Zum 08. Mai: Die große Zäsur – Kultur und Kirche in Zeiten des Krieges
“Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“, sagte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock am 24. Februar, dem Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine und brachte damit das Ausmaß der geopolitischen Zäsur auf den Punkt.
In Europa herrscht Krieg – unser Verständnis von Sicherheit, unsere ethischen Überzeugungen sind tief erschüttert. Selbst der Glauben an die friedensstiftende Wirkung des Pazifismus gerät ins Wanken. Wie der Krieg Sichtweisen und Standpunkte verändert, diskutierten Gäste aus Politik, Kultur und Kirche beim Berliner “Kultur.Forum St. Matthäus“.
Es diskutierten im Deutschlandfunk Kultur:
- Astrid Irrgang – Zentrum für Internationale Friedenseinsätze
- Bischof Dr. Christian Stäblein – Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz
- Johann Hinrich Claussen – Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland
- Olaf Zimmermann – Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Sprecher der Initiative kulturelle Integration
Moderation: Hans Dieter Heimendahl
Die Aufzeichnung fand am 03. Mai 2022 in der St. Matthäus-Kirche in Berlin statt. Das “Kultur.Forum St. Matthäus“ ist eine Kooperation der Stiftung St. Matthäus mit dem Deutschen Kulturrat, dem Kulturbeauftragten des Rates der EKD, der Initiative kulturelle Integration und Deutschlandfunk Kultur.
Die Sendung "Kultur und Kirche in Zeiten des Krieges – Die große Zäsur" wurde am Sonntagmorgen (08.05.2022) im Deutschlandfunk Kultur ausgestrahlt und kann hier nachgehört werden.
Die Zeichen nicht gesehen
Das wachsende Bedrohungsszenario wäre zu erkennen gewesen. Doch in Deutschland würden die Perspektiven von anderen Ländern oft nicht wahrgenommen, kritisiert der Theologe Johann Hinrich Claussen. Lange hätten wir uns – auch aus Arroganz – nicht für die kulturellen Ressourcen in Osteuropa interessiert. Ein Versäumnis.
“Wenn man sich die Kulturszene anguckt, die Literatur aus Osteuropa, aus Russland, aus der Ukraine, dann hätte man das schon alles feststellen können“, sagt Claussen. „Es kommen jetzt bei uns Schockwellen der Erkenntnis an, die in Ländern, deren Perspektive wir nicht geteilt haben, schon längst da gewesen sind.“
Auch die Eroberung der Krim im Jahr 2014 war Teil der unheilvollen Entwicklung – so wie ein Jahr später Russlands Militäreinsatz in Syrien, sagt Bischof Christian Stäblein: “Wir haben in Syrien die Blaupause gesehen für das Vorgehen. Und wir haben in gewisser Weise zugeguckt. Also wir waren genauso für die Geflüchteten da, wie wir das jetzt sind – aber wir haben zugeguckt. Und müssen nun feststellen: Das ist das Ergebnis davon. Putin hat an vielen Stellen das schon machen können, wovon wir jetzt, weil es uns so nahe kommt, überrascht sind.“
Wenig Interesse an der Bundeswehr
Lange herrschte in der deutschen Außenpolitik das Credo “Wandel durch Handel“. Man habe in den vergangenen Jahrzehnten fest daran geglaubt, dass nicht Kriege die Antwort auf Konflikte seien, sondern enge Wirtschaftsbeziehungen, sagt Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates. “Also letztendlich Zusammenarbeit und Zusammenhalt in der Welt – was solche Verbindungen schafft, dass Kriege nicht mehr sinnvoll führbar sind. Wir haben immer wieder Stellvertreterkriege gehabt, aber nicht mehr in unserer Mitte.“
Wohl mit ein Grund für das geringe Interesse der Deutschen an ihrer Bundeswehr. Die stellvertretende Direktorin des Zentrums für Internationale Friedenseinsatze (ZIF), Astrid Irrgang, hält diese Haltung für bedenklich: “Was wir sicherlich im eigenen Land ein Stück weit aus dem Blick verloren haben, ist die Bedeutung der Streitkräfte und die Wehrhaftigkeit, in einem Konfliktfall Interessen tatsächlich auch robust vertreten zu können.“
Claussen erklärt die weit verbreitete deutsche Ablehnung alles Militärischen mit einem “moralischen Aspekt“, der im Hintergrund wirke: “Dem großen Willen von uns Deutschen nach den katastrophalen Menschheitsverbrechen in Osteuropa, in der Ukraine, in Weißrussland und in Russland jetzt nicht aggressiv aufzutreten, sondern dem Frieden zu dienen.“
Ethisches Dilemma
Doch die Realität zeigt: Diese Haltung kann als Schwäche ausgelegt werden. Und so wird nun auf breiter gesellschaftlicher Ebene über die westliche Friedensethik diskutiert – auch in den Kirchen. Der Pazifismus sei nicht “am Ende“, sagt Bischof Stäblein, doch was derzeit an Schrecklichem geschehe, habe man sich bis Ende Februar so nicht vorstellen können: “Wenn wir in einer Welt leben, in der Aggressoren ohne jede Rücksicht Städte zerbomben und Menschen ermorden, dann haben wir uns dazu neu ins Verhältnis zu setzen. Und dazu haben sich auch unsere guten pazifistischen Traditionen neu ins Verhältnis zu setzen.“
Aus theologischer Sicht stelle sich die Frage: Wie umgehen mit dem “Bösen“, mit der Gewalt? Die christliche Antwort darauf laute: “Wenn ich für mich entscheide, dann gilt gut biblisch: Lieber Gewalt erleiden als Gewalt tun. Wenn ich für andere entscheide, dann gilt, andere vor Gewalt schützen. Und zwar vor dem Wunsch, selber möglichst unschuldig zu bleiben.“
Rückkehr in die Weltgemeinschaft?
Der Angriffskrieg hat Russland in weiten Teilen der Welt isoliert. Umso wichtiger sei es, den Kontakt zu russischen Künstlern nicht zu verlieren, betont Irrgang. “Wir brauchen diese ganzen Verbindungen im kulturellen Bereich unbedingt für die Diskussionen in der Zeit nach dem Krieg“, sagt sie. „Wir sollten alles dafür tun, dass der Abriss möglichst klein ist.“ Eines Tages werde es einen Waffenstillstand geben. Irrgang hofft, dass sich der Konflikt dann transformieren lasse. Sicherlich gehe dies nicht schnell, doch gelingen könne es.
“Ich glaube, dass wir Aggressoren zurückholen können in die Weltgemeinschaft“, so Irrgang. „Das haben wir am eigenen Land erfahren. Wir waren die Parias im letzten Jahrhundert und sind auch zurückgekommen in die Weltgemeinschaft, zu bestimmten Bedingungen. Weil man uns, Deutschland, die Hände ausgestreckt hat. Und warum sollten wir nicht Russland auch irgendwann die Hände wieder ausstrecken?“
Zimmermann zog am Schluss der Diskussion für sich ein Resümee. "Wir müssen aus unseren Fehlern lernen", sagte er. Vier konkrete Punkte benannte er: Wir brauchen gerechte internationale Handelsvereinbarungen, die nicht nur unseren eigenen Nutzen in den Vordergrund stellen, eine rechtzeitige Bekämpfung der sich anbahnenden weltweiten Hungersnöte, wegen der fehlen Getreidelieferungen aus der Ukraine. Es sagte weiter: "Wir brauchen wieder eine allgemeine Wehrpflicht, damit die Armee in der Mitte der Gesellschaft eingebunden wird." Und wir dürfen die kulturellen Verbindungen mit der Ukraine, aber auch mit Russland nicht abreißen lassen.
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