Maßgeblicher Aspekt bei Querschnittlähmung: Lagerung der Hände
Risikoreiche Berufe oder ebensolche Sportarten und Freizeitaktivitäten sind der häufigste Grund für eine Querschnittlähmung. „Die Gefahren sind allgemein bekannt und dennoch begeben sich Menschen – meist unbedacht – immer wieder in Situationen, die im schlimmsten Fall mit einer Querschnittlähmung enden können“, sagt Martha Horn, die als Ergotherapeutin in der BG Unfallklinik in Murnau arbeitet, einem der größten überregionalen Traumazentren. Sie berichtet von saisonalen Wellen: Im Sommer kommen viele nach dem Sprung ins zu niedrige Wasser, einem Sturz mit dem Mountainbike, dem Motorrad oder einem Unfall beim Drachenfliegen in die Klinik. Der Herbst bringt häufig Verletzte, die etwa beim Baumschnitt von der Leiter fallen. Neben Arbeitsunfällen oder Unfällen im häuslichen Umfeld sorgen mittlerweile auch E-Bikes für mehr Querschnittlähmungen: Die Zahl älterer Menschen, die die Geschwindigkeit ihres E-Bikes fehleinschätzen und stürzen, steigt. Ältere Menschen sind ohnehin stärker gefährdet, sind oftmals vorgeschädigt, die Wirbelsäule ist nicht mehr so elastisch. Deutlich seltener sind Erkrankungen wie ein verengter Rückenmarkskanal – eine sogenannte Stenose –, Tumore, Blutungen, spontan auftretende Problematiken oder entzündliche Prozesse, die zu einer Querschnittlähmung führen können.
Erste Aufgabe von Ergotherapeut:innen bei Querschnittlähmung: die Hände
Ergotherapeut:innen sind Teil des interdisziplinären Teams bei der Behandlung von Menschen mit einer Querschnittlähmung. In der Klinik, in der Martha Horn arbeitet, teilen sich Physio- und Ergotherapeut:innen die manuelle Arbeit auf der Intensivstation. Physiotherapeut:innen sind vorrangig für die Atemgymnastik zuständig und erhalten die Beweglichkeit des Körpers; Ergotherapeut:innen kümmern sich von Anfang an darum, dass verletzte Personen später ihre Hände gebrauchen können, indem sie deren Gelenke durchbewegen und sich um eine richtige Lagerung kümmern. Das verhindert oder mindert Bewegungseinschränkungen. „Genauso wichtig wie das Bewegen ist das richtige Lagern der Hände“, betont die Ergotherapeutin Horn und fährt fort: „Es ist unerlässlich, die Hände ausschließlich nach einem entsprechenden Schema durchzubewegen und dann ebenfalls einem speziellen Schema folgend zu lagern, um die nötige Spannung der Beugemuskulatur zu erhalten“. Nur so können Menschen mit einer Querschnittlähmung später ihre Hände benutzen, selbst wenn die Finger gelähmt bleiben. Die ersten Wochen sind entscheidend. Liegen Hände anfangs flach oder wird überhaupt nicht auf die Lagerung der Hände geachtet, gibt es nach diesem Zeitfenster weniger Chancen, den Patient:innen den Gebrauch der Hände zu ermöglichen.
Individuell gefertigte Schienen: Spezialität von Ergotherapeut:innen
Die Ergotherapeutin Martha Horn erklärt, warum das so ist: „An den einzelnen Gelenken befinden sich Bänder, Kapseln und Strukturen, die sich verkürzen können, wenn sie nicht in Bewegung sind“. Keine, zu wenig oder falsche Bewegungen haben zur Folge, dass die Gelenke zu fest werden oder versteifen. Fangen Muskeln im Lauf der Regeneration wieder an zu arbeiten, lässt sich die Hand nur dann zur Faust schließen, wenn die Gelenke beweglich sind. Der Faustschluss ist nötig, damit Menschen mit einer Querschnittlähmung etwas greifen können. Um diese Fähigkeit aufrechtzuerhalten, fertigen Ergotherapeut:innen sofort individuelle, passgenaue Schienen in einer bestimmten Position an. Sie schaffen damit die bestmöglichen Voraussetzungen für Menschen mit einer Querschnittlähmung, ihre Hände später im Alltag einsetzen zu können. Die Hände von Anfang an prophylaktisch vorzubereiten, ist das A und O für die größtmögliche Selbstständigkeit.
Zwischen Behutsamkeit und Realität: ergotherapeutische Gratwanderung bei Menschen mit Querschnittlähmung
Erwachen die Patient:innen auf der Intensivstation, können die wenigsten das Ausmaß ihrer Verletzung einschätzen. Ein behutsames Vorgehen und äußerst einfühlsame Gespräche prägen vor allem den Beginn der ergotherapeutischen Intervention. „Sich immer auf den aktuellen Status und das, was der- beziehungsweise diejenige im Moment kann, zu beziehen, hat sich sehr bewährt“, erklärt die auf den Bereich Querschnittlähmung spezialisierte Ergotherapeutin Horn. Die Patient:innen sind im Schockzustand. Auf körperlicher Ebene spricht man vom spinalen Schock – der Körper befindet sich in der Selbstheilungsphase und versucht, so viel wie möglich zu ‚reparieren‘. Gleichzeitig besteht ein emotionaler Schock, den es abzufangen gilt. Ergotherapeut:innen fokussieren sich auf den Alltag ihrer Patient:innen, was im Fall einer Querschnittlähmung bedeutet: sich einerseits an die emotionale Lage und körperlichen Fähigkeiten herantasten und andererseits die Patient:innen mit der Realität und den Auswirkungen der Lähmung konfrontieren. Ergotherapeut:innen üben mit ihren Patient:innen zunächst banale, tägliche Tätigkeiten wie: Einen Löffel nehmen und zum Mund führen. Oder: Einen Stift aufnehmen. Klappt das nicht, wird denjenigen mit einer Querschnittlähmung meist erst bewusst, wie ihr künftiger Alltag nach dem Klinikaufenthalt aussehen wird. „Meist hinken die Patient:innen mit der seelischen Verarbeitung hinterher“, so Martha Horn. Ihrer Einschätzung nach liegt das unter anderem auch daran, dass OP, Reha und alles Weitere so schnell gehen und der Tag voller Behandlungseinheiten ist. Die Spezialisten kümmern sich mit ihrem umfänglichen Wissen um die Patient:innen, so dass diese sich sicher, bestens versorgt und gut aufgehoben fühlen. Das geht manchmal so weit, dass der ein oder andere Betroffene seine ganze Hoffnung auf eine vollständige Heilung setzt. Andere sehen von Anfang an klar, haben einen Plan, wie die Zukunft aussieht, was sie benötigen und wie sie beispielsweise ihre Wohnsituation ändern. Aber es gibt auch diejenigen, die sich nicht damit abfinden können, dass sie für den Rest ihres Lebens gelähmt bleiben werden.
Mit ergotherapeutischer Hilfe: maximale Selbstständigkeit erreichen
Um mit den unterschiedlichen Charakteren den bestmöglichen Behandlungserfolg auf allen Ebenen zu erzielen, finden Ergotherapeut:innen gemeinsam mit ihrem Gegenüber dessen Bewältigungsstrategien heraus. Wie hat er oder sie es zuvor geschafft, mit problematischen Situationen zurechtzukommen und funktionieren diese Strategien auch in dieser besonders tiefgreifenden Krise? Zusätzlich arbeiten Ergotherapeut:innen konsequent im Positiven, berufen sich auf die bereits erreichten Erfolge, um so den defizitären Blick, den Menschen mit einer Querschnittlähmung mitunter haben, in eine andere Richtung zu lenken und ihnen Mut zu machen. Sie geben Impulse, so dass Betroffene – sofern sie das nicht ohnehin schon tun – Visionen entwickeln, wie sie das Leben und ihren Alltag nach der Rehaklinik gestalten können. Maßgeblich ist dabei immer der Schweregrad der Lähmung: Können die Patient:innen tagsüber oder immerzu selbst atmen und können sie ihre Hände gebrauchen? Selbst Tetraplegiker, bei denen alle vier Extremitäten gelähmt sind, die aber noch die Arme etwas bewegen können, lernen bei Ergotherapeut:innen sogenannte Trickbewegungen, um eigenständig Gegenstände aufnehmen zu können. Darüber hinaus erleichtern technische Hilfsmittel allen Menschen mit einer Querschnittlähmung das Leben. Ergotherapeut:innen finden gemeinsam mit den Patient:innen heraus, was für sie das Beste ist und helfen bei der Beschaffung von Umfeldkontrollgeräten wie Steuerungen, die den Computer oder das Smartphone bedienen. Auch Menschen mit einem schweren Lähmungsgrad lernen mit ergotherapeutischer Unterstützung, sich beispielsweise mithilfe einer Saug-Blas-Steuerung, einer Sprachsteuerung oder durch die Kopfbenutzung zunehmend mehr Freiheiten zu erobern. Zur maximalen Selbstständigkeit ihrer Patient:innen fertigen Ergotherapeut:innen Halterungen, Klemmen und andere Hilfsmittel an. Sie finden und erfinden Alternativen, die den Menschen mit einer Querschnittlähmung alltägliche Handlungen wie selbst Zähneputzen, Essen, Trinken und so weiter ermöglichen. Den Einsatz aller Hilfsmittel, eigenen Ressourcen und Fähigkeiten üben Ergotherapeut:innen so lange mit ihren Patient:innen, bis diesen alles in Fleisch und Blut übergegangen ist und sie imstande sind, ihren veränderten, anderen Alltag anzunehmen und so autark als möglich zu bewerkstelligen.
Informationsmaterial zu den vielfältigen Themen der Ergotherapie gibt es bei den Ergotherapeut:innen vor Ort; Ergotherapeut:innen in Wohnortnähe auf der Homepage des Verbandes unter https://dve.info/service/therapeutensuche
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