Gesundheit & Medizin

Tumoren auf Entzug: Aminosäuremangel lässt kindliche Tumoren schrumpfen

Bestimmte kindliche Tumoren sind wahre Aminosäure-Monster. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg (KiTZ), des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), der Universität Heidelberg und der HI-STEM* gGmbH haben jetzt entdeckt, welche molekularen Mechanismen dem zugrunde liegen und wie man den Krebszellen den Hahn abdrehen könnte.

Das „Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg“ (KiTZ) ist eine gemeinsame Einrichtung des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), des Universitätsklinikums Heidelberg (UKHD) und der Universität Heidelberg (Uni HD).

Pro Jahr erkrankt etwa eines von 100.000 Kindern neu an einem Neuroblastom, oft schon im ersten Lebensjahr. Damit sind Neuroblastome eine bei Kindern relativ häufige Gruppe von Tumoren. Sie bilden sich bereits in der Embryonalentwicklung im unreifen Nervengewebe aus und kommen vor allem in der Nebenniere, der Wirbelsäule, im Halsbereich sowie im Brust-, Bauch- und Beckenraum vor. Neuroblastome sind schwer zu behandeln und häufig therapieresistent. Betroffen sind insbesondere Säuglinge und Kleinkinder. In einigen Fällen bildet sich der Tumor ohne jegliche Therapie komplett zurück. Bei etwa der Hälfte der Patienten schreitet er jedoch trotz hochintensiver Therapie unaufhaltsam voran.

Eine wichtige Stellschraube, die darüber entscheidet, in welche Richtung sich die Erkrankung entwickelt, ist das Krebsgen MYCN. Erst kürzlich wurde bekannt, dass dieses Krebsgen die Weichen stellt, ob sich Vorläuferzellen in reife Nervenzellen entwickeln oder zu bösartigen Neuroblastomzellen werden. Neuroblastome mit ungünstigem Verlauf tragen zudem hunderte aktive Kopien des MYCN-Gens in ihrem Erbgut. Die hohe MYCN-Aktivität führt dazu, dass der Metabolismus der Krebszellen tiefgreifend verändert wird, weil MYCN wiederum eine Vielzahl anderer Gene an- und abschaltet. Aber welchen Vorteil bringt das der Krebszelle und lässt sich dieses hochspezielle Netzwerk gezielt stören, um die Krebszellen aktiv zu bekämpfen?

Diese Fragen stellte sich das Wissenschaftlerteam, geleitet von Frank Westermann vom Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg (KiTZ) und vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ), Andreas Trumpp, DKFZ und HI-STEM gGmbH und Thomas Höfer vom DKFZ. In der vorliegenden Studie haben die Erstautoren Hamed Alborzinia und Andres Florez entdeckt, dass Neuroblastomzellen mit hoher MYCN-Aktivität vor allem eines brauchen: die Aminosäure Cystein. Cystein ist ein wichtiger Baustein für die meisten zellulären Eiweiße und Fette. Die schnellwachsenden Krebszellen benötigen große Mengen dieser Bausteine, um neue Zellen zu produzieren.

Gleichzeitig brauchen die Krebszellen Cystein, um sich vor natürlich entstehenden giftigen Peroxiden zu schützen, die bedingt durch ihren hochaktiven Stoffwechsel entstehen. „Der Cystein-Hunger von Neuroblastomzellen ist dabei so groß, dass sie gleich zwei Wege nutzen, um sich das Cystein zu beschaffen“, sagt Sina Kreth, ebenfalls Erstautorin der Studie. „Sie nutzen den Import der Aminosäure und kurbeln zusätzlich einen alternativen Syntheseweg an, um Cystein aus der Aminosäure Methionin zu gewinnen“, ergänzt Erstautorin Lena Brückner.

Genau diese Anpassungsprozesse machen die Neuroblastomzellen aber auch empfindlich. Entzogen die Wissenschaftler ihnen das Cystein, konnten die durch MYCN angetriebenen Tumorzellen die entstehenden giftigen Peroxide nicht mehr inaktivieren und starben durch eine besondere Form des Zelltods, der Ferroptose. Ob dieser Prozess eine mögliche Achillesferse für eine Therapie gegen bösartige Neuroblastome sein könnte, testete das Forscherteam daraufhin in Mäusen.

Die Wissenschaftler drehten den Tumoren ganz gezielt den Hahn ab: Sie blockierten die Cysteinaufnahme, die Cysteinsynthese und schalteten zudem ein Schlüsselenzym aus, das normalerweise verhindert, dass sich die Krebszelle durch Peroxide vergiftet. Die Krebszellen leiteten daraufhin ihre eigene Selbstzerstörung durch Ferroptose ein und die Tumoren schrumpften.

„Der Ferroptose-Zelltod wurde erst vor wenigen Jahren entdeckt und die Ergebnisse zeigen nun erstmals nicht nur in Zellkulturen, sondern auch in krebstragenden Mäusen, wie sich dieser Prozess manipulieren lässt, um hochaggressive humane Neuroblastomzellen durch Induktion der Ferroptose abzutöten“, betont Hamed Alborzinia.

Die Ergebnisse liefern auch eine mögliche Erklärung, warum einige Neuroblastome mit moderater MYCN-Aktivität bei Säuglingen und Kleinkindern in einigen Fällen einfach verschwinden: „Zellen nehmen in den ersten Lebensjahren grundsätzlich weniger Cystein auf. Wenn sie beginnen, sich unkontrolliert zu teilen, gehen ihnen daher bald die Cystein-Reserven aus und der ferroptotische Zelltod wird eingeleitet“, erklärt Andres Florez. Einige Neuroblastome ohne MYCN-Aktivität können dieser Selbstzerstörung nicht entgehen und sterben dann nach einer gewissen Zeit einfach ab, wenn das Cystein knapp wird.

Für Hochrisikopatienten mit hoher MYCN-Aktivität liefert die Studie erste Erkenntnisse, wie sich das Gleichgewicht zwischen Cysteinaufnahme, -produktion und -verbrauch möglicherweise so stören ließe, dass auch diese Zellen ihre Selbstzerstörung einleiten. Ob sich das neu entdeckte Prinzip auch in der Therapie von Neuroblastom-Patienten bewährt, muss nun in klinischen Studien getestet werden.

Originalpublikation:

Alborzinia H, Flórez A.F., Kreth S., Brückner L.M. et al. MYCN mediates cysteine addiction and sensitizes neuroblastoma to Ferroptosis In: Nature Cancer (Online Publikation 28. April 2022) DOI: 10.1038/s43018-022-00355-4

* Das Heidelberger Institut für Stammzellforschung und experimentelle Medizin (HI-STEM) gGmbH wurde 2008 als Public-Private-Partnership vom DKFZ und der Dietmar Hopp Stiftung gegründet.

Das Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg (KiTZ)
Das „Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg“ (KiTZ) ist eine kinderonkologische Einrichtung des Deutschen Krebsforschungszentrums, des Universitätsklinikums Heidelberg und der Universität Heidelberg. Wie das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg, das sich auf Erwachsenenonkologie konzentriert, orientiert sich das KiTZ in Art und Aufbau am US-amerikanischen Vorbild der so genannten "Comprehensive Cancer Centers" (CCC). Das KiTZ ist gleichzeitig Therapie- und Forschungszentrum für onkologische und hämatologische Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Es verfolgt das Ziel, die Biologie kindlicher Krebs- und schwerer Bluterkrankungen wissenschaftlich zu ergründen und vielversprechende Forschungsansätze eng mit der Patientenversorgung zu verknüpfen – von der Diagnose über die Behandlung bis hin zur Nachsorge. Krebskranke Kinder, gerade auch diejenigen, für die keine etablierten Behandlungsoptionen zur Verfügung stehen, bekommen im KiTZ einen individuellen Therapieplan, den Experten verschiedener Disziplinen in Tumorkonferenzen gemeinsam erstellen. Viele junge Patienten können an klinischen Studien teilnehmen und erhalten damit Zugang zu neuen Therapieoptionen. Beim Übertragen von Forschungserkenntnissen aus dem Labor in die Klinik übernimmt das KiTZ damit Vorbildfunktion.

Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät Heidelberg: Krankenversorgung, Forschung und Lehre von internationalem Rang

Das Universitätsklinikum Heidelberg (UKHD) ist eines der bedeutendsten medizinischen Zentren in Deutschland; die Medizinische Fakultät Heidelberg der Universität Heidelberg zählt zu den international renommierten biomedizinischen Forschungseinrichtungen in Europa. Gemeinsames Ziel ist die Entwicklung innovativer Diagnostik und Therapien sowie ihre rasche Umsetzung für Patientinnen und Patienten. Klinikum und Fakultät beschäftigen rund 14.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und engagieren sich in Ausbildung und Qualifizierung. In mehr als 50 klinischen Fachabteilungen mit fast 2.000 Betten werden jährlich circa 84.000 Patientinnen und Patienten voll- und teilstationär und mehr als 1.000.000 Patientinnen und Patienten ambulant behandelt.

Gemeinsam mit dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und der Deutschen Krebshilfe (DKH) hat das UKHD das erste Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg etabliert. Ziel ist die Versorgung auf höchstem Niveau als onkologisches Spitzenzentrum und der schnelle Transfer vielversprechender Ansätze aus der Krebsforschung in die Klinik. Zudem betreibt das UKHD gemeinsam mit dem DKFZ und der Universität Heidelberg das Hopp Kindertumorzentrum Heidelberg (KiTZ), ein deutschlandweit einzigartiges Therapie- und Forschungszentrum für onkologische und hämatologische Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter.

Das Heidelberger Curriculum Medicinale (HeiCuMed) steht an der Spitze der medizinischen Ausbildungsgänge in Deutschland. Derzeit befinden sich an der Medizinischen Fakultät Heidelberg (MFHD) rund 4.000 angehende Ärztinnen und Ärzte in Studium und Promotion. www.klinikum-heidelberg.de

Über Deutsches Krebsforschungszentrum

Das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) ist mit mehr als 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die größte biomedizinische Forschungseinrichtung in Deutschland. Über 1.300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erforschen im DKFZ, wie Krebs entsteht, erfassen Krebsrisikofaktoren und suchen nach neuen Strategien, die verhindern, dass Menschen an Krebs erkranken. Sie entwickeln neue Methoden, mit denen Tumoren präziser diagnostiziert und Krebspatienten erfolgreicher behandelt werden können.

Beim Krebsinformationsdienst (KID) des DKFZ erhalten Betroffene, interessierte Bürger und Fachkreise individuelle Antworten auf alle Fragen zum Thema Krebs.

Gemeinsam mit Partnern aus den Universitätskliniken betreibt das DKFZ das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) an den Standorten Heidelberg und Dresden, in Heidelberg außerdem das Hopp-Kindertumorzentrum KiTZ. Im Deutschen Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK), einem der sechs Deutschen Zentren für Gesundheitsforschung, unterhält das DKFZ Translationszentren an sieben universitären Partnerstandorten. Die Verbindung von exzellenter Hochschulmedizin mit der hochkarätigen Forschung eines Helmholtz-Zentrums an den NCT- und den DKTK-Standorten ist ein wichtiger Beitrag, um vielversprechende Ansätze aus der Krebsforschung in die Klinik zu übertragen und so die Chancen von Krebspatienten zu verbessern.

Das DKFZ wird zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und zu 10 Prozent vom Land Baden-Württemberg finanziert und ist Mitglied in der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren.

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