Kunst & Kultur

Deutsch-tschechische Geschichten unserer Nachbarn – Bayern und Westböhmen

Das Projekt „Geschichten unserer Nachbarn“, welches zum ersten Mal auch auf bayerischer Seite umgesetzt wurde, kommt am Dienstag, 14. September 2021 um 17 Uhr zu seinem Abschluss. In einem Live-Stream präsentieren die einzelnen Teams die Ergebnisse ihres Schaffens. Teilgenommen haben Schülerinnen und Schüler der Schulen Luděk-Pik-Gymnasium in Pilsen, Gymnasium Sušice, Grundschule Sušice Lerchova Straße, Grundschule Bělá nad Radbuzou, Mittelschule Neunburg vorm Wald, Privat-Gymnasium Pindl in Regensburg und Tschechische Schule in Regensburg.

Die Abschlusspräsentation findet zweisprachig unter den folgenden Links statt:
deutsch: https://vimeo.com/event/1156754 | tschechisch: https://vimeo.com/event/1156750

Die erste Runde der deutsch-tschechischen Geschichten unserer Nachbarn war ein großer Erfolg, trotz der ungünstigen Pandemiebedingungen, mit denen die Teams, ihre Lehrer und die Koordinatoren konfrontiert waren. Die Schülerinnen und Schüler hatten die Gelegenheit, die Geschichten von neun Zeitzeugen aus den beiden teilnehmenden Ländern aufzuzeichnen und zu verarbeiten.

Die Geschichte der Zeitzeugin Karolína Čermáková wurde von Schülern des Luděk-Pik-Gymnasiums in Pilsen aufgearbeitet. Frau Čermáková wurde vor dem Zweiten Weltkrieg in der Region um Nýrsko im Böhmerwald geboren und wuchs in einer deutsch-tschechischen zweisprachigen Familie auf. Ihre Mutter war Hausfrau und sprach Tschechisch, während ihr Vater, der in einer Optikfabrik arbeitete, Deutsch sprach. Ein großer Teil der Familie von Frau Čermáková wurde deportiert, sie und ihr Mann galten als Feinde des kommunistischen Regimes. Sie hielten stets Kontakt zum Westen, von dem sie nur durch den Eisernen Vorhang getrennt waren, der direkt hinter ihrem Haus verlief.

Das zweite Team des Luděk-Pik-Gymnasiums in Pilsen beschäftigte sich mit der Geschichte der Zeitzeugin Elfrida Šulková, die sich stolz auf ihre deutsche Abstammung beruft und in der Tschechischen Republik blieb, obwohl ein Großteil ihrer Familie deportiert wurde. Frau Šulková wurde in einer deutsch-tschechischen Familie geboren. Ihr Vater, ein gebürtiger Tscheche, musste als Matrose in den Krieg ziehen, wo er fiel. Die Mutter war Deutsche und musste das Haus, in dem sie mit ihrer Familie lebte, noch im selben Jahr verlassen. Dank der Mitgliedschaft des Großvaters in der Sozialdemokratischen Partei durften sie in Böhmen bleiben. Ursprünglich machte sie eine Ausbildung zur Hebamme, wurde aber wegen ihres christlichen Glaubens und ihrer deutschen Staatsangehörigkeit von dort verwiesen. Glücklicherweise verhalf ihr ein Bekannter zu einer Stelle in den Škoda-Werken, wo sie 35 Jahre lang arbeitete. Im Jahr 1966 zogen ihre Mutter, ihr Bruder und ihre Schwester nach Deutschland. Zwei Jahre später zog auch ihre andere Schwester dorthin. Sie blieb in der Tschechischen Republik nur bei ihrer Urgroßmutter und ihrem Freund, den sie später heiratete. Elfriede Šulková lebt immer noch in Plachtín und spielt seit über vierzig Jahren Orgel in der Kirche von Nečtiny.  Gemeinsam mit ihrem Sohn beschäftigt sie sich mit dem Thema der deutsch-tschechischen Beziehungen.

Die Schüler des Gymnasiums Sušice befassten sich mit der Geschichte von Marie Dudová, die auf einem Bauernhof in Ujčín aufwuchs, wo ihre Familie mit deutschen Familien zusammenlebte. Darunter war auch die Familie ihrer guten deutschen Freundin, die kurz nach dem Krieg das Land verlassen musste. Nach dem Krieg wurde ihnen der Hof weggenommen, und ihr Vater musste in die Einheitliche landwirtschaftliche Genossenschaft (JZD) eintreten. Frau Dudová, eine Frau mit einem großen Herzen, half auf dem Bauernhof, der zu einem Versteck für die Partisanen rund um General Vlasov wurde, aber auch zu einem Ort, an dem deutsche Soldaten Radio hörten. Die Immobilie, die ihnen nach 1989 in einem schrecklichen Zustand zurückgegeben wurde, wird bis heute instandgesetzt.

Václav Krippel erzählte seine Lebensgeschichte den Schülern der Grundschule Sušice, Lerchova ulice. Der passionierte Jäger und Motorradliebhaber verbrachte sein Leben in Dobršín. Als kleiner Junge erlebte er den Krieg, wobei sein eigenes Leben oft auf dem Spiel stand. Hier besuchte er die Grundschule, wo er sogar Deutsch und deutsche Lieder lernte.  Er liebt die Natur, war 22 Jahre lang Förster in den städtischen Wäldern von Dobršín und 52 Jahre lang Wirtschaftler des Jagdverbandes.

Die Schülerinnen und Schüler der Grundschule Bělá nad Radbuzou trafen sich mit der Zeitzeugin Anna Ledvinová, die in Bělá nad Radbuzou geboren wurde und den Zweiten Weltkrieg in einem kleinen chodischen Dorf verbrachte. Sie erlebte die Bombardierung und die anschließende grausame Vertreibung der deutschen Bevölkerung. Sie ist eine sehr fröhliche und lebhafte Frau. Sie erinnert sich mit einem Lächeln an die schwierige Kriegszeit und versucht, nur das Gute im Menschen zu sehen.

Das erste bayerische Team der Mittelschule Neunburg vorm Wald beschäftigte sich mit der Geschichte von Anna Marie Babl, die als Kind mit ihrer Familie aus dem Grenzdorf Lísková nach Deutschland vertrieben wurde. Als Kind hatte sie das Glück, diese tragischen Ereignisse nur als ein großes Abenteuer zu erleben. Sie erinnert sich daran, wie sie im alten Zollhaus wohnte, wie sie mit dem Schlitten nach Lísková fuhr, um eine Puppenküche zu holen, die ihr Vater geschnitzt hatte, oder an ihre ersten Momente in der großen Stadt Waldmünchen, wo sie heute noch lebt. Nachdem die Familie nach Deutschland gekommen war, ging es ihr dank Papas Arbeit gut. Denn er wurde von den amerikanischen Soldaten beschäftigt, für die er Bilder und Wandmalereien anfertigte. Erst nach 1989 kehrte die Familie nach Lísková zurück, das im Wesentlichen unberührt geblieben ist.

Das zweite Schülerteam aus Neunburg vorm Wald erstellte eine Reportage über den Zeitzeugen Max Rohrmüller. Er erzählte ihnen von seinen Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg, den er als Jugendlicher erlebte. Er ist Zeuge der Abwesenheit von Männern und des Mangels an anderen Freizeitaktivitäten für Teenager während des Krieges in dem Dorf, in dem er lebte. Er erzählt von seinen Erfahrungen und Erlebnissen in der Hitlerjugend, wo er Mitglied sein musste, anstatt Messdiener in der Kirche zu sein, was ihn mehr interessierte. Nach dem Krieg musste seine Familie Vertriebene aufnehmen, weil sie als Bauernfamilie Platz auf dem Hof hatte. Herr Rohrmüller ist bescheiden und dankbar für die letzten 70 Jahre seines Lebens in Freiheit.

Ein weiterer bayerischer Zeitzeuge ist Herr Ivo Poláček, der seine Geschichte den Schülern des Privat-Gymnasiums Pind in Regensburg anvertraute. Er wurde in Prag geboren, wo er seine Jugend verbrachte und Naturwissenschaften studierte. Nach einer Anstellung als Lehrer in Podbořany arbeitete er acht Jahre lang in einem Forschungsbüro, wo er promovierte. Als Erwachsener verfolgte Herr Poláček die politischen Ereignisse und Entwicklungen in der Tschechoslowakei, was dazu führte, dass er 1970 nach einem zweijährigen Praktikum in Kanada nicht in sein Heimatland zurückkehrte. Seitdem lebt er in Deutschland, wo er in der pharmazeutischen Forschung oder als Chemielehrer tätig war. Er absolvierte die Prüfung zum Übersetzer und arbeitet immer noch als Übersetzer aus dem Tschechischen ins Deutsche.

Letzter Zeitzeuge ist Oscar Georg Siebert, dessen Ausführungen von den Schülern der Tschechischen Schule in Regensburg behandelt wurden. Herr Siebert wurde sein ganzes Leben lang von seiner deutsch-tschechischen Herkunft verfolgt, die ihn zweimal seine Heimat verlieren ließ. In Berlin geboren, zog er als kleiner Junge mit seiner tschechischen Mutter nach Prag. In der Schule wurde er diskriminiert und verspottet, und bei der Berufswahl hatte er große Schwierigkeiten, da er wegen seiner Herkunft mehrmals abgelehnt wurde. Als aktives Mitglied des Prager Frühlings wurde er verhaftet und verhört. 1976 kehrte Herr Siebert mit Hilfe der Vereinten Nationen nach Deutschland zurück. Er hat seinen Traum und seine Leidenschaft, in den Bereichen Kultur, Theater und Film zu arbeiten, nie aufgegeben. Trotz seiner schwierigen Anfänge in Regensburg, wo er unter schrecklichen Bedingungen lebte und als Schlosser auf Baustellen arbeitete, hat er nie aufgegeben. Er erhielt die deutsche Staatsbürgerschaft zurück, lernte die Sprache, machte eine Ausbildung in einer Massageschule und arbeitete in seiner eigenen orthopädischen Praxis. Seit 1986 dreht er Amateurfilme und schreibt Bücher, die sein Leben beschreiben.

Besonderheiten:

Die Schüler arbeiteten mit großer Begeisterung an den Zeugenberichten. Sie waren fasziniert von den Geschichten und Erlebnissen und sahen kleine Parallelen zu ihrer heutigen, von Pandemien heimgesuchten Welt. Ihre Augen zeigten Interesse und Bewunderung für die Momente, die die Zeitzeugen durchlebten, und Bewunderung für den Heroismus oder die Kraft, den Härten des Lebens zu trotzen.

Die Schüler hatten die Möglichkeit, die Erlebnisse am Ort des Geschehens zu hören, die Straßen zu sehen, in denen sie sich zugetragen haben, und in einem Fall sogar die Puppenküche zu sehen, die Frau Babl auf einem Schlitten mitgenommen, vor der Beschlagnahmung an der Grenze gerettet hatte und die noch heute besitzt.

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