheater tief im Osten. Er ist eine Satire auf die Zeit, da die Welt noch nicht in Ordnung war und die Theater keine Mängelbedarfsklagen hatten, sondern einen Anspruch. Und dort begegnen wir unter anderen Menschen wie dem folgenden:
„Großer Mime
Die Aufregung geht um im Theater unter der Schnauferlburg. Sie geht ständig um, in jedem Theater jeden Landes und jeder Epoche. Seit aber Bernt Violliné mit seiner Truppe die Welt auf die offene Bühne zerrt und seine Leute sich ungeniert mit Hiesigen frech vermischen, ist dauernd Wuhling angesagt, ein derzeit modisches Wort, das im Deutschen der Wühlerei nahesteht.
Regisseur Martin kennt sich aus in Berlin. So kennt er auch den großen Mimen Lienhard Rauch, der noch den großen Wangenheim, die große Giehse und den großen Brecht kannte. Martin säuft in einer Berliner Ensemblekantine mit Lienhard und lädt ihn zum Gastspiel. Zunächst schäumt Violliné, beruhigt sich, dann schäumt Zahmholz, wird beruhigt, schließlich schäumt die örtliche Verwaltung und lässt sich nicht beruhigen. Wo kommen wir denn hin, wenn jeder hergelaufene hauptstädtische Schauspieler hier auftreten darf?
Rauch will sein Lied-und-Lust-Programm „Wenn einer bittet, so lügt er!“ auf der Großen Bühne bringen. Oberleutnant Rohrscheich von der inneren Abwehr wird konspirativ in die Hauptstadt gesandt, um das Programm zu beurteilen. Sein Bericht ist vernichtend. Bereits der Programmtitel entspricht nicht unserer Wirklichkeit, schreibt er in nur wenig verschlüsselter Form, denn Bitten der Bevölkerung sind ehrlich, wie auch deren Erfüllung durch die Organe. Zudem mogele Rauch, dem geschriebenen Text widersprechend, ein langes I ins Verbum: „Wenn einer biieetet, so lüüügt er“ singt Rauch auf quäkend-schrille Weise, was nicht nur eine Verfälschung des Originals, sondern ein Schlag in die gegenwärtig laufende Initiative über Verbesserung von Angebot und Nachfrage ist. Wenn einer bietet, so lügt er – Oltn. Rohrscheich entlarvt die Doppelzüngigkeit Rauchs, die sich in einer manierierten Dehnung von „bitten“ manifestiert. Nicht umsonst hat Oltn. Rohrscheich an der Hochschule in Golm einst das Thema „Psychologie und Theaterwirklichkeit“ durchgearbeitet.
Sein Bericht gelangt als Gutachten unter dem Decknamen des Professors Armin-Gerd Kuckmal an die kreislichen Organe, von dort auf den Schreibtisch von Janni Maus. Die geht zu Chef Kanthe. Der wischt das Gutachten parteilich weg: Wir vertrauen dem Schauspielensemble und seinem Vorschlag, den hauptstädtischen Nationalpreisträger Lienhard Rauch zu einem einmaligen Gastspiel einzuladen. Provinz-Denken ist Genossen fremd.
Da sowohl die kreislichen Organe als auch Janni Maus verschwiegen sind, wissen bald alle im Theater, dass Rauchs Gastspiel gekippt werden sollte, dank Genossen Kanthes Einsatz der Kippvorgang aber voll gekippt wurde. Rauch wird sich zum Lügen bitten lassen, dass Wangenheim, Giehse und Brecht staunen würden.
Zunächst sendet der Mime sein Werbematerial, für das er fordernd bittet, es als einmaliges Programmheft für seinen einmaligen Auftritt in der Provinz zu verwenden. Der Regieassistent macht daraus einen Vorschlag, der Chefdramaturg verändert die Satzzeichen, Oberfiedler Bernt nölt, hat aber nix Besseres, Intendant Zahmholz nickt ab. Die kreislichen Organe erhalten das Material für die nötige Druckgenehmigung – ein jedes bedruckte Papier muss mit einer achtzehnstelligen Buchstaben-Zahlen- Kombination versehen werden; erst dann darf gedruckt werden –, sofern überhaupt Papier genehmigt wurde.
Das kreislich zuständige Organ heißt Blockfreund Oskar Plaatz, christlich-demokratische Union. Er ist schon immer für alle Drucksachen zuständig, also für die Schwimmordnung im Kreismaßstab, für die Merkzettel zur Altstoffsammlung und natürlich für alle Plakate und Programmhefte des Theaters.
Als überzeugter Christdemokrat ist Nichtgenosse Plaatz besonders wachsam, ob die Normen von Sittlichkeit, Anstand und sozialistischer Menschenwürde bei den Theaterdrucksachen eingehalten werden. Diesmal ist er empört. Der Schauspieler Lienhard Rauch hat für sein Lust-und-Lied-Programm ein Statement verfasst. Dieses beginnt: „Theaterspielen ist wie Ficken.“
Nichtgenosse Plaatz lehnt es ab, weiterzulesen. Er sieht sich und die ihm anvertrauten Leser im Kreis-, Bezirks- und Republikmaßstab zutiefst verletzt. Theater ist Erbauung und Erziehung der Massen, aber nichts, was mit F., mit geschl. Verkehr, also mit Perversion in irgendeiner Beziehung steht.
Er informiert Genossen Zahmholz, der empört ist. Er habe nichts vom „Theaterspiel wie Ficken“ gewusst versichert er glaubhaft. Als er noch als Buffo „Esse müsse wassa Wunnnnderboares seihen“ sang, war man durchaus wunderbar sinnlich, drastisch, derb und direkt, aber weder zersetzend noch säuisch. Blockfreund Plaatz hört sich die Erinnerungen Zahmholzens interessiert an; vielleicht wird man sie als Waffe nutzen können, wenn demnächst die Intendantenfrage ganz neu steht.
Janni Maus bekommt die Theaterspielfickfrage auf ihren Schreibtisch. Der soll sauber bleiben, und sie delegiert nach oben. Gerhard Kanthe will vom Provinzgezänk nichts hören, ruft Zahmholz an, der solcherlei gefälligst aus der Welt schaffen soll. Die Schauspielleitung nimmt sich des Skandals an: Zensur, ruft Pompetzky begeistert: Natürlich ist Theaterspiel wie Ficken. Für mich, ruft sie in höchsten Tönen, aber der tiefsten, ihr zur Verfügung stehenden Stimme, für mich immer!
Regieassistent Matti will, dass das Programmheft erscheint, und ändert eigenmächtig, ohne demokratische Rücksprache mit Oberspielleiter und Chefdramaturg in „Theaterspielen ist wie körperliche Liebe; ist wie Lustschweiß und Kraftakt, wie Suff und Puff.“ Damit hat er zugleich die für einen makellosen Satzspiegel fehlende Zeile in den Programmzettel gestrickt, und Blockfreund Plaatz gibt sich zufrieden, auch wenn er meint, für „Puff“ müsse „Bordell“ stehen. Das wiederum reime sich nicht auf „Suff“, moniert Matti. Gemeinsam ändert man in „Teil und Bordell“, was ein kluger Hinweis auf Schiller ist, auf dessen „Räuber“ im Spielplan und seinen Essay „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“. Alle, also Plaatz und Matti, sind’s zufrieden.
Siebenhundert Programmzettel werden gedruckt und vierhundertachtzig Lienhard-Rauch-Fans füllen den Saal. „Wenn einer bietet, so liegt er“, singt Rauch, und hinterher steht er an der Kantinen-Theke und gibt sich erschöpft. Claudia Pompetzky legt ihre Brüste auf die Theke, als gewichtige Argumente für Rauchs These. Der große Lienhard gibt darauf zwei Stück Autogramme, bevorzugt aber die kleine Gisela aus der Deko, denn sie ist seiner derzeitigen Gisela ähnlich. Das verhindert leider, dass der von Oltn. Rohrscheich beauftragte „Linse“ dem angetüterten Rauch den Skandal mit dem zensierten Satz zum Theaterspiel hinterbringen kann. Irgendwann im Hotelzimmer verlautbart ein flach atmender Lienhard: „Ficken ist doch nur Theater“, und beschließt, dieses hübsche Theater unter der Schnauferlburg in sein Werkverzeichnis aufzunehmen.
Wir wissen heute, dass auch damals der Begriff Werkverzeichnis unangebracht war.“
Erstmals 1990 erschien im Eulenspiegel Verlag Berlin „Die Abenteuer der andern. Geschichten“ von Matthias Biskupek: Ein Entertainer im Urlaub; er kann es nicht lassen, er plaudert und plaudert. Am Ende hat er sich um alles geredet, was ihm wert und teuer war. Die Souffleuse eines Kleinstadttheaters gibt Auskunft über ihr Leben. In krampfhafter Ehrlichkeit beschwört sie eine Scheinwelt. Matthias Biskupek führt seine Helden in alltäglichen Situationen vor; er konfrontiert sie mit sich selbst und lässt den Leser erleben, dass dies wenig Wirkung zeitigt: Sie erkennen sich nicht. In zwanzig kurzen Geschichten bringt der Autor – mit abgeschliffenen Versatzstücken unserer Sprache spielend – Zuspitzungen und Ungereimtheiten der Gegenwart ins Blickfeld. Schonungslos und eindringlich beschreibt er Oberflächlichkeit und Unredlichkeit in den Beziehungen, die Unfähigkeit zu handeln, zu erleben und zu vertrauen. Hier der Anfang dieses Buches:
„Die Abenteuer der andern
Sie war neugierig. Einige Jahre lang hatte sie Bedienungsanleitungen für Haushaltsgeräte gelesen und die Beichten ihrer dicken und zarten Freundinnen mit einem interessierten Gesichtsausdruck verfolgt. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war selten gespielt, und das hatte ihr und den andern geholfen. Jene erleichterten sich. Und sie hatte ihre Neugier mit all jenen über sie hereinbrechenden Informationen bekämpft.
Doch jetzt wusste sie schon lange, dass Kalkstein mit Essig Verbindungen eingehen kann und dass eine Frau glücklich ist, wenn sie sich ab und zu ein Unglück eingestehen darf. Im Übrigen hatte sie zwei Kinder und einen Mann namens Ede. Und einen eigenen Namen. Der Name wurde Madeleine geschrieben und ausgesprochen Maddlähn.
Als drei Dinge zusammentrafen, die eigentlich nie zusammentreffen, wurde sie leichtfertig. Erstens hatte sie Haushalttag, zweitens waren die Kinder gut untergebracht in einem Lager mit Fahnenappell. Die Schulferien waren plötzlich ausgebrochen, und ein blauer Himmel ganztags war angesagt. Und drittens hatte ihr Mann eine Dienstreise angetreten. Er hatte gesagt, dass er zum Kombinat müsse. Dazu hatte er eine mürrische Miene aufgesetzt. Ede konnte zuweilen sehr lieb sein und zeigte selten mürrische Miene, doch Dienstreisen zum Kombinat mochte er nicht. Zumindest sagte er dies. Er mochte Kinder, Sauerkirschen und eine fraglose Frau. Madeleine fragte selten viel.
Aus der Wohnung einer ihrer unablässig beichtenden Freundinnen konnte man eine sanfte Hügelkette sehen. Immer, wenn Madeleine dort vor – oder besser hinter – der Kaffeetasse saß, blickte sie hinüber zur Hügelkette. Die Hügelkette war grünbraun. Gierig dachte Madeleine daran, wie es wäre, wenn sie hinter diese Bergwelt schauen könnte. Dieser Wunsch verschaffte ihr einen schönen, scharfen und sanften Schmerz.
Im Übrigen gehörte jenes Gebiet bereits zum Nachbarkreis, und im Nachbarkreis war sie, weiß Gott, oft genug gewesen. Mit Kindern und Ede und Wagen, sonntags. Ede aß in der Ausflugsgaststätte gern Schwarzwälder Kirscheisbecher.
Madeleine ging zur Freundin mit dem Hügelkettenblick. Madeleine war leichtfertig. Bei der Freundin gab es immer hoch aufgestapelte Sahnetorte zum Kaffee, und Madeleine wollte seit einigen Jahren abnehmen.
Ihr Weg führte sie schräg über die Straße. Sie musste an einem glanzlosen dunklen Fenster vorbei, das mit einer Kittelschürze zugehangen war und hinter dem Geräusche zu hören waren. Das Fenster reizte Madeleine, wie alles, was nur angelehnt und zugehangen war. Doch Madeleine wollte zur Freundin.
An der Wohnungstür der Freundin hing ein Zettel: „Bin eingeladen worden! Hurra! Alle sollen es wissen!“ Madeleine steckte den Zettel in ihre Handtasche.
Ein junger Mann sprach Madeleine auf dem Rückweg an. Der junge Mann wünschte, dass Madeleine sich einmal kräftig reckte. Denn er wollte spielen. Der junge Mann war sieben Jahre alt. Der Ball war in der Baumkrone gelandet.
Beide spielten zusammen Fußball. Dann erzählte der junge Mann Madeleine folgende Geschichte:
Für hervorragende sportliche Leistungen hätte er eine Bronzemedaille bekommen. Die Medaille sei an einem blauglänzenden Band befestigt gewesen. Medaille und Band habe er auf seinem neuen Pulli getragen. Doch seine bis dato besten Freunde seien daraufhin neidisch geworden, und auch sein lockerer Schneidezahn, an dem er mutig gewackelt habe, hätte ihm keinen Nutzen gebracht: man habe ihn ausgerufen. Um jener Stimmung zu entgehen, sei ihm nichts anderes übrig geblieben, als Medaille und Band zu verschenken. Gern hätte er bei dieser Tat geheult, doch er habe es unterdrückt. Anderntags habe er die Medaille gefunden, zerkratzt, mit zerrissenem Band, an einem Kletterpilz aufgeknüpft.
Während der Schilderung hatte Madeleine ihren interessierten Gesichtsausdruck nicht verloren. Der junge Mann trollte sich zufrieden. Madeleine zählte ihr silbern blinkendes Geld.
Am Bahnhof bestieg sie einen Zug. Dies war in der Tat leichtsinnig; Madeleine vertraute sich amtlichen Plänen an.
Der dunkelgrüne Personenzug zockelte durch ein hellgrünes Tal, immer zwischen grünbraunen Hügelketten entlang. Doch statt sich auf die Höhen hinaufzuwinden, verschwand die Wagenschlange in einer dunklen Röhre.
Der gegenübersitzende ältere Herr wollte Madeleine seine Hand aufs runde, warme Knie legen, doch da wurde es bereits wieder hell im Wagen, und freundlich grüßten die Hügelketten herein.
So sprach der ältere Herr Madeleine an. Und schüttete sein Herz aus.
Viel hatte er doch mitgemacht im Leben, und das Leben war eine einzige Kette von Verwirrungen. Im Testament seiner Freundin war er mit einer großen Summe bedacht worden. Doch bei der Testamentseröffnung war eine Null weggestrichen gewesen. Eine ganze Null. So war die große Summe nurmehr eine Summe gewesen. Für einen Farbfernseher hatte es gereicht. Aber alles wirklich Wertvolle aus dem Leben seiner Freundin hatten wildfremde Leute weggetragen. Leute, die für sie nie wirklich Freunde gewesen sein konnten. Bettgefährten, Lustobjekte, Genusstypen, das waren sie vielleicht für sie, das wolle er zugeben, das vielleicht.
Später, oder vielmehr vorher, war er in Biarritz, und einmal hatte er auf dem Markt ein vorteilhaftes Geschäft gemacht mit einem Lastwagen voller angefaulter Äpfel, und schon als Kind hatte er sich mit einem Floß die Mulde herabtreiben lassen, und nie, nie war er in dem Haus mit der roten Lampe. Dafür hatte er den heutigen Minister gekannt, als dieser noch sein Studienfreund war, und außerdem war während der Inflation einmal ein Zug entgleist, den er eigentlich hatte nehmen sollen, und trotz peinlichster Ordnungsliebe vergaß er einmal, die Sicherung herauszuschrauben, wobei bekanntlich viel mehr als nur zweihundertzwanzig Volt wirken. Vielfältig war das Lachen der Negerinnen, die er in Gefangenschaft vorfand, und Wohligkeit, ja Zärtlichkeit hatte er zweimal kennengelernt, und wenn er die Schminke besser vertragen hätte, auf der Gesichtshaut, wäre er Clown geworden, dennoch konnte er sich nie aussprechen, und ein einziges, winziges, kleines Mal hatte er es sich versagt, die Hand auf einem runden, warmen Knie ausruhen zu lassen. Und schön sei es immer dann, wenn er seine neue Velvetonjacke trage und in der Zeitung die Saisonpreise für Äpfel finde, weil er sich dann immer an seinen vorteilhaften Apfelverkauf erinnere.
Es war leichtfertig und leichtsinnig von Madeleine gewesen, mit diesem Zug zu fahren. Nach geraumer Zeit kam sie aber dennoch an ihr Ziel; nämlich zurück an den Ausgangsbahnhof. Der ältere Herr hatte sein Leben bereits viele Stationen vorher enden lassen, da war er bedauernd, wie sie nun endgültig zur Kenntnis zu nehmen hatte, für vielleicht immer ausgestiegen.“
Im Unterschied zu Madeleine können Sie aber wohlbehalten und gut informiert an ihr Ziel kommen, wenn Sie sich dieses und die anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters gönnen und darin unter anderem erfahren, wie ein gewisser Matthias Biskupek die Welt sah. Und ist nicht nur oft recht ungewöhnlich, sondern auch ziemlich vergnüglich. In diesem Sinne viel Vergnügen beim Lesen, weiter einen so schönen September, wie er sich beim Schreiben dieser Zeilen zeigt und blieben Sie weiter vorsichtig, vor allem aber weiter schön gesund und munter und bis demnächst. Und steigen Sie bitte auf keinen Fall aus …
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