Prof. Dr. med. Veerle Visser-Vandewalle über Präzisionsmedizin am Gehirn, Risiken und Grenzen des Machbaren
Frau Professorin Visser-Vandewalle, das Schwerpunktthema der 73. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie ist ein grundsätzliches Umdenken in allen Bereichen der Neurochirurgie. Wie kann man sich diesen Paradigmenwechsel in Bezug auf Ihr Fachgebiet, die stereotaktische Neurochirurgie, vorstellen?
Die Tiefe Hirnstimulation (THS) ist ein minimalinvasiver, neurochirurgischer Eingriff, bei dem den Patienten hochpräzise feine Elektroden im Hirn platziert werden, um einen Bereich im Gehirn elektrisch zu stimulieren. Weltweit gibt es bis jetzt mehr als 208.000 Patienten, die mit THS behandelt worden sind. Besonders die technische Weiterentwicklung der Neuro-Stimulatoren und Stimulationselektroden tragen zum immensen Entwicklungspotenzial dieses Behandlungsverfahrens bei. Bis vor kurzem bestanden die auf dem Markt erhältlichen THS-Elektroden aus 4 Ringkontakten, die ein eher kugelförmiges elektrisches Feld um die Elektrode erzeugten. 2015 führte die Entwicklung einer segmentierten Elektrode, die eine gezieltere Ausrichtung des elektrischen Feldes ermöglicht, dazu, dass unerwünschte Nebenwirkungen besser vermieden werden können. Die Stimulation des Gehirns kann damit immer präziser an die individuellen Bedürfnisse des Patienten angepasst werden. Daneben ist das Ziel von einer chronischen Dauerstimulation zu einer adaptiven, bedarfsgerechten THS zu kommen. Beispiel Tourette-Syndrom: Die Patienten haben nicht ständig Tics und brauchen deshalb auch keine kontinuierliche Stimulation. Die Universität Genf hatte uns 2019 spezielle Apparate zur Messung von elektrischer Hirnaktivität zur Verfügung gestellt. Während die Patienten Aufgaben lösen mussten, konnten wir schauen, welche Aktivität vor einem Tic im Hirn herrscht. So können wir Biomarker festlegen, um dann später in einer Adaptive Closed-Loop-Stimulation das Gehirn des Patienten zu stimulieren, um einem Tic des Patienten zuvorzukommen und diesen zu verhindern.
Was ist das Besondere an der Operationsmethode Stereotaxie? In welchen Fällen kommt sie bevorzugt zum Einsatz?
Es geht um die höchst präzise Technik in der Neurochirurgie. Die Patienten werden zweimal operiert. In einer ersten stereotaktischen OP werden dem Patienten durch Löcher in der Schädeldecke die Elektroden implantiert. In der Regel ist der Patient bei vollem Bewusstsein, um die Wirksamkeit der Elektroden und deren exakte Lage überprüfen zu können. Der Impulsgenerator oder Hirnschrittmacher wird in einer kürzeren Operation am Folgetag implantiert. Mithilfe eines Programmiergerätes können die Einstellungen des Neurostimulators außerhalb des Körpers überprüft und angepasst werden. Dafür kommen die Patienten regelmäßig zur Kontrolle – sechs bis acht Wochen nach der Operation, dann nach drei und sechs Monaten und später einmal im Jahr. Neben dem Einsatz zur Behandlung verschiedener Bewegungsstörungen wie Tourette oder Parkinson kommt die stereotaktische Neurochirurgie in der Onkologie vor. Stereotaktische Bestrahlung z.B. ermöglicht eine punktgenaue, hochdosierte Behandlung von Hirntumoren und -metastasen. Die Hochpräzisionsbestrahlung muss sorgfältig vorbereitet werden. So kann sichergestellt werden, dass der Tumor mit hohen Strahlendosen behandelt wird, das umliegende gesunde Gewebe aber weitgehend geschont bleibt.
1997 behandelten Sie weltweit den ersten Tourette-Patienten mit der Methode der Tiefen Hirnstimulation (THS). Ihr aktuell größter Wunsch für die Zukunft ist die Behandlung der Demenzerkrankung durch die Möglichkeiten der Tiefenhirnstimulation. Wie genau kann die THS helfen?
Laut WHO gibt es weltweit 36 Millionen an Demenz erkrankte Menschen, in Europa sind es etwa zehn Millionen. Und weil die Menschen immer älter werden, wird eingeschätzt, dass es im Jahr 2050 dreimal so viel sein werden. Und es gibt immer noch keine Behandlung für Alzheimer-Demenz. Es gibt Medikamente, aber die können im besten Fall nur kurzfristig die Symptome lindern. Das ist ein Riesenproblem für die Gesellschaft. Wir nehmen aktuell an einer Studie zur Fornix-Stimulation teil – die ADvance II ist eine internationale Studie an der Zentren aus den USA, Kanada und Europa teilnehmen. Sie eröffnet erstmals die Chance, den Krankheitsverlauf bei Alzheimer günstig zu beeinflussen. Für die Anwendung der THS-Therapie zur Behandlung der Symptome der Alzheimer-Erkrankung im frühen Stadium werden zwei Elektroden in der Nähe des Fornix, eine Hirnstruktur wichtig für das Gedächtnis, implantiert, um den Gedächtnisschaltkreis elektrisch zu stimulieren und die Weiterleitung elektrischer Signale zu verbessern. Dies wiederum soll den Gedächtnisabbau bei Alzheimer-Patienten verlangsamen. Die Möglichkeiten der Fornix-Stimulation sind eigentlich zufällig entdeckt worden. 2008 hat ein Kollege aus Toronto bei einem Patienten mit Adipositas und einem Gewicht von fast 200 Kilo eine THS geplant. Dabei hat er festgestellt, dass der Patient sich plötzlich an Dinge in seiner Vergangenheit erinnern konnte, die er normalerweise längst vergessen hatte. Durch die Stimulation wurde also das Gedächtnis verbessert. Bei einer frühen klinischen Studie ADvance I konnte die Wirksamkeit der THS-Therapie bei Alzheimer-Erkrankungen im frühen Stadium nicht einwandfrei belegt werden. Obwohl ein positiver Trend bei Teilnehmern über 65 beobachtet wurde, bedarf es einer Bestätigungsstudie, mit der wir vor 2 Jahren angefangen haben. Dafür rekrutieren wir aktuell noch Patienten in einem Frühstadium der Erkrankung.
Gibt es weitere neue Indikationen für THS?
In der Therapie von Bewegungsstörungen hat sich die Tiefe Hirnstimulation zu einem effektiven und anerkannten Verfahren entwickelt, seit einigen Jahren werden zunehmend psychiatrische Erkrankungen damit behandelt. Aktuell läuft eine Studie über Koma-Patienten in Amsterdam. Untersucht werden vor allem Wachkoma-Patienten nach einem Schädel-Hirn-Trauma. Ich habe schon Videos gesehen von Patienten, die wachgeworden sind und mit denen man kommunizieren konnte. Die THS bleibt auch weiterhin Gegenstand intensiver Grundlagen- und klinischer Forschung.
2019 haben Sie ein Team der Universität Genf unterstützt, Einblicke ins Gehirn von außerhalb des Schädels zu gewinnen. Ziel war es, die Ursachen für Erkrankungen wie Tourette besser zu verstehen. Wie ist inzwischen der Stand der Entwicklung? Wo sehen Sie Chancen, aber auch Risiken für die Funktionelle Neurochirurgie?
Ich habe mich vertieft in die Möglichkeiten der THS bei Alzheimer-Patienten. Aber es gibt auch Studien, die zeigen, dass man bei gesunden Menschen das Gedächtnis durch THS besser machen kann. Diese Entwicklung macht mir Sorgen. Sie bedeutet, dass wir in Richtung einer Gesellschaft gehen, in der Menschen mit viel Geld eine bessere Hirnfunktion haben könnten. Besonders aktiv in der Hirncomputerforschung ist Elon Musk mit seinem Unternehmen Neuralink. Durch die Entwicklung einer spinalen Stimulation, die via Bluetooth mit dem intrakraniell implantierten Neuralink-Chip gekoppelt ist, sollen Querschnittgelähmte wieder ihren vollen Bewegungsumfang zurückerhalten können. Dies gibt es schon. Ein Forscherteam aus Lausanne unter Leitung meiner Kollegin Prof. Dr. Jocelyne Bloch ist es schon mit einer ähnlichen Technik gelungen die Beine von Querschnittgelähmten anzusteuern, um sie gezielt zu einer Fortbewegung zu animieren. Elon Musk hat aber eine größere PR-Maschinerie hinter sich.
Moderne Medizin stößt in immer neue Dimensionen vor. Was ist möglich, machbar und sinnvoll? Wo sehen Sie die Grenzen?
Das größte Risiko sehe ich im Neuro-Enhancement. Dabei geht es um Steigerungsmöglichkeiten des eigenen Gehirns durch Tiefe Hirnstimulation zum eigenen Wettbewerbs- oder Lernvorteil. Solche Entwicklungen stehen in der Kritik und sind auch bereits Gegenstand ethischer Diskussionen.
Vier Tage lang diskutieren renommierte Neurochirurgen aktuelle Themen, das Programm ist wieder vielfältig. Welche Themen liegen Ihnen besonders am Herzen? Was sind Ihre Highlights während der Tagung?
Neueste technologische Entwicklungen um neue Patientengruppen behandeln zu können. Da denke ich vor allem an querschnittgelähmte Menschen, um deren neurologische Funktionen wiederherzustellen.
Conventus Congressmanagement & Marketing GmbH
Carl-Pulfrich-Straße 1
07745 Jena
Telefon: +49 (3641) 311-60
Telefax: +49 (3641) 311-6241
http://www.conventus.de
Mitarbeiterin Presse
Telefon: +49 (3641) 3116-281
Fax: +49 (3641) 3116-243
E-Mail: katrin.richter@conventus.de