Wenn KI die Herrschaft im Haus übernimmt
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Die Mutter darf nicht mehr allein leben. Alt und dement wie sie ist, wird sie zur Gefahr für sich selbst und ihre Umwelt. Ihre beiden Töchter, die Jüngere und die Ältere, überlegen, was zu tun ist. Die Ältere, alleinstehend und die Freiheiten des Singledaseins genießend, stellt zur Debatte, die alte Dame in ein Heim zu geben. Für die Jüngere, verheiratet, zwei Kinder und berufstätig, kommt das nicht in Frage. Warum nicht, fragt die Ältere: »Weil es gesellschaftlich verpönt ist?«
Die Jüngere holt die Mutter zu sich, baut ihr Haus nach deren Bedürfnissen um, verschiebt eine lang geplante Reise und arbeitet nur noch in Teilzeit. Doch schon sehr bald merkt sie, dass sie weder den Bedürfnissen der Mutter, noch denen ihrer Kinder, geschweige denn ihren eigenen gerecht werden kann. Ihr Mann schläft nur noch selten zu Hause. Immer häufiger verliert sie die Geduld. Die ältere Schwester beobachtet, wie die Jüngere an der permanenten Überforderung fast kaputt geht. Da bringt die Ältere eines Tages einen humanoiden Pflegeroboter ins Haus: Rosie Typ 3. Rosie ist ein Traum an Ausgeglichenheit, Zuverlässigkeit und guter Laune. Sie singt, während sie unermüdlich ihre Arbeiten von früh bis spät verrichtet. Sie verfügt über ein Set an Handlungsmöglichkeiten und ist in der Lage, neue Informationen zu verarbeiten und daraus ihre Konsequenzen zu ziehen. Mittels einer kleinen Uhr ist sie mit der zu pflegenden Person verbunden, registriert pausenlos deren Vitalfunktionen und das mentale Empfinden. Außerdem ist sie mit der häuslichen Umgebung vernetzt und speichert alle Einflüsse, die schädlich für ihren Schützling sind. Aus den Daten zieht sie die Schlussfolgerungen für ihr Handeln. Seit Rosie da ist, sieht die Mutter gut aus, das Haus ist perfekt sauber, die Kinder sind versorgt und die jüngere Schwester hat wieder mehr Zeit für sich. Aber Rosie duldet es nicht, wenn im Haus geraucht wird oder andere Dinge passieren, die der Mutter nicht guttun. Der Roboter, so scheint es, übernimmt immer mehr das Kommando …
Schwarze Schwäne als Metapher für Dinge, die scheinbar unmöglich sind
Der Titel »Schwarze Schwäne« spielt mit einer in der Philosophie geläufigen Metapher für Dinge, die man sich nicht vorstellen kann, die aber plötzlich eintreten und Realität werden.
Lange Zeit ging die europäische Wissenschaft davon aus, dass keine schwarzen Schwäne existierten – die Erkenntnisse, die über Generationen als gesichertes Wissen galten, erwiesen sich mit der Entdeckung schwarzer Schwäne in Australien als hinfällig. Es ist faszinierend, mit dem Gedanken zu spielen, ob das für unmöglich Gehaltene nicht doch eines Tages eintreten könnte, nämlich dass Künstliche Intelligenz die Herrschaft über diejenigen übernimmt, die sie geschaffen haben.
Verantwortung und Lebensentwürfe von Frauen
In Christina Ketterings Stück geht es aber auch um zwischenmenschliche Verantwortung, unvereinbare Lebensentwürfe und das Rollenverständnis von Frauen und Töchtern. Die Autorin nimmt das Thema Künstliche Intelligenz zum Anlass, um über das Wesen des Menschseins und über ethisch-moralische Grundlagen unserer Gesellschaft nachzudenken.
Christina Kettering selbst sagt zu ihrem Stück: »Ich wollte schon lange etwas über Künstliche Intelligenz schreiben. Mich interessiert dabei vor allem die Ambivalenz zwischen Nutzen und Gefahr. Dafür schien mir diese familiäre Pflegesituation gut geeignet, weil wir ihr, wenn sie eintritt, so ausgeliefert sind – als Kinder wie als Eltern. Die Situation in meinem Stück ist ja nur teilweise Science Fiction – Roboter werden bereits in der Pflege eingesetzt, und es wird darüber diskutiert, welche Implikationen das hat. Wer trägt die Verantwortung, wenn ein Roboter einen Menschen verletzt?«
Schwarze Schwäne schon in fünf weitere Sprachen übersetzt
Schon vor seiner Uraufführung genießt das Stück von Christina Kettering eine große Aufmerksamkeit und Wertschätzung. Das deutschsprachige Komitee von Eurodram, einem europaweiten Netzwerk zur Förderung von Übersetzern und Autoren hat »Schwarze Schwäne« in sein Programm aufgenommen. Der Stücktext konnte sich mit zwei weiteren Gewinner-Texten gegen insgesamt 86 eingesandte Texte durchsetzen. Das Stück wurde und wird, gefördert über dieses Programm, bereits in fünf Sprachen übersetzt: Galina Franzen – Russisch; Förderung durch das Goethe-Institut Moskau; Elise Wilk – Rumänisch; Förderung durch das Goethe-Institut Bukarest; Charlotte Bomy – Französisch; Blazena Radas – Kroatisch; Pauline Wick – Englisch; Förderung durch Translator Mentorship Program.
Erfreulich ist zudem, dass sich auch im deutschsprachigen Raum bereits weitere Theater die Rechte an der Aufführung von »Schwarze Schwäne« gesichert haben.
Christina Kettering, geboren 1980 in Werne, studierte Prosa und Dramatik am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie entwickelt gemeinsam mit Berliner Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft biografische Theaterprojekte und unterrichtet an Schulen und Hochschulen. Mit ihren Theaterstücken erhielt sie zahlreiche Einladungen zu Festivals und Wettbewerben, zuletzt zum Frankfurter Autorenforum. Mit »Schwarze Schwäne« gewann sie 2019 den ersten Preis beim Heilbronner Dramenwettbewerb im Rahmen des Science & Theatre Festivals. Bereits 2017 schuf sie ein Stück für das Theater Heilbronn: »Running« war 2018 für den Deutschen Theaterpreis Faust nominiert.
Elias Perrig wurde 1965 in Hamburg geboren. Er studiert zunächst Molekularbiologie in Basel, bevor er seine Theaterlaufbahn als Regieassistent am Theater am Neumarkt in Zürich und anschließend am Theater Lübeck begann. Von 1993 bis 1995 wechselte er als fester Regisseur ans Staatstheater Kassel. Seit 1995 ist er als freier Regisseur tätig und inszeniert u. a. am Staatstheater Hannover, am Schauspielhaus Zürich, am Hans Otto Theater Potsdam, am Theater am Neumarkt in Zürich, am Deutschen Theater Göttingen, am Volkstheater Wien und am Theater Heidelberg. Von 1999 bis 2005 war er Hausregisseur am Staatstheater Stuttgart. Hier inszenierte er u. a. Sophokles‘ »Antigone«, Kleists »Käthchen von Heilbronn« und Shakespeares »Ein Sommernachtstraum«. Von 2006 bis 2012 war Elias Perrig Schauspieldirektor am Theater Basel, wo er u. a. die deutschsprachigen Erstaufführungen von Dennis Kellys Stücken »Liebe und Geld«, »Waisen« und »Die Götter weinen« inszenierte. Seit 2013 ist er wieder als freier Regisseur an vielen Theater im deutschsprachigen Raum unterwegs und Gastdozent für Regie am Mozarteum Salzburg. Die Uraufführung von Christina Ketterings »Schwarze Schwäne« ist Elias Perrigs erste Arbeit am Theater Heilbronn.
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