Ein fatales System der Schuld
Mit „Lucrezia“ greift Georg Friedrich Händel einen der Gründungsmythen der Römischen Republik auf, die Vergewaltigung der titelgebenden Römerin und ihren anschließenden Selbstmord. „Vergewaltigung ist ein sehr heikles Thema, und ich finde erschütternd zu sehen, wie in diesem Libretto alle Gefühle und Vorwürfe, die wir von heute kennen, schon da sind.“, erklärt Regisseurin Mariame Clément. „Lucrezia ist wie eine Vorlage dazu, wie heute noch Schuldverschiebung funktioniert.“ Händel setzt Lucrezias Emotionen, von schmerzhafter Trauer und lähmender Ohnmacht bis hin zur rasenden Wut auf den Täter und Rachegedanken in fantastische Musik. Sängerin Lena Sutor-Wernich singt Lucrezia und erzählt: „Wenn ich mich in die Geschichte ungeschützt hineinversetze, kann ich erstmal nicht mehr singen. Wäre ich im wirklichen Leben in solch einer Situation, würde dies Atemlosigkeit, Weinen, Verstummung bedeuten. Die Emotionen sind hier in musikalische Formen ‚gebändigt‘. Dieser Umwandlungs-Prozess hilft, mit dem Unfassbaren umzugehen, es sagbar, singbar zu machen, und nicht einfach zu verstummen oder von den Emotionen überwältigt zu werden.“
„Als ich diese Kantate gefunden habe, war ich sofort verliebt“, erzählt Generalmusikdirektor Daniel Cohen über Lili Boulangers Kantate „Faust et Hélène“, die der Komponistin 1913 den begehrten „Prix de Rome“ einbrachte. „Und das mit 19 Jahren! Eine unglaubliche Arbeit, ein großes Genie!“, so Cohen über die farbenreiche und theatrale Musik. Das Libretto, ein Gedicht von Eugène Adenis, basiert auf Fausts Begegnung mit der antiken Figur Helena. Besessen von ihrer Schönheit und dem Wunsch, sie besitzen zu können, ruft Faust sie mit Hilfe Mephistos zu sich – bis der Traum implodiert. Auch Sängerin Solgerd Isalv ist begeistert von der Musik: „Hélène zu singen, ist ein spätromantischer Genuss! Lili malt ihr Aufwachen sehr deutlich musikalisch aus. Die Partie fängt langsam, träge und tief an und steigert sich mit ihren mehr und mehr aufgewühlten Emotionen bis in den höchsten Ton der Partie, vier Takte bevor sie in die Antike zurückgesogen wird.“
„Helena wird in die Rolle einer ‚femme fatale‘ gedrängt, hat die Erwartungen an sie – ideale Schönheit als einziger Lebenszweck – längst verinnerlicht.“, erklärt Mariame Clément. „Diese Stücke miteinander zu verbinden, zeigt, wie pervers dieses System ist: Man stellt eine Frau auf ein Podest, man begehrt sie, man mordet für sie und dann ist sie daran schuld. Die Frau ist heilig, aber sie muss auch immer bestraft werden.“
Die Produktion entstand bereits 2020 unter Coronabedingungen und nutzt das Bühnenbild der Erfolgsproduktion „Don Quichotte“ von Clément und Cohen bei den Bregenzer Festspielen 2019, die nun im Februar 2022 in Darmstadt auf die Bühne kommt. „Interessanterweise ging unser ‚Don Quichotte‘ um Männlichkeit und Heldentum.“, erzählt Mariame Clément. „Wir benutzen für ‚Lucrezia‘ das Bild und die Intimität des Badezimmers, in dem vormals ein Mann über sein Mann-Sein reflektiert hat, nun für eine Szene mit einer Frau, die über Selbstmord nachdenkt. Und in „Faust et Hélène“ haben wir das abstrakte Schluss-Bild übernommen, ein Theater auf dem Theater. Da geht es um den point of view. Wer erzählt unsere Geschichte?“
Der Musiktheaterabend dauert ca. 60 Minuten und macht eine Pause zwischen den Werken. Tickets für die Premiere am 4. Dezember sowie die Folgetermine am 11. und 29. Dezember sowie 14. Januar sind über die Vorverkaufskanäle des Staatstheaters erhältlich.
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