Ist die deutsche Teilung überwunden?
Mit „Karsch, und andere Prosa“ veröffentlichte Uwe Johnson 1964 zum ersten Mal Erzählungen. Neben seine deutlich formorientierten Romane „Mutmassungen über Jakob“ (1959) und „Das dritte Buch über Achim“ (1961) treten nun episodisch konzentrierte, atmosphärisch dichte Erzählformen, die Wiederbegegnungen mit dem Personal der bisherigen Romane ermöglichen. Der Band „Zwei Ansichten“, 1965 erstmals erschienen, bleibt ohne Gattungsbezeichnung. Eine Krankenschwester aus Ost-Berlin und ein Fotograf aus Schleswig-Holstein lernen sich 1961 in West-Berlin kennen, die Mauer wird gebaut, sie werden getrennt. Die Geschichte handelt von ihrem Versuch, die Mauer zu überwinden, von den „Städten Berlin“, von der Macht der Medien und vom Alltag im Kalten Krieg.
Beide Bände gehen erkennbar auf dieselbe Suche nach neuen Stoffen zurück, ihre Entwicklung erfolgte teilweise parallel. Johnson schrieb sie in der ersten Hälfte der 1960er Jahre in West-Berlin, als die Berliner Mauer, deren Bau die Stadt zunächst in Schockstarre versetzt hatte, langsam zum Alltag wurde. Während in „Zwei Ansichten“ das geteilte Berlin mit seiner wechselhaften Geschichte zum zentralen Schauplatz wird, lotet Johnson in den „Karsch“-Erzählungen die Entfernungen zwischen Leipzig und Hamburg, zwischen Mecklenburg und Düsseldorf aus.
Die historisch-kritische Ausgabe legt in einem reichhaltigen Stellenkommentar die gemeinsame Entstehungsgeschichte frei und zeigt, wie exakt die Texte an den historischen und politischen Fakten entlanggeschrieben sind und welche Quellen Johnson benutzte. Die Re-Lektüre zeigt einen Johnson, der sich deutlich intensiver auch mit der politischen Lage in der BRD auseinandersetzte, als ihm gemeinhin nachgesagt wird.
Die Uwe Johnson-Werkausgabe ist als Akademienvorhaben der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften an der Universität Rostock auf 22 Bände in 43 Teilbänden angelegt. Die Bände erscheinen in Buchform im Suhrkamp Verlag und zeitversetzt digital auf www.uwe-johnson-werkausgabe.de. Das Projekt mit einer Laufzeit von insgesamt 24 Jahren wird seit 2014 im Rahmen des Akademienprogramms vom Bund und dem Land Mecklenburg-Vorpommern gefördert. Die dazugehörige Arbeitsstelle ist an der Uwe Johnson-Professur bei Prof. Dr. Holger Helbig angesiedelt. Die materiale Basis der Edition ist das Uwe Johnson-Archiv, das sich als Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung an der Universität Rostock befindet und von einer Forschungsstelle betreut wird. Gemeinsam mit der Uwe Johnson-Gesellschaft bilden diese Institutionen das Zentrum der Johnson-Forschung weltweit.
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