Zeitgeist-Forscherin: „Trauer ist in unseren modernen Lebensabläufen zu einem Bewältigungs-Supergau geworden“
Es ist in der Tat ein Phänomen, dass die Trauer in der Öffentlichkeit so wenig Beachtung findet, obwohl es so viele Trauernde gibt.
<strong>Woran liegt das?</strong>
Es würde heute bei den Menschen nicht mehr in den Kalender passen, sich wie früher mehr Zeit zum Trauern zu nehmen und vielleicht auch solidarischer mit den Trauernden umzugehen. Da würde die eigene, sehr komplex getaktete Lebensorganisation zum Erliegen kommen, der Funktionsablauf verrutschen. Und wenn es Probleme gibt, die uns am Funktionieren hindern, empfinden das die Menschen als riesiges Ärgernis, weil man Dinge umplanen muss.
<strong>Überfordert das die Mitmenschen? Ist es Verdrängung? Oder die Gleichgültigkeit anderen gegenüber?</strong>
Ich glaube, die Konfrontation mit Lebensbegebenheiten, die uns zum Stillstehen, zum Innehalten, zum "Moment mal, wie geht es jetzt eigentlich weiter" zwingen, sind für uns gegenwärtig schwer zu managen. Das Thema Trauer ist in unseren modernen Lebensabläufen zu einem Bewältigungs-Supergau geworden ist. Weil wir nicht wissen, wo wir die Zeit hernehmen sollen. Wir verstehen zwar, dass ein Trauernder sagt: "Leute, ich kann nicht mehr." Doch dann gucken alle betreten und sagen: "Ja, nimm dir Zeit". Und verschwinden alle in ihrem Hamsterrad und hoffen, dass es dem anderen nach ein paar Tagen besser geht.
<strong>Ist dieser Zeitmangel der einzige Grund, nicht hinzugucken?</strong>
Es gibt sicher verschiedene Gründe. Einer anderer ist die Sorge, uns auf Themen einzulassen, die uns an unsere eigene Angst, die wir in uns tragen, zu stark erinnern. In diesem Fall an unsere eigene Sterblichkeit.
<strong>Fachleute gehen davon aus, dass von einem Todesfall mindestens drei Personen betroffen sind. Wie schaffen es die Leute, trotz der eingangs erwähnten Zahlen, ihren Verdrängungsmechanismus so aufrecht zu erhalten?</strong>
Ich bin sehr erschrocken über diese Zahlen. Es kann es sein, dass diese große Zahl an Trauernden den Medien – im Vergleich zum pandemischen Geschehen an sich – nicht sensationell genug erscheint. Obwohl es das natürlich ist und in jedem Fall Aufmerksamkeit verlangt.
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<strong>„Vielleicht sind wir noch zu stark am Feuerlöschen, bevor wir uns an das Aufräumen machen."</strong>
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<strong>Bedeutet das, dass die Trauernden nie in den Fokus rücken?</strong>
Ich könnte mir gut vorstellen, dass die Beschäftigung mit den Trauernden ihre große Zeit in der Nachbereitung der Pandemie haben wird. Es scheint, als ob sich die Öffentlichkeit noch an den Inzidenzen, an der Impfpflicht, an den Politikern, an den Querdenkern abarbeiten muss. Da ist so viel Aufruhr um das Thema und viel Spaltung. Vielleicht sind wir noch zu sehr mit dem Neuen, Unbegreiflichen, Unkontrollierbaren dieser Pandemie beschäftigt. Vielleicht sind wir noch zu stark am Feuerlöschen, bevor wir uns an das Aufräumen machen.
<strong>Das macht Hoffnung …</strong>
Ich kann mir vorstellen, dass das Thema Trauern und die Situation der Hinterbliebenen eine ganz, ganz tolle Chance hat, mit einer neuen Welle ins Bewusstsein einzudringen – nachdem die Sensation abgeebbt ist. Wenn wir anfangen aufzuräumen, könnte die Erkenntnis regelrecht hochschwappen, dass so viele Menschen mit psychischen Problemen, Störungen, Verlust von Hoffnung und Zuversicht zu kämpfen hatten und haben. Und vielleicht erfährt dann das Thema sogar eine Blüte von Aufmerksamkeit.
<strong>Was nährt Ihre Einschätzung?</strong>
Sie nährt sich daraus, dass wir es im Moment mit einem Zeitgeist zu tun haben, der ein neues, empathisches Verständnis für mentale Probleme bereits hervorgebracht hat und dieses noch weiterentwickelt. Das Thema mentale Gesundheit steht ganz groß auf der Agenda.
<strong>Geht es dabei vornehmlich um die eigene mentale Gesundheit oder auch um die der anderen?</strong>
Interessant ist, dass sich aus der Strömung der Individualisierung mit dem Tenor: "Ich will mich selbst verwirklichen und ich will mein eigenes Ding machen", etwas weiterentwickelt hat. Denn wir haben festgestellt, dass das Individuum, wenn es psychische Probleme hat, den Fehler nicht mehr nur bei sich selbst sucht. Sondern gemeinsam mit anderen das System oder die Institution hinterfragt. Und sich fragt, ob es nicht das System ist, das zu diesen Problemen geführt hat. Das hat man zum Beispiel an der Aktion der Schulsprecher gesehen, die sich lautstark kritisiert haben, dass die Situation und die Befindlichkeiten der Schüler in der Corona-Pandemie nicht genügend Berücksichtigung gefunden haben.
<strong>Entspricht das einem anderen Umgang mit den eigenen Gefühlen?</strong>
Ja, ich denke, wir sind in einem Prozess, wo man mit den eigenen Gefühlen, den eigenen Befindlichkeiten und den mentalen Problemen, die wir haben, zunehmend anders umgeht. Ein junger Mann, den ich vor kurzen in einer Dokumentation gesehen habe, sagte: Seine Generation erwartet von der Gesellschaft radikale Empathie. Er hat es auf den Punkt gebracht. Da geht es lang! Radikale Empathie! Schaut her, wie es uns geht und warum wir so geworden sind, wie wir sind! Dass ist ein gänzlich anderer Ansatz, als sich immer nur einordnen, unterordnen, funktionieren zu müssen. Weil die psychische und mentale Gesundheit mehr Beachtung findet.
<strong>Seit wann beobachten Sie, dass genau dieser Aspekt mehr Aufmerksamkeit bekommt?</strong>
Das zeichnet sich schon seit längerem ab. Mir persönlich ist es vor mehreren Jahren an einem ganz anderen Beispiel aufgefallen. Nämlich, dass auf einmal die Tatort-Kommissare, die Helden, plötzlich gebrochene Figuren waren. Auch als der Hype um die skandinavischen Krimis von Autoren wie Wallander oder anderen zu uns herüberschwappte, zeigte sich: Die Kommissare waren zwar geniale Ermittler, aber oft zutiefst mental und emotional verletzt, verstört, beschädigt und die versucht haben, im Alltag zurecht zu kommen … Das war eine neue Generation von Protagonisten.
<strong>Das hält nach wie vor an?</strong>
In der Tat. Da muss man sich nur die deutsche Krimilandschaft angucken. Oder Greta Thunberg. Sie leidet ja angeblich unter dem Asperger-Syndrom. Und sagt: Ihr Anderssein ist ihre Superpower. Also: Ich denke, da ist eine Menge passiert. Und das macht mich zuversichtlich, dass das Tabu-Thema Trauer von dieser kulturellen Zeitgeist-Evolution profitieren kann.
<strong>Die Weltgesundheitsorganisation hat 2022 Trauerstörungen in das Verzeichnis ICD-11 aufgenommen, so dass Ärzte jetzt zum Beispiel Depressionen oder Angstzustände infolge von Trauer diagnostieren und für die Abrechnung mit den gesetzlichen Krankenkassen eindeutig zuordnen können. Dadurch werden diese erstmals konkrete Zahlen vorliegen haben, welche Kosten ihnen durch Trauerstörungen überhaupt entstehen …</strong>
Das zeigt, dass das Thema bereits eine institutionelle Anerkennung erhalten hat, bevor es eine öffentliche Anerkennung erhält. Oft ist es umgekehrt. Erst erfolgt die öffentliche Anerkennung eines Themas, dann justieren die Institutionen nach.
<strong>Welche Faktoren bewirken, dass Zeitgeist seine Richtung ändert?</strong>
Die Sehnsucht. Wir müssen verstehen, wonach wir uns eigentlich sehnen. Dabei ist es allerdings nicht nur so, dass wir uns zum Beispiel danach sehnen, dass die Trauer gesehen wird …
<strong>Sondern?</strong>
Es ist die Sehnsucht nach Ganzheit! Ich finde es erstaunlich, wie sehr Menschen und Kulturen ihre Denkweisen verändern können und sie etwas, was sie für Jahrhunderte als unmöglich und undenkbar erachtet hatten, auf einmal ganz toll finden. Nehmen wir Frauen in Führungspositionen. Im Prinzip wäre es zu jedem Zeitpunkt in der Geschichte möglich gewesen, mehr Frauen auf die Chefsessel zu bringen. Aber erst jetzt geschieht es wirklich. Das hat mich in meiner Zeitgeistforschung zu der These gebracht, dass wir als einzelne Person – aber auch als Kultur – immer wieder nach einer neuen Ganzheit streben. Es ist wie ein Sog, sich ganz zu fühlen.
<strong>Die Sehnsucht nach etwas, was wir nicht haben …</strong>
Wir neigen dazu, in dem riesigen Potenzial von Wirklichkeit uns eine kleine Ecke zu bauen. Das ist dann unsere kulturelle Gegenwart mit Gesetzen und Schulsystemen und Geldstrukturen und Genderideen und alles, was wir gerade so denken, wie es funktionieren sollte. Und dann erzählen wir uns gegenseitig, das ist jetzt die Wirklichkeit. Doch während wir uns in dieser Struktur aufhalten und unser Leben leben, werden wir auf einmal aufmerksam. Dass zum Beispiel diverse Personen auch alles im Leben machen können. Dass Trauer, heilsame Trauer wichtig ist. Dadurch entsteht die Sehnsucht. Sie entsteht, weil unsere Kultur, in der wir gerade leben, nun mal nicht alles abdeckt, was wir sein können und was wir erleben möchten.
<strong>Wie entsteht aus Sehnsucht Zeitgeist?</strong>
Weil sich dann die ersten Leute aufmachen und überlegen, wie kann man eigentlich in diesem leeren Feld der Sehnsucht Kultur schaffen. Dann kommt ein Film heraus, danach erscheint ein Buch. Die ersten Experten und Betroffenen treten in Talk-Shows auf. Das sind Manifestationen eines neuen Zeitgeistes, der uns daran erinnert, dass die Wirklichkeit größer ist als das, was wir gerade dafür halten. Und dass die Wirklichkeit, in der wir leben, das nicht abdeckt. Und dann fangen auch Sie als TrostHelden an, für Trauernde eine neue kulturelle Heimat dafür zu bauen, weil Sie dieser Sehnsucht gerecht werden möchten. Und damit haben Sie und andere wieder ein Stück der Ganzheit für sich erlangt. Und so geht es dann immer weiter. Es kann auch sein, dass Menschen, die Schicksalsschläge erleben mussten, die Aufmerksamkeit dafür in Zukunft ganz anders einfordern.
<strong>Das gibt jetzt richtig Zuversicht für die vielen trauernden Menschen …</strong>
Irgendwann ruft die Stimme. Irgendwann entsteht daraus eine kollektive Sehnsucht, weil das Defizit ein kollektives Defizit geworden ist. Ich glaube, wir haben im Moment eine wirklich gute Sehnsucht, um das Thema Trauern in die zukünftigen kulturellen Entwicklungen ganz weit oben auf die Agenda zu bringen. Zeitgeist ist ein Versprechen für ein gelingendes Leben. Das Versprechen, ganz zu werden. Das zieht uns an. Dann beginnt ein kultureller evolutionärer Prozess, ein Lernprozess.
<strong>Bei Trauer verhält es sich allerdings meines Erachtens grundlegend anders als etwa bei der erwähnten Frauenbewegung. Denn es gab bereits früher in Deutschland eine Trauerkultur mit viel Empathie und Unterstützung für die Betroffenen. Dieses Thema ist also keines, das reift und reift und dann seine Zeit hat. Passt Ihre These trotzdem auf Trauer?</strong>
Ja, sie passt. Denn früher gab es andere Trauerregeln. Zum Beispiel, dass die Witwe ein Jahr lang schwarz tragen musste, dass die Nachbarn sich kümmern müssen. Es gab also einen Trauerverhaltenskatalog, eine Form von Verordnung. Zwar mag sie am Anfang gut meint gewesen sein, um den Trauenden wirklich Raum für die Trauer zu geben. Aber wenn ein Verhaltens- und Normenkatalog anfängt, den Trauernden nicht mehr dienlich zu sein, entsteht die Sehnsucht, das zu verändern.
<strong>Weil Trauernde diesen Regeln nicht mehr entsprechen wollten?</strong>
Genau. Das kann eine Ursache sein, dass wir diese Form der Trauerkultur wegdrängen. Es kann das Ende einer Struktur bedeuten, wenn sie zu rigide, zu streng, zu wenig Gestaltungsraum lässt. Dann entsteht eine neue Sehnsucht: Ja, ich möchte mich nach vier Monaten neu verlieben können. Ja, ich möchte tanzen. Ja, ich möchte wieder bunte Kleider tragen. Ja, ich möchte lachen und wieder lebendig sein. Gleichzeitig kann es dadurch aber auch sein, dass die Trauernden mit ihren Ängsten und ihrer Verzweiflung nicht mehr so stark gesehen werden.
<strong>Wenn also das Gefühl besteht, dass wir etwas verloren haben, wie etwa eine Trauerkultur, dann kommt sie an einer anderen Stelle wieder modifiziert zurück?</strong>
So ist es. Dann hat sie einen Ausmistungs-, Reinigungs-, Neustart-Prozess gemacht! Es ist selten etwas verloren. Meistens kommt es in irgendeiner Form wieder. Aber es entzieht sich oft unserer gegenwärtigen Vorstellungskraft, in welcher Form es wiederkommt.
<strong>Ist das der Zauber von Zeitgeist?</strong>
Ja. Wir glauben, etwas zu verlieren, und dann kommt es an anderer Stelle im neuen Gewand zurück. Und hat all das rausgewaschen, was der Sache sowieso nicht mehr dienlich war. Aber das ist nicht leicht zu erkennen, weil wir es uns nicht vorstellen können. Wir denken zum Beispiel: Es ist ganz schlimm, die Trauerkultur geht verloren und kommt nie wieder. Und für die Menschen, die in den Übergangsphasen davon betroffen sind, ist es auch ganz schlimm. Aber es ist nicht für immer. Es geht immer wieder aufs Neue ums Ganze.
<strong>Warum sehen so wenige Menschen, dass Trauer – richtig begleitet – auch Chancen und Geschenke bereithält? Persönlichkeitsentwicklung auf der individuellen Ebene und Mitmenschlichkeit auf der gesellschaftlichen Ebene. Brauchen wir eine neue Vision von Trauer?</strong>
Wir brauchen eine neue Vision für radikale Empathie, um eine noch vitalere Gesellschaft zu sein. Die Frage ist nur: Wie kommt diese in die Welt? Ich kann mir vorstellen: Wenn jetzt eine Generation aufwächst, die für sich diese radikale Empathie beansprucht, dann wird das auf alle Lebensbereiche übertragen – und damit auch auf die Trauer. Es geht darum, die Empathie gesamtgesellschaftlich zu etablieren.
<em><strong>Kirstine Fratz ist seit 2007 Zeitgeist-Forscherin. Die Publizistin berät große Unternehmen und spürt für Firmen wie Gucci, Audi oder Beiersdorf Zukunftsthemen auf.</strong></em>
TrostHelden bietet einen weltweit einzigartigen Ansatz in der Trauerhilfe. Die Trauerfreund-Vermittlung TrostHelden bringt Trauernde mit einem ähnlichen Schicksalsschlag und ähnlichen Lebensumständen zusammen. Möglich wird das durch ein spezielles Computerprogramm, das TrostHelden zusammen mit Experten aus Trauerhilfe, Hospizbewegung, Psychologie und digitalem Matching entwickelt hat. Der Algorithmus macht es möglich, dass sich Trauernde finden, die perfekt zueinander passen und tiefes Verständnis füreinander haben. Die persönlichen Trauerfreunde unterstützen, trösten und helfen sich gegenseitig. TrostHelden ist eine Online-Hilfe zur Selbsthilfe, mit der trauernde Menschen gemeinsam einen neuen, heilsamen Weg aus ihrer Trauer beschreiten.
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