Begehrte Innovationstreiber
Fundamental ist die Biotechbranche so gut aufgestellt wie selten zuvor. Einer Studie des IQVIA Institute for Human Data Science zufolge wurden 65 Prozent aller klinischen Studien, die 2021 weltweit am Laufen waren, von kleineren Biotech-Unternehmen durchgeführt, die vom IQVIA selber als «emerging» bezeichnet werden. Es handelt sich dabei um Gesellschaften, deren Jahresumsatz unter 500 Mio. US-Dollar liegt und die jährlich weniger als USD 200 Mio. in ihre Forschungs- und Entwicklungspipeline investieren.
Ein elementarer Unterschied zur Vergangenheit ist die finanzielle Stärke der Biotechs. Immer mehr Firmen haben genug liquide Mittel zur Verfügung, um ihre klinischen Kandidaten bis zur Marktreife in Eigenregie zu entwickeln. Damit lösen sie sich aus der früheren Abhängigkeit von Entwicklungs- und Marketingpartnerschaften mit der Pharmaindustrie. Ein klares Indiz dafür ist eine andere Kennziffer der besagten IQVIA-Studie: für 76 Prozent ihrer Produkte stellten die «emerging» Biotechs 2021 eigene Zulassungsanträge. Ein weiterer Pluspunkt ist, dass die Biotechbranche der Vorreiter bei zahlreichen neuen Ansätzen wie den Gentherapien, den zellbasierten Therapien und der Immunonkologie ist.
Der entsprechende kurstreibende Nachrichtenfluss ist vorhanden, denn in diesem Jahr wird vor allem in der Krebsmedizin, der Neurologie und den seltenen genetisch bedingten Erkrankungen eine Vielzahl von klinischen Studienergebnissen und Zulassungsentscheidungen erwartet. Für reichlich Nachschub ist gesorgt, denn die Zahl der in die Studien aufgenommenen Patienten ist wieder höher als vor der Coronapandemie. Weiter zugenommen hat auch die Zahl der neuen Studienanträge bei der US-Behörde FDA.
Zugleich steigt der Druck auf die Pharmakonzerne, neue Wachstumstreiber zu generieren. Die meisten Gesellschaften haben sich im vergangenen Jahrzehnt strategisch neu aufgestellt, indem sie die Medikamentenentwicklung auf wenige Krankheitsfelder konzentriert haben. Konzerne wie Roche und Bristol-Myers Squibb in der Krebsmedizin oder Novo Nordisk und Eli Lilly in der Diabetesbehandlung sind immer noch erfolgreich. Trotzdem muss die Pharmabranche in den nächsten Jahren Lösungen finden, um drohende Einsatzeinbußen zu kompensieren. Schätzungen der FDA zufolge verlieren Blockbuster mit einem Gesamtumsatz von mehr als USD 250 Mrd. in der nächsten Dekade ihren Patentschutz.
Das aktuelle Marktumfeld spricht dafür, dass nach zwei relativ ruhigen Jahren wieder mehr Übernahmedeals abgeschlossen werden könnten. Auf den ersten Blick mutet es widersprüchlich an, dass die Bewertung der meisten Biotechaktien in den letzten zwölf Monaten deutlich gesunken ist. Der Hauptgrund dafür war und ist die Sektorrotation vieler Investoren weg von Wachstumswerten. In Zeiten von steigender Inflation und drohender Rezession vollzogen die Finanzmärkte Bewertungsschnitte bei nichtprofitablen Biotechfirmen, die noch kein Produkt auf dem Markt und zugleich eine kapitalintensive Entwicklungspipeline haben. Für diese Unternehmen werden die künftigen Gewinnerwartungen aufgrund der mit steigenden Zinsen einhergehenden höheren Diskontierungssitze niedriger bewertet. Dementsprechend werden die Kursziele reduziert.
Die Ende Mai bekanntgegebene Übernahme von Biohaven durch Pfizer für USD 11,6 Mrd. könnte den Auftakt für weitere Akquisitionen in diesem Jahr bilden. Dass der Pharmagigant den Biohaven-Aktionären einen Aufschlag von 80 Prozent zum Aktienkurs vor Bekanntgabe der Akquisition zahlt, verdeutlicht einmal mehr, dass die Interessenten bereit sind, tief in die Tasche zu greifen, wenn die Objekte eine wegweisende Technologie und dazu auch marktreife Produkte mit grossem Umsatzpotenzial mitbringen.
Die Tendenz bei den Pharmafirmen dürfte dahingehen, vor allem Biotechfirmen zu akquirieren, die für ihre ersten Produkte auf der Basis von neuen bahnbrechenden Technologien die Marktzulassung erhalten haben oder unmittelbar davorstehen. Dazu zählt das Gene Editing, bei dem einzelne fehlerhafte Gensegmente geschnitten und verändert werden. Gene können eingefügt, entfernt oder ausgeschaltet werden und dadurch hoffentlich eine dauerhafte komplette Heilung von genetisch bedingten Erkrankungen ermöglichen. In der zweiten Jahreshälfte werden CRISPR Therapeutics und Vertex Pharma hierzu die ersten zulassungsrelevanten Daten im Gene Editing für die Behandlung von zwei genetisch bedingten Störungen bei der Bildung von Blutzellen präsentieren. Weil die Behandlungskosten für diese bis dato nicht behandelbare Krankheit sehr hoch sind, haben CRISPR und Vertex eine sehr hohe Preissetzungsmacht. Gut denkbar wäre, dass das profitable Biotech-Schwergewicht Vertex sich diese potenziellen Milliardeneinnahmen mit einem Übernahmeangebot sichert.
RNA-basierte Therapeutika wie SiRNA und ASO (Antisense-Oligonukleotide), die in den letzten Jahren die Marktzulassung für Medikamente in Nischenindikationen erhielten, sind ein weiteres kommerziell attraktives Feld für Übernahmeinteressenten. Alnylam und Ionis Pharma sind hier die beiden Unternehmen, die mit ersten zugelassenen Produkten und ihren ausgereiften Technologieplattformen als aussichtsreiche Übernahmekandidaten gelten. In der Onkologie gilt das verstärkt für Biotechs, die in der Immunonkologie führend sind – und hier in erster Linie mit neuen Produkten, welche die Immunabwehr noch besser gegen Tumorzellen aktivieren als Kombinationstherapien einsetzbar sind.
Bei kleinen Biotechfirmen, die aussichtsreiche Technologien, aber noch keine eigenen Wirkstoffe mit klinischem Wirksamkeitsnachweis besitzen, herrscht dagegen eine sehr große Diskrepanz zwischen der eigenen Firmenbewertung, die sie als Übernahmepreis sehen, und dem, den ein Käufer bereit ist zu zahlen. Die Aktien dieser Unternehmen haben seit 2021 die größten Kurseinbußen erlitten. Dementsprechend ist der Unternehmenswert gesunken. Um die Finanzierung ihrer wichtigsten klinischen Projekte sicherzustellen, werden diese Unternehmen klassische Entwicklungspartnerschaften mit Big Pharma eingehen, die sich aus Vorabzahlungen und erfolgsabhängigen Meilensteinzahlungen zusammensetzen. Im Erfolgsfall könnten solche Partnerschaften in Übernahmeangebote münden.
Autor
Dr. Daniel Koller kam 2004 zu Bellevue Asset Management und ist seit 2010 Head Investment Management Team der BB Biotech AG. Von 2001–2004 war er als Investment Manager bei equity4life Asset Management AG und von 2000–2001 als Aktienanalyst bei UBS Warburg tätig. Er absolvierte ein Studium in Biochemie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich und promovierte in Biotechnologie an der ETH und bei Cytos Biotechnology AG, Zürich.
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