Omikron bringt Gesundheitssystem wohl nicht an die Grenzen
Um die Gefährdung durch SARS-CoV-2 zu beurteilen, sind die Kapazitäten des Gesundheitssystems ein entscheidendes Kriterium: Werden Spitäler genügend viele erkrankte Menschen aufnehmen und behandeln können? Sowohl auf gewöhnlichen Stationen als auch auf Intensivstationen? In Grossbritannien und anderen Ländern scheint die Entkopplung von Fallzahlen und Spitaleinweisungen Grund zu Optimismus zu geben – doch gilt das auch für die Schweiz oder Deutschland, in denen der Anteil an geimpften oder genesenen Personen niedriger ist?
Um diese Frage zu beantworten, haben Forschende der Empa-Abteilung «Multiscale Studies in Building Physics» mit Fachleuten vom Institut für Laboratoriumsmedizin und Pathobiochemie der Philipps-Universität Marburg und des Kantons Graubünden aufwändige Szenarien entwickelt – für den Zeitraum vom 17. Januar bis Ende März. Die Stärke dieses Modells besteht darin, dass viele Variablen auf der Basis von aktuellen Daten eingeflossen sind: Alter, Impfstatus, Booster-Status, Reproduktionszahl. Um die Resultate schnell verfügbar zu machen, wurden sie bereits online publiziert – vor dem üblichen Peer-Review-Prozess, erklärt der verantwortliche Forscher Hossein Gorji, «so wie das in solchen Fällen bei COVID-Forschung üblich ist». Die Resultate, die nach der fachlichen Begutachtung auch in einer Fachzeitschrift publiziert werden sollen, deuten darauf hin, dass die Omikron-Variante keine Rekordzahlen bei den Aufnahmen in Intensivstationen verursachen dürfte – weder in Deutschland noch in der Schweiz; selbst unter ungünstigen Bedingungen.
Drei Szenarien – für alle Fälle
Um unterschiedliche Gefahrenlagen zu erfassen, betrachteten die Fachleute drei Szenarien mit effektiven Reproduktionszahlen, die angeben, wie viele Menschen eine infizierte Person im Durchschnitt ansteckt. Sie rechneten mit 1,3, was ungefähr der aktuellen Situation entspricht; ausserdem mit 1,5 und 1,8, also dem ungünstigsten Fall. Dabei traten auch Unterschiede zwischen den beiden Ländern zutage: In Deutschland zeigte das «Worst Case»-Szenario eine um fast 20 Prozent höhere Fallzahl pro 100’000 Einwohner. Ein Grund dafür ist die unterschiedliche «Kontakte-Struktur» zwischen den verschiedenen Altersgruppen in der Schweiz, die dafür sorgt, dass die Infektionswelle bereits ab einem niedrigeren Spitzenwert an Fallzahlen wieder abflacht.
Neben solchen Einflüssen modellierten die Forscher auch Unterschiede bei der medizinischen Vorbeugung gegen die Omikron-Variante: Während die Impfrate in Deutschland etwas höher ist, gingen sie für die Schweiz wegen längerer Wirksamkeit des Impfstoff-Mixes von einem höheren Schutz aus. Dennoch bleiben Unsicherheiten – allein schon, weil die exakte Gefahr durch die Omikron-Variante, darunter auch langfristige Folgen bei schweren Fällen, sowie die Wirksamkeit von Impfstoffen und das Abklingen des Schutzes noch nicht genau erforscht sind.
Angesichts offener Fragen und notwendiger Annahmen, die in der Studie im Detail erläutert werden, betonen die Verfasser, dass die Resultate nicht als Prognosen, sondern als plausible Szenarien zu verstehen sind. Gegenrechnungen und eine «Sensitivitätsanalyse» (siehe Infobox) haben aber gezeigt, so Empa-Forscher Gorji, dass sie robust sind und die Szenarien zutreffen. Zudem stehen sie im Einklang mit der Entkopplung von Fallzahlen und Hospitalisierungen, wie sie in Grossbritannien und Südafrika beobachtet wurde.
Vorsichtiger Optimismus
Die Belegung von Intensivstationen in der Schweiz und Deutschland durch Omikron-Patienten dürfte also kaum kritische Werte erreichen, solange die effektive Reproduktionszahl unter 2 bleibt. «Unsere Ergebnisse sind zwar vorsichtig optimistisch», sagt Gorji, «sie sollten aber mit Vorsicht interpretiert werden.» Auch in Zukunft sollten nötigenfalls soziale Kontakte etwas reduziert werden, so der Forscher; ausserdem seien wahrscheinlich weitere Massnahmen nötig. Und um die Entkopplung zwischen Fallzahlen und Krankenhausaufenthalten zu unterstützen, sei es notwendig, die Immunität in der Bevölkerung zu verbessern.
«All unsere Szenarien gehen implizit davon aus, dass in den nächsten Wochen weiterhin Massnahmen aufrecht erhalten bzw. ergriffen werden, um die Verbreitung des Virus einzudämmen», betont auch Empa-Abteilungsleiter Ivan Lunati. Und weil der Impfschutz mit der Zeit nachlasse, gelten die Prognosen nur zum jetzigen Zeitpunkt – mit den aktuellen Impfstoff-Verwendungen und den seit den Impfungen verstrichenen Zeiträumen in beiden Ländern.
Zudem sind andere Probleme im Gesundheitswesen nicht auszuschliessen: Allein die schiere Zahl an Infektionen, so Hossein Gorji, könnte zu personellen Engpässen führen und auch die Kapazitäten bei COVID-Diagnosen beschränken. Beispiel Deutschland: Einen Höhepunkt bei der Zahl der Infizierten erwartet der beteiligte Forscher Harald Renz von der Philipps-Universität Marburg laut den Modellen für etwa Ende Februar bis Mitte März. In der Schweiz könnte es schon etwas früher dazu kommen. Zu rechnen ist dann – wie auch schon andernorts modelliert – mit einem raschen und hohen Anstieg an Infektionszahlen. Davon wird die Breite der Gesamtbevölkerung betroffen sein, also auch Mitarbeiter im Gesundheitswesen.
Neue Qualität der Pandamie
«Wir werden auf den Normalstationen mit leichter Verzögerung einen deutlichen Anstieg an Patienten mit COVID-19 sehen, wenn die Reproduktionszahl auf über 1,5 ansteigt», führt Renz aus. «Aber nicht nur Patienten, die primär wegen COVID-19 ins Krankenhaus kommen (mittelschwere Fälle), sondern auch Patienten, die mit anderen Erkrankungen behandelt werden müssen, aber zusätzlich noch infiziert sind», legt der Mediziner dar. «Dies ist eine neue Qualität der Pandemie; das hatten wir bisher so noch nicht. Im Gegensatz dazu erwarten wir keine signifikanten Mehrbelastungen bei den Intensivpatienten über die Bettenauslastung hinaus, die wir gegenwärtig schon haben.»
Diese Effekte liegen vor allem daran, dass insbesondere Personen mit drei Impfungen relativ gut vor schweren Verläufen mit Omikron geschützt sind. Hinzu kommt die hohe Infektiosität des Virus, verbunden mit einer deutlich geringeren Krankheitsschwere. «Ähnlich schnell, wie die Welle ihren Gipfel erreicht, wird sie auch wieder abschwellen, mit Ausnahme einer gewissen Prolongation bei den Intensivpatienten», sagt Renz. Natürlich könne es regionale Unterschiede geben, fügt er hinzu: «Dieses globale Länder-Szenario schliesst nicht aus, dass es Ausreiser nach oben und nach unten geben kann und damit auch regionale Überlastungen.»
Wie wird sich die Omikron-Welle nach dem betrachteten Zeitraum auf das Gesundheitswesen auswirken? Das wird stark von der Omikron-Delta-Kreuzimmunität bestimmt, die noch unbekannt ist. Die Fachleute denken, dass ihre Modelle auch in fernerer Zukunft dazu beitragen können, die Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie zu untersuchen und zu verfeinern. Aus den Analysen der gesamten Bevölkerung in beiden Ländern schliesst Ivan Lunati ausserdem, dass sich Massnahmen stärker auch an individuellen Merkmalen orientieren sollten, wenn das vorrangige Ziel ist, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden: «Ich denke, es ist an der Zeit, Strategien eigens für unterschiedliche Risikogruppen umzusetzen.»
Details zur Studie
Um die Projektionen zu berechnen, verwendeten die Forschenden ein so genanntes «Kompartiment-Modell». Damit wird die Entwicklung anhand von Populationen von «empfänglichen» Personen, Infizierten, stationär Behandelten und Patienten auf Intensivstationen modelliert. Zudem unterschied das Modell zwischen Geimpften, Ungeimpften, kürzlich Genesenen und weiteren Kriterien. Um zu überprüfen, wie robust die Resultate sind, rechneten die Fachleute weitere Szenarien durch – von günstig bis pessimistisch. Darüber hinaus kontrollierten sie den wichtigen Einfluss der Zahl der Kontakte zwischen unterschiedlichen Altersgruppen der Bevölkerung, indem sie die deutschen und schweizerischen Daten probehalber vertauschten. Diese «Sensitivitäts-Analysen» zur Studie untermauerten, dass es in beiden Ländern unwahrscheinlich ist, dass die aktuelle Omikron-Welle eine Bedrohung für die medizinische Versorgung speziell durch Intensivstationen wird. Die Studie wurde als Teilprojekt des bundesweiten Forschungsnetzwerks «Angewandte Surveillance und Testung» für das vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Verbundprojekt «Nationales Forschungsnetzwerk der Universitätsmedizin zu COVID-19» realisiert (BMBF – FKZ 01KX2021).
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