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Wahlcheck Migrationspolitik: Zerrbild statt Chancenorientierung

In den Wahlprogrammen der Parteien werden die Themen Flucht und Asyl durchweg überbetont, dabei machen sie nur knapp über 10 Prozent der Zuwanderung nach Deutschland aus. Unspezifisch und ohne konkrete Konzepte in ihren Programmen versäumen die Parteien die für Deutschland wichtigen Gestaltungsmöglichkeiten einer gezielten Arbeits- und Bildungszuwanderung. Dies ergibt eine heute veröffentlichte Auswertung der Wahlprogramme durch Tobias Heidland und Finja Krüger, die am IfW Kiel zu Migration forschen.

„Die Wahlprogramme der Parteien greifen deutlich zu kurz. Natürlich ist Fluchtmigration ein wichtiges Thema – gerade jetzt im Kontext der dramatischen Entwicklungen in Afghanistan –, doch für die Zukunft des Arbeitsmarkts und unseres Rentensystems sind stattdessen die Arbeits- und Bildungsmigration maßgebend“, sagt Tobias Heidland, Direktor des Forschungszentrums Internationale Entwicklung am Institut für Weltwirtschaft. „Was wir von der nächsten Regierung brauchen, ist eine Politik, die auf die Zukunft ausgerichtet ist und sich dabei mit allen Arten der Zuwanderung befasst: Arbeits- und Bildungsmigration, Familienmigration, Flucht und Asyl. Fluchtmigration machte in den letzten Jahren nur einen geringen Anteil der Zuwanderung aus und sollte daher nicht überbetont werden. Migration kann, wenn sie gezielt gestaltet wird, sehr positive Wirkungen für die langfristige wirtschaftliche Situation der Bevölkerung haben. Die Wahlprogramme sind jedoch teils so stark auf Verhinderung von Migration fokussiert, dass es den Anschein hat, als wären sich die Parteien dieser Chance gar nicht bewusst.“

Die Wahlprogramme aller Parteien beschäftigen sich beim Thema Migration zu mindestens 75 Prozent mit Flucht und Asyl. Dabei machten Asyl-Erstantragstellende nur 10,6 Prozent der 2019 nach Deutschland gekommenen Migrantinnen und Migranten aus. 2020 war ihr Anteil aufgrund der Corona-Pandemie sogar noch niedriger.

Die anderen drei Migrationsarten – Familienmigration, Bildungs- und Arbeitsmigration – machten zusammen mehr als die Hälfte der Zuwanderung aus dem Nicht-EU-Ausland nach Deutschland aus. Durch die Überbetonung von Fluchtmigration vermitteln die Parteien ein Zerrbild, das Migration mit Flucht gleichsetzt, und bestärken damit eine fehlerhafte Annahme, die sich auch in der Bevölkerung wiederfindet. Dagegen vermissen Heidland und Krüger spezifische Aussagen und konkrete Vorschläge in einigen der Wahlprogramme.

Ein besonders charakteristischer Unterschied zwischen den Programmen ist der Blick auf Migration als Chance für Deutschland. Dies ist besonders stark bei der FDP ausgeprägt, während die Programme von CDU und AfD Verhinderung und Abschreckung betonen.

Dabei ist zum Beispiel das Potenzial für eine bessere Adressierung des Fachkräftemangels enorm: 2019 waren von 1,35 Millionen insgesamt Zugewanderten nur 64.000 Arbeitsmigrantinnen und -migranten aus dem Nicht-EU-Ausland. Steigender Wohlstand und die Alterung der Bevölkerung im Rest Europas werden perspektivisch dazu führen, dass die Migration aus anderen EU-Ländern zurückgeht. Eine positive Bruttozuwanderung hängt somit zukünftig umso mehr von der Gestaltung von Arbeits- und Bildungsmigration aus dem Nicht-EU-Ausland ab.

Zu den konkreten Handlungsempfehlungen der beiden Forschenden gehört ein punktebasiertes Verfahren für die Steuerung der Arbeitsmigration, wie auch Kanada es nutzt, um das hochkomplexe deutsche Zuwanderungsrecht effizienter und transparenter zu gestalten: Personen mit relevanten Fähigkeiten und guter Integrationsperspektive erhalten entsprechend ihrer Qualifikationen Punkte und können so bei der Visumsvergabe bevorzugt werden. Ein solches Verfahren vereinfacht es, Fachkräfte nach Deutschland zu locken und ist in der Lage, diese entlang von Kriterien wie Integrationsfähigkeit und -willigkeit auszuwählen, über die weitgehender politischer Konsens herrscht.

Während FDP und Grüne ein punktebasiertes Migrationssystem befürworten, bleiben die Programme der CDU und SPD vage und ohne nennenswerte konkrete Vorschläge. Die AfD bestreitet, dass in Deutschland überhaupt Fachkräftemangel bestehe. Die Linke wiederum setzt auf die Verbesserung von Arbeitsbedingungen und Qualifizierungen in Deutschland anstatt auf gezielte Zuwanderungen.

„Wirklich einig sind sich die Parteien nur bei der Notwendigkeit, Fluchtmigration zu verhindern – auch wenn die Ansätze dabei sehr unterschiedlich sind und von einem Fokus auf der Bekämpfung von Fluchtursachen bis zu ausgeweiteten Abschiebungen zurück in die Herkunftsländer reichen“, so Finja Krüger. „Die Politik sollte generell mehr auf positive Anreize setzen. Bisher gibt es für junge Menschen von außerhalb der EU kaum legale Möglichkeiten, in Deutschland zu arbeiten. Dabei brauchen wir in vielen Bereichen, wie aktuell insbesondere in der Gastronomie zu sehen ist, dringend Personal, sofern die Preise für Dienstleistungen wie Restaurantbesuche nicht deutlich steigen sollen. Innovative Ansätze wie Ausbildungspartnerschaften, bei denen EU-Länder die Ausbildung und den Spracherwerb im Herkunftsland finanzieren, können in der Zukunft helfen, Zuwanderung aktiv entsprechend unserer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Anforderungen zu gestalten.“

Weiterführende Informationen

Heidland, T., und F. Krüger (2021). Zuwanderung und Flüchtlingsschutz im Wahlkampf: Zerrbild statt Chancenorientierung. Kiel Policy Brief 157. Institut für Weltwirtschaft, Kiel.

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