Erinnerung an eine Revolution, Besuch im Paradies sowie Ferien bei Tante Wally „Pfefferschote“ – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
Mit zwei Erzählungen widmet sich Wolfgang Schreyer in seinem Band „Die Entführung“ den sozialen Kämpfen in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts – 1966 in Lateinamerika und 1975 in Portugal.
In „Das Mädchen aus dem Spiegel“ erzählt Siegfried Maaß von Dagmar, die ihren etwas altertümlich klingenden Vornamen gern zu Daggi abkürzt, und die nicht nur einen ganz besonderen Namen hat, sondern auch ein ganz besonderes Talent – auch wenn das nicht jeder gleich merkt. Nicht einmal ihr Papa.
Eher als Versager fühlt sich dagegen der zwölfjährige Held in „Martin oder Zwei linke Hände“ von Barbara Kühl. Doch ist das wirklich so?
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Auch heute gehen wir einen Schritt zurück in Vergangenheit, in die deutsche Geschichte, die hier aus einer ungewöhnlichen Perspektive betrachtet wird und dennoch enger mit der Gegenwart verbunden ist als man auf den ersten Blick glaubt. Und es geht nicht nur um Menschenrechte und altes Unrecht, sondern auch um die Erkenntnis, dass manches Tabu überwunden werden muss, um danach besser und klarer zu sehen …
Also, was wissen wir eigentlich über Namibia und die Namibia-Deutschen? Und über die damaligen Kolonial-Verbrechen am Waterberg vor 118 Jahren?
Erstmals 2004 veröffentlichte Jürgen Leskien bei Schwartzkopf Buchwerke Hamburg Berlin „Dunkler Schatten Waterberg. Afrikanische Nachtgespräche“: Dunkler Schatten Waterberg – über allen seinen Begegnungen und Gesprächen mit den Namibia-Deutschen, die der Schriftsteller Jürgen Leskien getroffen hat, liegt wie ein Schatten die Niederschlagung des Herero-Aufstandes 1904 am Waterberg, der grausame Rachefeldzug der kaiserlichen deutschen Kolonialsoldaten gegen die von ihnen so genannten Hottentotten.
Am Anfang des dicken Buches steht ein sehr ehrliches Bekenntnis: „Sich der Seelenlage Deutscher in Namibia anzunehmen, den Frauen und Männern unvoreingenommener, geduldiger Zuhörer zu sein, ihnen aufmerksam in die Augen zu schauen war lange noch für mich mit dem Ruch des Ungehörigen behaftet.“
Dennoch gelingt, als der Schriftsteller Jürgen Leskien kurz nach 1989 nach Windhoek gelangt, ein vielschichtiges Porträt der heutigen Namibia-Deutschen, die Nachfahren der einstigen Südwester, das sich aus vielen einzelnen Porträts zusammensetzt
Und wir erfahren zugleich, wie, aus welchen unterschiedlichen Gegenden und aus welchen unterschiedlichen Gründen die Deutschen damals nach Afrika gekommen waren, nach Deutsch Südwest. Deutsche Geschichte aus ungewohnter Perspektive. Hier der Beginn dieses spannenden Buches, dem Gedanken eines berühmten portugiesischen Schriftstellers vorangestellt sind:
„Leb in der Gegenwart, sagst du;
Leb ganz in der Gegenwart!
Aber ich will nicht die Gegenwart, ich will Wirklichkeit;
Ich will die Dinge und nicht die Zeit, die sie misst.
Fernando Pessoa
Spuren im offenen Terrain
Sie stellen zunächst fest, dass sie es nicht schätzen, wenn über sie gesprochen wird. Fast immer sagen sie das. Zu oft sind wir verraten worden, behauptet Arthur, der Lüderitzer Diamantfischer deutscher Zunge.
Wir stehen auf dem Vorschiff seines blutroten Zehn-Meter-Kutters. Arthur hat vor der Küste vier Claims gepachtet, deren Grund er mit dem Plastikrohr vom Bug des Schiffes aus bestreicht. Ein kräftiger Staubsauger, der Kies und Diamanten schlürft. Sehr viel Kies, sehr wenig Diamanten. Nach der Rückkehr lauert an der Pier die Diamantenpolizei, übernimmt die verplombten Säcke mit dem Diamanten gespickten Kies. Und nach zwei Wochen fließt die Kohle. Das ist mein Leben, verstehst du. Mehr gibt es nicht zu sagen. Keine Zeit für tiefsinnige Betrachtungen über Tage und Nächte im Flaschenhals Lüderitz. Warum wer hier bleibt und warum andere bei Nacht verschwinden. Schwarze, Weiße, Bunte. Schluss und weg. Obwohl hier alles begonnen hat. Und die alten Verträge rechtens sind, was ihr Deutschländer natürlich bestreitet. Oder?! Alles klar? Zum Wohl!
Ausgesprochen selbstbewusst, die deutschsprachigen Weißen in Lüderitz. Wenn man auf ihren Planken steht, sich zum Sundowner auf ihrer Terrasse lümmelt.
Sich der Seelenlage Deutscher in Namibia anzunehmen, den Frauen und Männern unvoreingenommener, geduldiger Zuhörer zu sein, ihnen aufmerksam in die Augen zu schauen war lange noch für mich mit dem Ruch des Ungehörigen behaftet.
Sind sie nicht die Nachkommen der Schutztruppler, jener Schlapphutsoldaten des deutschen Kaisers, die am Waterberg mit dem Maxim unter den Hereros wüteten und die Namas – sie nannten sie in deutsch-nationaler Einfalt die Stotterer, die Hottentotten – bis aufs Letzte bekämpften? Nicht selten zählen sie zu den Abkömmlingen deutscher Missionare. Erwiesen sich jene Männer in Schwarz nicht als Vortrupp betrügerischer Händler und Landräuber? An Plätzen mit gutem Wasser sesshaft geworden, verkündeten sie die Botschaft Gottes, tauften Schwarze im Dutzend, steckten Hereroweiber, damit sie ihre Blöße bedecken mögen, in weit ausladende, viktorianische Kleider, hämmerten Kindern das Alphabet ein. Und ließen Schnapshändler, Mädchenschänder, Viehdiebe ziehen. Dieses im Kopf, springen dem eiligen Gast Zeichen rückwärts gewandter Gesinnung heutiger Südwester sogleich ins Auge. Das über der Stadt thronende Denkmal des deutschen Reiters in Windhoek, die Brötchen aus der Dampfbäckerei Maier Omaruru, mit Schmucknarben verziert – Hakenkreuze auf der Morgenschrippe zu Hitlers Geburtstag -, das Antiquariat, das schon immer Hans Grimm führte, und den Raubdruck „Mein Kampf“.
Und es schien, als wären sie stolz, die Deutschen zwischen Wüste und Meer, auf diese Reliquien, wie anderen Orts Bürger auf Eifelturm, Freiheitsstatue, Brandenburger Tor. Mit einem an Verbitterung grenzenden Ernst bodenständig, eingegraben bis zur Hüfte in diesen fließenden, wehenden Sand, den sie „Deutsche Erde“ nannten oder „Tirol“. Solitäre mit sonnengegerbten Gesichtern, Greifwerkzeug ähnlichen, welken Händen. Die vierte Generation schon hier geboren mit ängstlich wachgehaltenem Rest von Illusionen. Den Blick voraus – bis zum Horizont. Und der Horizont verschmolz über die Jahre mit den Schwebehölzern des letzten Kampzaunes der eigenen Scholle. Deutsch-Land, karges Mutterland.
Dann das Jahr 1989. Kaum merklich sickerten Namenlose der Squattercamps – Kinder, Frauen und Männer aus dem Township Katutura – ein in die weiße Stadt, kamen die einstigen Underdogs legal und selbstbewusst über die Grenze nach Hause, platzierten sich an Verhandlungstischen. Und hissten im Jahr darauf ihre Fahne. Die Republik Namibia war geboren, zur Überraschung der Südwester, der meisten jedenfalls.
Irgendwann blieben die Hakenkreuzbrötchen aus, war das letzte Exemplar des Raubdrucks verkauft. Auch deutsche Zungen schmeckten den neuen Worten nach. National reconcilation, nationale Aussöhnung, war das von den Siegern tatsächlich ernst gemeint? Affirmative action, werden nur noch Schwarze und Coloureds studieren dürfen?
In dieser Zeit kam ich nach Windhoek. Ich stand da, verstört, mit meiner eigenen, in Frage gestellten Identität. Mein Land war in den Westen gegangen. Der kalte Wind der veränderten Realität traf mich unerwartet heftig. Schuppen lösten sich aus dem Panzer. Ein Nerv lag plötzlich frei. Im Chaos des Umbruchs entdeckte ich sie plötzlich neu, die einstigen Südwester. Leicht verletzbar und auf eine besondere Art empfindsam geworden, schärfte sich mein Blick für jene gleicher Sprache und Haut, die sich unter der Last der Geschichte schon ein halbes Leben lang fragten: wer bin ich. Ich hasste diese Beunruhigung, dieses aufkommende Gefühl der Annäherung, rührte es doch an meine längst verinnerlichten, weil nicht selten bestätigten Vorurteile vom Menschen weißer Haut inmitten der African community der schwarzen Freunde.
Es waren die Monate, in denen meine Landsleute Bücher in Braunkohlenrestlöcher verkippten, Bilder von Wohnzimmerwänden nahmen. Plötzlich schätzten sie auch ihrer eigenen Hände Arbeit nicht mehr. Fuhren von nun ab Yamaha statt MZ Zschopau, griffen sich Thomy-Senf, übersahen den eben noch begehrten aus Bautzen, schmähten Spreewälder Gurken und verfütterten Finkenheerder Konfitüre an Schweine, die sie eigentlich auch gleich abschaffen wollten.
Diese so plötzlich und so würdelos einsetzende Demut vor den neuen Herren widerte mich an. Ich suchte nach einer Nische, über der ein Stück Himmel rein war. Und fand mich wieder, immer noch gläubig, im frei gewählten Parlament.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters.
Erstmals 1979 erschien im Mitteldeutschen Verlag Halle/Saale „Die Entführung. Zwei Erzählungen“ von Wolfgang Schreyer: Lateinamerika, 1966: Eine Handvoll Studenten, junge Männer und Mädchen aus meist gutbürgerlichem Haus, führt seit Jahren Krieg gegen das Militärregime in Uruguay. Legendäre Guerilleros leiten todesmutig Aktionen der Gruppe, gestützt auf Rat und Tat der kleinen kommunistischen Partei ihres Landes – aber auch notfalls auf eigene Faust handelnd. Eine konfliktreiche Episode der erbitterten Klassenkämpfe in Lateinamerika, wie sie sich auch in Nicaragua zugetragen haben könnte.
Lissabon, Herbst 1975: Die portugiesische Revolution, von den Rechtskräften gebremst, verliert ihren Schwung. Dennoch gibt der Brunnen bauende Ingenieur nicht auf, geht es ihm doch um den Traum seines Lebens: Er will den Bauern im vertrocknenden Alentejo Wasser bringen, doch sie können das nicht bezahlen. Er wird daraufhin von seiner vermögenden Frau verlassen. Die Söhne stehen zu ihm, die Tochter will vermitteln, doch als sein Schwager verbittert aus Angola heimkehrt, ein vitaler Revanchist, geht der Riss durch die ganze Familie. Gehen wir in der ersten der beiden spannend zu lesenden Erzählungen knapp sechs Jahrzehnte zurück:
„1
Die Sache begann vor gut einem Jahr, im Mai 1965. Natürlich reicht meine Geschichte weiter zurück, doch ich will mich auf diese Aktion beschränken. Damals nämlich, im vorletzten Mai, spürte ich allmählich Veränderungen um mich; anfangs rein instinktiv. Es mehrten sich gewisse Situationen, wie man sie aus Gangsterfilmen kennt. Wenn etwa nachts gelegentlich das Telefon klingelt, wenn sich bei verschwiegenen Wanderungen am Zaun des Botanischen Gartens Silhouetten bewegen und, geht man auf sie zu, zu unglaubwürdigen Posen verliebter Pärchen erstarren, wenn gegenüber deinem Haus ein Typ so tut, als lese er Zeitung oder warte auf den Bus, in den er dann nicht steigt – da begreifst du, dass es Zeit wird, zu verschwinden. Es ging nicht mir allein nur so. „Beim ersten Mal kann’s Zufall sein“, hatte Herbert gesagt – so heißt Luis Turcios Lima bei uns; „beim zweiten Mal vielleicht noch Pech. Beim dritten Mal ist es mit Sicherheit der Feind.“
Natürlich hing dieser kaum merkliche Wandel mit bestimmten Entwicklungen inner- und außerhalb des Landes zusammen. Soeben war der Armeeoberst Molina erschossen worden, derselbe Gangster, dem Herbert schon drei Jahre zuvor die Attrappe einer Bombe, an der eine Warnung hing, ins Auto geworfen hatte. Mein Vater, als Waffengefährte, regte sich sehr auf, doch ich wies ihm nach, dass Molina der ranghöchste Verbindungsmann zum nordamerikanischen Geheimdienst gewesen und für etliche Morde verantwortlich war. Dann richtete meine Gruppe in der Zone VI den Polizeichef Napoleon hin, nebst einem früheren Batista-Mann, der diesen Mafioso beraten hatte. Auf der Atlantik-Straße nahm Herbert eine ganze Kompanie gefangen, während die Armee ergebnislos nach ihm die Berge absuchte… Die Armee zeigte sich all dem überhaupt nicht gewachsen, wie mein Vater erbittert feststellte. Außerdem waren die Yankees gerade in Santo Domingo gelandet, um ein „zweites Cuba“ zu verhindern: die freie Welt war in Gefahr.
Gleich ein paar Worte zu meinem Vater. Es fehlt mir da gar nicht an Mitgefühl. Sein Vater wiederum hatte es schon mit vierzig zum General gebracht, vor dem 44er Umsturz, als es bei uns den Rang noch gab. Der General Otto Valdés Frey (meine Urgroßmutter kam aus Deutschland) muss ein bewunderter und gehasster, jedenfalls ein dominanter Mann gewesen sein – das hat es dem Sohn nicht leicht gemacht. Vater ist ja empfindsam, eine künstlerische Natur, eigentlich wollte er malen, wurde aber Militär. Niemand fragte je nach seinen Bildern. Man kam eben nicht auf die Idee, er könne noch etwas anderes im Auge haben als die Karriere. Denn er war stets seriös, höchst korrekt und auch bei starker Gemütsbewegung beherrscht; in seiner Unbeholfenheit manchmal rührend. Kein Denker, eher ein fleißiger Merker mit einem Hang zur Akkuratesse, deutsches Erbgut wohl, in seinen Malutensilien, und nicht nur dort, herrscht mustergültige Ordnung.
Heute ist er einer unserer zahlreichen Obristen – es müssen an die hundert sein, immer einer auf sechzig Mann – ohne viel Einfluss. Ein Dutzend von denen hat sich nämlich den Kuchen geteilt, de facto die Generalität. Die nimmt ihn nicht auf, das weiß er bestimmt; er kennt seine Grenzen. Er ist ein weicher, anpassungsfähiger Mensch, der um der Familie willen gern ein Herr geworden wär, ein großer Mann, aber nie herausgefunden hat, wie man das macht; zumal wenn alle drei, vier Jahre das Regime wechselt. Als Stellvertreter des Chefs der Rückwärtigen Dienste versteht er eine Menge von Logistik, hat das ganze Arsenal unter sich, kommt selber aber nicht mal an eine Bazooka heran, weil er bloß am Schreibtisch sitzt, über all den Bestands-, Verlust- und Beschaffungslisten. Ein paar der Granatwerfer, Maschinengewehre und M 3-Karabiner, die ihm als vermisst gemeldet wurden, gehören zu unserer Ausrüstung.
Ich konnte jederzeit auffliegen, im Mai 65, die Gruppe als ganzes gefährden, da blieb mir nur, in den geschlossenen Untergrund zu gehen. Aber ich wollte das nicht schweigend tun, sondern es ihm wenigstens andeuten; mit meiner Schwester verband ihn wenig, im Grunde, als Gesprächspartner, hatte er nur mich. Und wider Erwarten begriff er sofort, ich sah’s ihm an, sein Gefühl schien ihm seit langem gesagt zu haben, was ich wirklich trieb, wenn ich vorgab, ein Mädchen auszuführen oder übers Wochenende mit Kommilitonen zu feiern – weit draußen vor der Stadt, wo wir unsere Ausbildung bekommen und dann selber die Neuen ausgebildet hatten. Doch er zog es vor, seine Ahnungen zu verdrängen und mich misszuverstehen.
Was denn, Marc, weg von der Uni – vorm Examen?
Bitte, besorg mir einen Pass.
Mein Gott, wohin willst du?
Ich bleibe in der Stadt, vorläufig.
Mach Schluss damit, Junge, gib es auf!
Das kann ich nicht, Vater.
Was ändert ihr? Du rennst ins Unglück, sie fassen dich!
Nein – eben deshalb geh ich ja.
Muss das sein? Das hat Folgen, auch für uns.
Mehr als Oberst kannst du doch nicht werden.
Und Mutter? Das darfst du ihr nicht antun.
Es ist Zeit für mich…
Wenn du uns verlässt, dann komm niemals wieder!
Das war sein letzter Satz gewesen, und ich wusste, es war ihm ernst.“
Erstmals 1973 veröffentlichte Heiner Rank im Verlag Das Neue Berlin seinen Utopischen Roman „Die Ohnmacht der Allmächtigen“: Auf den ersten Blick scheint es ein Paradies zu sein, in das Asmo, der Mann ohne Erinnerung, verschlagen worden ist, ein Land des ungetrübten Genusses, des pausenlos anhaltenden Glücks. Die Dafotil, Bewohner des Planeten Astilot, kennen weder Mangel noch Sorge noch Krankheit, Alter, Unrecht, Strafe, Zwang, Gewalt. Was sie wünschen, geht in Erfüllung, ihr Gruß lautet: „Viel Liebe!“ Und dennoch fällt es Asmo schwer, sich einzuleben. Das Aromakonzert auf der Duftorgel lässt ihn kalt, Jonas hemmungslose Hingabe befremdet ihn, die Unterwürfigkeit der Dienstautomaten macht ihn traurig, das zügellose Gebaren auf dem Tanzessen widert ihn an. Was soll er hier, wo er ein Fremdkörper ist und allein durch seine Existenz die ausgeklügelte Harmonie gefährdet? Wem dient es, welche Absicht verbirgt sich dahinter? Heiner Rank begnügt sich nicht mit Andeutungen, wie es auf dem Planeten Astilot aussehen könnte, er geht ins Detail, und seine Fantasie ist bis zum letzten Kapitel frisch und unverbraucht. In Landschaften und Bauten, in technischen und sozialen Einrichtungen, in Machtverhältnissen, menschlichen Beziehungen, Gewohnheiten und Anschauungen offenbart sich eine fremdartige Welt, farbig und vielgestaltig, immer wieder neu, überraschend anders, fordert heraus zum Vergleich und zur Wertung. Die symbolhafte Fabel, eingebettet in eine von starken Spannungshöhepunkten getragene Handlung, stellt Fragen, die in der Utopie traditionell sind: Was ist Glück, worin liegt der Sinn des Lebens? Die Antwort ist nicht endgültig, kann es nicht sein, weil jede Zeit auf eigene Weise zu antworten weiß, doch sie führt dahin, dass wir Probleme wiedererkennen, dass wir Befürchtungen und Hoffnungen entdecken, die auch uns bewegen. Erleben wir zu Beginn einen Mann, der etwas sehr Ungewöhnliches erlebt und nicht alles versteht, was ihm widerfährt:
„1. Kapitel
Eine Woge Ozon wehte durch den Raum, kaum spürbar, sanft wie ein Hauch. Der Mann auf dem Bett begann sich zu bewegen. Er öffnete die Augen noch nicht, ganz gegen seine Gewohnheit; er zögerte, als würde er ahnen, dass er nur noch wenige Sekunden hatte, bevor ihm etwas Neues, etwas Unbekanntes entgegentrat. Er lag reglos, atmete in tiefen Zügen einen fremden, belebenden Duft und überließ sich den Bildern, die in ihm aufstiegen.
Schaumkronen auf glasgrünem Wasser, das Rauschen der Brandung. Sein Pferd geht in spielerischem Trab über den feuchten Sandstreifen des Ufers, mit beiden Händen hält er sich an der wehenden Mähne. Dicht neben ihm ein Mädchen, braun gebrannt, in abgewetzten Hosen, ein rotes Band in dem vom Wind zerwühlten Haar. Weit vor ihnen die anderen Reiter, Schemen, verwischte Konturen, die rhythmisch auf und ab schwingen. Das Mädchen singt. Ein wildes Lied, eine heisere Stimme. Ist es der Schmerz, sich für lange Zeit von der vertrauten Welt zu trennen, Abschied zu nehmen von den Menschen, die sie liebt? Oder nur Ungeduld, freudige Erwartung, Sehnsucht nach der einmaligen, unwiderruflichen Tat, nach den Abenteuern der Erkenntnis?
Der Mann lauschte. Fremde Klänge drangen in sein Ohr. Säuselnde Geigen, darüber die Tonperlen eines Cembalos. Die Musik störte. Sie gehörte nicht dazu, begann die Bilder zu verdrängen. Er wollte sie festhalten, suchte nach den Namen für das Mädchen, die Freunde, das Meer. Vergeblich.
Er fand die Namen nicht, und ohne Namen ließ sich nichts beschwören. Das Mädchen, die Freunde, das Meer, sie versanken in Nebelschleiern.
Der Mann schüttelte ärgerlich den Kopf und öffnete die Lider. Was er sah, war ihm unbekannt. Ein mittelgroßer, rechteckiger Raum. Die Zimmerdecke gab gelbes Licht, das keine Schatten warf. Wände und Fußboden waren grau, aus einem glänzenden pelzartigen Material, ebenso die wenigen apfelsinenfarbenen Möbel. Die Musik war noch da. Sie schien aus den Wänden zu dringen.
Der Mann richtete sich auf, hellwach. Er schwang sich aus dem Bett und streifte die Decke ab, die leicht an seiner Haut haftete. Sein Körper war muskulös, ohne Anzeichen von Fett, die Haut von gesundem Braun. Dreißig Jahre hätte man ihm gegeben auf den ersten Blick, doch der Ausdruck seiner Augen, die Linien um Kinn und Mund verrieten zwanzig Jahre mehr an Arbeit und Erfahrung.
Er sah sich prüfend um. Irgendetwas versetzte ihn in Unruhe, etwas Fremdartiges, das von allen Seiten auf ihn einzudringen schien. Er spürte es deutlich, obwohl die Farben des Raumes, die ozongeschwängerten Düfte, die heitere Musik sein Unbehagen verwischen, ihn in ein schwebendes Glücksgefühl entrücken wollten. Sollte er nachgeben, sollte er der Verlockung folgen?
Er verzog spöttisch den Mund und blickte zu Boden, um sich zu konzentrieren. Sekundenlang stand er unbeweglich, dann begann er sein Kinn zu massieren – und erstarrte mitten in der Bewegung. Mit unsicheren Fingern tastete er über sein Gesicht. Alles fühlte sich fremd an, Mund, Nase, Wangen, Stirn. Was war das für ein Gesicht?
Gab es keinen Spiegel in diesem Raum? Mattierte Flächen, wohin er sah, nirgends ein Fenster, ein Stück Glas, eine Politur. Natürlich auch keine Tür. Panik drohte ihn zu überfluten. Er ließ sich niedersinken, schloss die Augen und umklammerte die Kanten der Betteinfassung. Seine Hände pressten sich in das elastische Metall, er spürte die Kühle der Oberfläche und die zunehmende Härte des Kerns. Langsam drängte er die Angst zurück, und der Wille zur Selbstbeherrschung gewann die Oberhand.
Heiß war ihm geworden. Sein Herz klopfte heftig, seine Augen waren weit geöffnet. Er legte sich flach auf das Bett und begann nachzudenken. Was war geschehen?
So sehr er sich bemühte, er fand keine Antwort. Der Name? Wie war nur sein Name? Er konnte sich nicht erinnern. Wie alt war er? Wo geboren? Woher kam er?
Nichts. Keine Antwort. Der Weg in die Vergangenheit war blockiert. Er hatte das vage Gefühl, dass alle Antworten noch vorhanden waren, doch sie lagen hinter einer wogenden grauen Wand, in einem nicht mehr erreichbaren Winkel seines Gehirns.
Warum, zum Teufel, konnte er sich nicht erinnern? Wo war er überhaupt? Und wie stand es mit seiner Fähigkeit, logisch zu denken? Vorsichtig, tastend, nicht ohne Angst vor einem Fehlschlag, begann er seinen Verstand zu prüfen. Vier mal drei? – Zwölf. Fünfzig minus dreizehn? – Siebenunddreißig. Siebenunddreißig multipliziert mit zwölf? – Vierhundertvierundvierzig. Die Gesetze der Logik sind die Widerspiegelung des Objektiven im subjektiven Bewusstsein des Menschen. – Richtig?
Der Entropiesatz der Thermodynamik fiel ihm ein, Wort für Wort, dann folgten die mathematischen Symbole der ersten historischen Formel. Gestochen scharf erkannte er jede Einzelheit, als hätte er die Seite des Lehrbuchs aufgeschlagen. Theoretische Kenntnisse waren also noch vorhanden. Doch sobald er versuchte, Antworten auf sein persönliches Leben zu finden, ließ ihn das Gedächtnis im Stich. Die Erinnerung an seine Vergangenheit, an das vielfältige Geflecht menschlicher Beziehungen, an seine Umwelt war verloren.
Er suchte nach einer Erklärung. Möglicherweise waren die Neuronenkreise für das Kurzzeitgedächtnis gestört. Sollte vielleicht ein starkes Magnetfeld die Bioelektrik der Hirnzellen durcheinandergebracht haben? Die molekularen Strukturen für die langfristige Erinnerung schienen weitgehend unberührt. Die Diagnose war unvollständig, sie ließ Widersprüche offen, dennoch beruhigte sie ihn. Plötzlich fiel ihm ein, dass man sich kraft eigener Erkenntnis seiner Vernunft nie ganz sicher sein durfte. In der ironisierenden Betrachtungsweise erkannte er sich unvermutet wieder. Er lächelte erleichtert. Ein Stückchen vertrauten Charakters gab ihm mehr Zuversicht als die Ergebnisse seiner Denkarbeit.
Das Licht der Zimmerdecke pulsierte sekundenlang in kräftigem Orange. Er schreckte aus seinen Gedanken auf. Im gleichen Moment ertönte ein Geräusch: plop-plop. Es hörte sich an, als wären zwei Wassertropfen in einen halb leeren Eimer gefallen. An der Schmalseite des Raumes erschien eine leuchtende Fläche. Sie glitt lautlos zur Seite. Durch die Öffnung trat eine Frau.“
Erstmals 2017 erschien als Eigenproduktion von EDITION digital – und zwar sowohl als gedruckte Ausgabe wie auch als E-Book – „Das Mädchen aus dem Spiegel“ von Siegfried Maaß: Das Mädchen aus dem Spiegel ist Dagmar. Das sei ein ganz besonderer Name, sagt die alte Tänzerin, denn er bedeutet ‚die Friedliebende’.
Im Schneidersitz teilt die Zehnjährige ihrem Spiegelbild ihre Gedanken mit. Auch ihre Wünsche und seltsamen Einfälle, die meistens oft zu merkwürdigen Geschichten zwischen Traum und Wirklichkeit geraten.
Irgendwann hat sie entdeckt, dass sie ihre Gedanken aus dem Kopf entlassen und als Bilder in die Luft aufsteigen lassen kann. Ganz merkwürdig erscheint es ihr, mit einem Mal dieses Wesen, das sie in ihren Gedanken entstehen ließ, über sich zu sehen. Mal schwebend wie ein Schal, der im Wind flattert. Oder als kriechenden Sandwurm am Strand.
Einmal berichtet sie im flotten Ton einer Sportreporterin, wie sie aus dem Flug im Kettenkarussell mit einer gläsernen Murmel genau in eine der Blechdosen traf, die ein Schausteller zum Zielwerfen aufgereiht hatte. Oder dass ein Sommerferienerlebnis, worüber sie in der Schule erzählen soll, plötzlich zu einer abenteuerlichen Schlittenfahrt wird, in der sie Leuten begegnet, die völlig in Fell gekleidet sind.
Fast jeder, dem Daggi begegnet und der sich mit ihr unterhält, blickt sie zuerst zweifelnd an und fragt sich: Sagt sie jetzt die Wahrheit? Oder spinnt sie wieder und tischt mir eine ihrer Geschichten auf?
Aber ihre Lehrerin erkennt Daggis Begabung und führt sie mit anderen Kindern zusammen, die ebenfalls Geschichten aufschreiben. Aus Spaß wie sie selbst oder um sich auf diese Weise von ihren kleinen Nöten oder Ängsten zu befreien. Am Lagerfeuer hören sie einander zu und neue Freundschaften entstehen. Zum ersten Mal spürt Daggi, dass sie und ihre neuen Freundinnen mit ihren Texten Einblicke in ihr Leben gewähren. Und das ist die Wahrheit, die wie ein schöner Diamant zu glänzen scheint.
Am Schluss haben Daggi und ihre Eltern einen schönen Anlass für eine ganz besondere Feier. Hier hören wir zunächst, weshalb der Autor sich für einen anderen Buchtitel entschieden hat:
„Das Mädchen aus dem Spiegel
Das Mädchen aus dem Spiegel?
Ebenso gut hätte ich die ‚Die Geschichtenerfinderin’ darüber schreiben können. Denn am meisten wird von einem Mädchen erzählt, das sich Geschichten ausdenkt. Fast überall, wo es sich aufhält. Für sich selbst, aber auch für andere und damit auch für euch. Nur so zu ihrem Spaß. Aber jeder, der sie bereits kennt und sich mit ihr unterhält, blickt sie zuerst immer zweifelnd an und fragt sich: Sagt sie jetzt die Wahrheit? Oder spinnt sie wieder und tischt mir eine ihrer Geschichten auf?
Das hört sich an, als wäre dieses Mädchen eine ganz gewöhnliche Lügnerin.
Ich kenne sie aber sehr gut und kann darum behaupten, dass dies nicht zutrifft. Vielmehr spricht sie einfach aus, was ihr gerade in den Sinn kommt. Weil es ihr schwer fällt, es für sich zu behalten.
Sie besitzt eine große Erfindungsgabe und kann manchmal selbst nicht genau unterscheiden, ob sie sich an etwas erinnert oder es sich soeben ausgedacht hat.
Wenn sie nämlich im flotten Ton einer Sportreporterin davon berichtet, dass sie aus dem Flug im Kettenkarussell mit einer Murmel genau in eine der Blechdosen treffen konnte, die ein Schausteller unter ihr zum Zielwerfen aufgereiht hatte. Drei Würfe ein Euro! verkündete der Besitzer und hielt in beiden Händen seine Bälle wie heiße Kartoffeln. Laut pries er seine Gewinne an: Teddys in verstaubten Fellen, Spieluhren mit Tänzerinnen darauf, die ihre Beine aus der Hüfte schwangen, billige Tücher und bunte Luftballons sowie Buntpapier, saure Bonbon und weich gewordene Kekse …
Selbstverständlich unterschlug er die nachteiligen Eigenschaften, die seinen Preisen tatsächlich zugestanden hätten.
Aber die Geschichtenerfinderin wollte von den aufgeführten Dingen nichts wissen. Sie bezahlte ja auch nicht dafür, sondern zielte kostenlos, aber treffsicher in eine der Büchsen, in denen sich vor langer Zeit Bohnen oder Erbsen befanden. Oder auch Orangen. Als hätte sie es zuvor tagelang geübt.
Niemand hatte es bemerkt, doch der Schausteller fand die bunte Murmel tatsächlich in der Büchse, die von den Wurfbällen total zerbeult war. Genau die Murmel, die sie ihm beschrieben hatte: Bunte Schlangenlinien darin, die sich dort vereinten, wo auf dem Erdball die Pole mit ihren Dauerfrösten angezeigt werden. Die kannte sie vom großen Halbbruder Max, der sie so genau beschreiben konnte, als gehörte er zu den Forschern, die dort Lebensjahre verbrachten, um Wichtiges für die Menschen zu erkunden. Ohne zu erfrieren. Sie jedoch musste sich bereits schütteln, sobald er die Kältepole nur erwähnte. Dann fühlte sich ihre Haut auf den Armen wie Sandpapier an, wenn sie schaudernd darüber strich. Es hörte sich aber auch so an. Ein Erbe ihrer Mutter.
Des großen Bruders bunte Murmel nannte sich Globus und er drehte ihn so schnell, dass die kleine Schwester kaum mit Blicken folgen konnte. Dann hielt er ihn an und stieß seinen Zeigefinger auf einen beliebigen Punkt und fragte: „Was ist hier? Wie heißt das Land?“
Danach lachte sie verlegen und hob die Schultern.
Aber der Große erkannte es sofort. Sie hätte wetten können, dass er ohne lange zu überlegen jedes Land wissen würde, wenn sie den Globus drehte und wie blind den Finger darauf hielt und ihn fragte: „Was ist hier? Wie heißt das Land?“
Sie hätte sich dann mit jeder Antwort zufrieden geben müssen, denn sie selbst war völlig ahnungslos, wo ihr Finger gelandet war.
Einmal hatte Max ihr verraten, dass er ‚Weltenfahrer’ werden wollte. Was für sie bedeutete, in der Welt umherzufahren, um viel zu sehen: Das weite blaue Meer und hohe, schneebedeckte Berge, tiefdunkle Wälder und die zimtgelbe Wüste. Das würde ihr bestimmt auch gefallen. Besonders die herrliche Wüste wie Zimt, den sie sich immer dick auf ihren Grießbrei streute, den Mama Irene manchmal extra für sie zubereitete. Weder die Eltern noch Max mochten ihn, doch Pauline, die ihn ebenfalls gern aß, war nicht mehr zu Hause.
Aber dass der Halbbruder damit später Geld verdienen könnte, wenn er durch die Welt reiste, wollte sie nicht glauben.
Ihre bunte Murmel konnte sie jedenfalls bis in alle Einzelheiten beschreiben.
Kleinlaut gab der Rummelmann sogar zu, dass er ein Klirren vernommen hatte, wofür er keine Erklärung wusste. Neugierig hätte er sich fast ein Schraubgewinde in den Hals gedreht, ohne jedoch das Geheimnis ergründen zu können.
Nun wusste er auch nicht, ob er glauben sollte, was sie erzählt hatte. Er murmelte die kleine Glaskugel auf seiner Handfläche hin und her, vom Nordpol zum Südpol, als könnte er wie die echten Polarforscher auf diese Weise der Wahrheit auf die Spur kommen. Dabei schienen sich die bunten Schlangenlinien so zu verwirren, dass ihm schwindelte und er die Augen schließen musste.
Danach besann er sich wieder und verlangte, dass sie zum Beweis ihren Wurf vor den Augen aller Rummelplatzbesucher wiederholen sollte. Dafür setzte er einen Preis aus: Seinen schönsten Bären, meinte er und wies auf die obere Etage seines Regals, wo der Braune darauf zu warten schien, endlich von der Zurschaustellung erlöst zu werden.
Sogar für die notwendigen Runden mit dem Kettenkarussell wollte der Mann aufkommen, also freiwillig bezahlen. Aber ebenso unbemerkt wie die Murmel in die Blechdose geraten war, verschwand das Mädchen plötzlich aus seinem Blickfeld.
So ist sie, die Geschichtenerfinderin. Hört man ihr zu, irrt man ständig zwischen Glauben und Unglauben umher, als befände man sich an einer Wegkreuzung und könne sich nicht für eine Richtung entscheiden.“
Erstmals 1982 veröffentlichte Barbara Kühl im Kinderbuchverlag Berlin „Martin oder Zwei linke Hände“: Dem zwölfjährigen Martin geht es nicht gut. Er scheint ein richtiger Versager zu sein – zwei linke Hände. Alles, was er auch anpackt, geht schief. Selbst seine besten Vorsätze verkehren sich in ihr Gegenteil. Und als ihm schließlich auch noch seine ältere Schwester Evelyn vorgehalten wird, die viel bessere Zensuren auf dem Zeugnis hat als er, da fühlt er sich selbst als ein Versager. Da er nicht mit in den gemeinsamen Familienurlaub fahren darf, verbringt er zwei Ferienwochen bei seiner Tante Wally Pfeffer, die der LPG-Vorsitzende wegen ihrer lockeren Zunge Wally „Pfefferschote“ nennt. Mit ihr versteht er sich gut, viel besser als mit seinen eigenen Eltern. Und Tante Wally ist es auch, die ihm hilft, als Martin beschließt, von zu Hause wegzugehen, ganz weit weg. Noch aber ist es nicht so weit …
- Kapitel
Vorsichtig tappte Martin den Gang entlang, der wie ein Tunnel in die Erde führte. Einem Schwimmer gleich breitete er die Arme aus und ruderte hinein in die Stille aus Watte, ruderte und schwebte.
„Ich muss es finden“, flüsterte Martin, „ich muss es finden …“ Und er tastete und suchte in dem unheimlichen, scheinbar endlosen Gang. Irgendwo vor sich vermutete er eine Höhle, gleich würde sie sich vor ihm auftun. Er starrte in das Dunkel, dass die Augen schmerzten. Vergeblich. Martin wandte sich um. Doch auch da war nichts als Enge und undurchdringliche Finsternis, aus der die Angst herangeschlichen kam. Martin atmete mühsam und begann zu schwitzen.
„Ich gehe zurück“, beschloss er. Als er wieder nach der erdigen Wand fassen wollte, war sie verschwunden. Auch auf der anderen Seite griffen die Hände ins Leere. Voller Panik drehte Martin sich wie ein Kreisel. Wo war der Ausgang aus diesem schwarzen, unendlichen unterirdischen Gang? Plötzlich umfing ihn stechende Helligkeit. Die Dükermutter! durchfuhr es Martin, und ein heißer Schmerz brannte in seinem Gesicht.
„Du gemeiner Kerl!“, schrie jemand und schüttelte ihn. Das war nicht die Dükermutter, das war Evelyn, die ihren Bruder mit einer Ohrfeige weckte. Martin kniff die Augen zu und stellte sich schlafend. Wonach hatte er im Traum nur gesucht in dem unterirdischen Gang, wonach nur? Es musste etwas Besonderes gewesen sein, etwas Schönes, für das es sich lohnte, die Angst vor der Dükermutter zu überwinden.
„Mach endlich die Augen auf, ich weiß, dass du wach bist!“
Als Martin sich knurrend zur Wand drehte, zog ihm Evelyn mit einem Ruck das Oberbett weg. Martin sprang aus dem Bett und baute sich vor seiner Schwester auf.
„Du spinnst wohl, was? Gib das Bett her, los!“ Martin zerrte an dem Federbett und vollführte mit nackten Beinen eine Art Indianertanz auf dem kalten Fußboden.
„Warum hast du das getan? Warum?“, fauchte Evelyn. „Wie soll ich jetzt zur Schule kommen? Der Bus nach Boddentin ist längst weg.“
„Na und? Ist doch kein Drama, fährste eben morgen.“
„Morgen, morgen! Heute muss ich fahren, wir schreiben eine Physikarbeit.“
Martin sah seine Schwester einen Augenblick entgeistert an. „Du …, du musst was am Kopf haben, Schwesterchen!“ Martin prustete los. „Eine verpasste Klassenarbeit! Ich würd mich freuen.“
„Weil du dämlich bist! Dumm und dämlich, du …, du …“ Evelyn begann zu heulen.
„Was ist denn hier los? Warum bist du noch nicht unterwegs, Evelyn? Bist du krank?“, fragte die Mutter und fasste nach dem Deckbett. Evelyn schüttelte den Kopf und schluchzte: „Verschlafen. Martin hat schuld, er hat den Wecker …“
„Ach, Martin, musst du denn alles kaputt machen, was du in die Finger nimmst?“
„Ich hab ihn repariert! Evelyn hat mich darum gebeten.“
„Und warum klingelt er dann nicht, he?“ Evelyn sah den Bruder an, als wollte sie ihn fressen. Am liebsten hätte sie ihm noch eine gefeuert, doch in Gegenwart der Mutter wagte sie es nicht. Martin, der das wusste, hielt dem wütenden Blick seiner großen Schwester stand.
Plötzlich schrillte es durchdringend aus Evelyns Zimmer herüber. Ein breites Grinsen zog Martins Gesicht auseinander. „Er klingelt doch, Schwesterchen, was willst du denn?“ Martin genoss seinen Triumph.
„Aber …“, Evelyn schnüffelte durch die Nase, „zwei Stunden zu spät, du …, du Supertechniker!“
„Künstlerpech.“ Lässig hob Martin die Schultern und rollte die Augen. „Also Verzeihung, Schwesterchen, es tut mir leid.“ Martins Verbeugung wirkte linkisch und lächerlich, seine Worte jedoch klangen ehrlich und aufrichtig.
„Lass den Quatsch!“, sagte Evelyn und knuffte ihren Bruder. „Sag mir lieber, wie ich nach Boddentin komme.“
„Mit Gottfried und dem ,Schimmel“, er muss ihn nachher sowieso aus dem Stall holen.“
„Nenn deinen Vater nicht immer Gottfried! Du hast dir in letzter Zeit einen Umgangston angewöhnt! Respektlos ist gar kein Ausdruck dafür!“, tadelte die Mutter.
„Typisch halbstark“, flötete Evelyn und stolzierte mit wiegenden Hüften aus dem Zimmer. Sie hatte wieder Oberwasser. Martin hatte seinen Rüffel weg, und sie würde nachher vom Vater mit dem weißen Wartburg, dem „Schimmel“, in die neun Kilometer entfernte Küstenstadt gefahren werden. Seit September besuchte sie die EOS von Boddentin und kam nur an den Wochenenden nach Hause.
„Eingebildete Zicke!“, zischte Martin.
„Lern du erst einmal wie Evelyn, dann darfst du dir auch etwas einbilden.“
„Volltreffer!“, flüsterte Martin und schluckte. Eine heiße Welle überflutete ihn, und die Kränkung legte sich wie ein Stein in Kehle und Magen.
„Du wirst dich erkälten, Martin, wenn du noch lange mit nackten Füßen herumstehst. Kriech noch einen Moment ins Bett und wärm dich auf, bis Evelyn aus dem Bad kommt.“ Maria Lembke klapste ihrem Sohn auf den Po.
Er darf nicht krank werden, gerade jetzt nicht, überlegte Maria, wer sollte sich den ganzen Tag um den Jungen kümmern? In einer Woche erhielten die Mitglieder der LPG Tierproduktion nicht nur das Geld für die monatlich eingebrachten Arbeitseinheiten, sondern den oft recht hohen Betrag der Jahresendauszahlung. Das hieß Überstunden für sie und ihre Kolleginnen, das bedeutete Unruhe für die Familie. Und für Martin.
„Wasch dich ordentlich und vergiss nicht, die Zähne zu putzen!“, mahnte die Mutter, während sie Martins Zimmer verließ.
„Mama“, protestierte Martin beleidigt, „ich bin doch kein kleines Kind mehr! Ich bin zwölf Jahre alt!“
Als Martin vor dem Badezimmerspiegel Fratzen schnitt und sein Kinn vergeblich nach Bartfusseln absuchte, hörte er den Schimmel aus der Garage fahren. Gleichzeitig erklangen eilige Schritte auf der Treppe, und die Mutter erschien in der Tür. Eine helle Pelzjacke umhüllte die zierliche Gestalt, die dazu passende Mütze verdeckte Ohren und Haar bis auf eine winzige schwarze Stirnlocke. Wie hübsch sie ist! Ja, Mama sieht gut aus, fand Martin.“
Und das ist nur eines von vielen Erlebnissen, in denen sich Martin mindestens unterschätzt vorkommt. Immer wieder muss er feststellen, dass seine guten Absichten missverstanden werden und es so aussieht, als mache er alles falsch – zwei Linke Händen eben. Aber hat das wirklich nur mit ihm zu tun? Und wie geht es weiter?
Viel Vergnügen beim Lesen, weiter einen schönen und wechselhaften April und bleiben auch Sie – in den wechselhaften Impf- und Quarantäne-Entscheidungen, die selber etwas von Aprilwetter haben – weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.
Ach, es wäre vielleicht ganz hübsch, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn sich Daggi und Martin begegnen würden. Auch so eine besondere Geschichte …
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