Sprungbrett in ein neues Leben
"Es war alles vorgeschrieben: Wie du dich zu verhalten hast. Wie du dich zu kleiden hast. Wie du deine Freizeit gestaltest. Ich durfte keine eigenen Entscheidungen treffen", sagt Mayla. "Ich dachte mir, wenn du nicht gehst, wirst du es immer bereuen. Das Leben hat eigentlich viel mehr zu bieten, aber du wirst es nicht sehen, weil du die ganze Zeit zu Hause bleiben musst, verheiratet wirst und Kinder bekommst."
Bereits mit 16 Jahren meldet sie sich beim Jugendamt. Die endgültige Entscheidung, ihr Leben komplett hinter sich zu lassen und ganz woanders nochmal von vorne zu beginnen, trifft sie aber erst nach dem Abitur. Mit Hilfe des Jugendamtes und des LWL-Heilpädagogischen Kinderheimes bekommt Mayla eine neue Identität, doch die Anfangszeit ist schwer: "Erstmal hast du Angst. Du hast die größte Angst deines Lebens. Plötzlich steht man mit allen Entscheidungen alleine da und fühlt sich auch unfassbar alleine", erzählt Mayla. "Aber irgendwann fühlt man sich frei, fühlt, dass einem die ganze Welt offensteht."
Orientierung und Halt findet sie für die ersten zwei Jahre in einer LWL-Wohngruppe: "Ich habe mich erstmal bewusst gegen eine eigene Wohnung entschieden. Alles ist so neu und man lernt erst die eigenen Grenzen kennen. Vor allem, wenn keine Grenzen mehr gesetzt sind, muss man erstmal gucken: Wie gestalte ich meine Freizeit? Wie lange bin ich draußen? Was mache ich da überhaupt? Man ist ein bisschen hilflos. Da haben die Struktur und der Rahmen der Wohngruppe gutgetan. Das ist wie eine zweite Familie."
Antje Leitheiser ist Bereichsleiterin beim LWL-Heilpädagogischen Kinderheim Hamm, Sie hat das Konzept "Rabea" mitentwickelt und betreut mit einem Team die Mädchen und jungen Frauen im Konfliktfall."Die Sicherheit der Mädchen steht an erster Stelle. Wir versuchen aber auch, gemeinsam so früh wie möglich wieder einen Alltag herzustellen", sagt Leitheiser. Dazu gehöre beispielsweise die Organisation des Schulbesuchs oder die Hilfe bei der Ausbildungssuche. "Wir stehen den Mädchen dabei unterstützend zur Seite, aber sie sollen selbst herausfinden, was sie möchten und ihre eigenen Entscheidungen treffen."
Den Kontakt zu ihren Eltern und ihren Geschwistern hat Mayla nach anderthalb Jahren das erste Mal wiederaufgenommen. Seither telefoniert sie gelegentlich mit ihrer Familie. Mehr kann sie sich zurzeit nicht vorstellen: "Ich habe kein Interesse daran, in meine alte Stadt zurückzuziehen oder Kontakte von früher wieder aufzunehmen. Ich habe mir gerade ein neues Leben aufgebaut und meiner Familie dann zu sagen, wo ich bin, das wäre mir zu viel." Zu groß sei die Sorge, wieder in alte Strukturen gedrängt zu werden.
Mayla genießt ihre Freiheit. Sie studiert, geht nebenbei arbeiten und wohnt seit Kurzem in ihrer eigenen Wohnung. "Rabea ist zwar ein kurzer Stopp auf dem Lebensweg, aber es ist auch ein Sprungbrett gewesen. Das Programm hat mir viel geboten und hat mir die Möglichkeit gegeben, erstmal behütet und nicht komplett auf mich alleine gestellt wieder ins Leben zu finden", so Mayla. "Besser hätte es nicht laufen können. Wenn ich zurückblicke, dann hatte alles einen Grund, so wie es gekommen ist. Und es hat sich total gelohnt."
Hintergrund: Das Schutzkonzept "Rabea"
Das Schutzprogramm ist im Jahr 2008 aus einer Wohngruppe für Mädchen und junge Frauen entstanden, die von Zwangsheirat oder Gewalt im Namen der Ehre bedroht waren. Antje Leitheiser, Bereichsleiterin beim LWL-Heilpädagogischen Kinderheim Hamm, entwickelte mit ihrem Team das Schutzkonzept "Rabea". Seitdem stehen ständig bis zu zwei Schutzplätze für Mädchen und junge Frauen bereit, die kurzfristig die Familie verlassen müssen. Gefördert wird Rabea durch das Land NRW.
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