„Der Vogelsbergkreis kann richtig viel“
Herr Görig, vor genau zehn Jahren wurden Sie in Ihr Amt als neuer Landrat des Vogelsbergkreises eingeführt. Mit welchen Gefühlen denken Sie an diesen Tag?
Görig: Mit gemischten Gefühlen. Zum einen überwog die Freude, in einem Amt angekommen zu sein, in dem man selbst gestalten kann. In dem man die entscheidenden Weichen für die Entwicklung des Kreises stellen kann. In dem man die Möglichkeit hat, an verantwortlicher Position mitzuhelfen, die Region für die Zukunft aufzustellen. Mit war klar, dass herausfordernde Aufgaben auf mich warteten, denen wollte ich mich mit aller Kraft stellen. Zum anderen wusste ich zu diesem Zeitpunkt natürlich auch um die äußerst angespannte finanzielle Situation unseres Kreises, schließlich hatte ich noch als Erster Kreisbeigeordneter dafür gesorgt, dass der Haushalt genehmigt wurde, um überhaupt handlungsfähig zu sein. Unsere Kassenkredite hatten sich auf 100 Millionen summiert – um es vereinfacht auszudrücken: Auf unserem Girokonto standen wir mit 100 Millionen „in der Kreide“. Mir waren die Hände gebunden. Das Land Hessen hat uns zwar durch zwei Programme einen Großteil der Schulden erlassen. Wir dürfen aber nicht vergessen: Einen Teil der Schulden müssen wir immer noch zurückzahlen. Das sind immerhin noch 40 Millionen und diese Verpflichtung bindet uns bis ins Jahr 2034.
Die finanzielle Situation war nicht die einzige Herausforderung, der Sie sich stellen mussten?
Görig: Mitnichten. Völlig neu aufgestellt habe ich zum Beispiel unseren Rettungsdienst. Alleine in unserer Leitstelle haben wir das Personal verdoppelt. Zudem haben wir den Bereichsplan neu aufgestellt. Wir haben zahlreiche Rettungswachen neu gebaut. Mit Homberg wird in wenigen Tagen eine weitere neue Wache offiziell eingeweiht.
Hausintern haben wir ein neues Amt aufgebaut: das Amt für Gefahrenabwehr. Dort angesiedelt ist neben dem Rettungsdienst auch der Katastrophenschutz, hinzu kommen wird nun noch der Zivilschutz.
Bleiben wir beim Oberbegriff Gesundheit: Das Kreiskrankenhaus beschäftigt Sie seit ihrem Dienstantritt, oder?
Görig: In der Tat, da habe ich viele Enttäuschungen hinnehmen müssen. Wir wähnten uns schon mehrfach am Ziel und wurden auf den letzten Metern ausgebremst. Exemplarisch sei an die feste Förderzusage des Landes erinnert, die in letzter Sekunde zurückgenommen wurde, oder an die vom Land immer geforderte Fusion mit dem Klinikum Bad Hersfeld oder mit dem Klinikum Fulda und Bad Hersfeld. Alle Verträge waren fertig, dann kündigte mein damaliger Hersfelder Landratskollege die Kooperation auf. Das alles hat uns Zeit gekostet und Geld, das sehen wir jetzt. Ich bin froh, dass der Kreistag im Januar vergangenen Jahres den Weg frei gemacht und dem Neubau unseres Kreiskrankenhauses zugestimmt hat. Seit wenigen Wochen liegt eine aktualisierte Planung vor, nach der gebaut werden soll. Zum jetzigen Zeitpunkt gehen wir von Kosten in Höhe von 75 Millionen Euro aus. Der Neubau des Kreiskrankenhauses stellt für uns einen enormen finanziellen Kraftakt dar. Das Land stellt uns jetzt einen Kredit in Höhe von 13 Millionen Euro zur Verfügung. Da würde ich mir sehr viel mehr Engagement wünschen. Wenn man sieht, was das Rhönklinikum bekommt, da kann man schon neidisch werden: 500 Millionen in den nächsten zehn Jahren für eine Aktiengesellschaft!
Millionenbeträge sind auch nötig, wenn es um die Sanierung der Schulen geht.
Görig: Die Ausstattung unserer Schulen liegt mir besonders am Herzen. Seit 2012 haben insgesamt 46,5 Millionen ausgegeben, unser Eigenanteil liegt bei sage und schreibe 29 Millionen. Mit Hilfe der Kommunalinvestitionspakte 1 und 2 konnten zum Beispiel der Mehrzweckbau an der Stadtschule Alsfeld, der Erweiterungsbau an der Homberger Grundschule und die Dach- und Brandschutzsanierung der Großsporthalle in Alsfeld realisiert werden. Allein aus Eigenmitteln finanziert wurden unter anderem die Komplettsanierung der Vogelsbergschule in Schotten, der Neubau der Vulkan-Sporthalle in Lauterbach und der Neubau der Gesamtschule in Schlitz, die im September eingeweiht wird.
Alleine für den Neubau in Schlitz geben wir 19 Millionen Euro aus. Parallel angelaufen ist gerade die Sanierung des Werkstattgebäudes an der Vogelsbergschule. Da spüren wir schon ganz deutlich die enorme Erhöhung der Baukosten. Geplant wurde mit 2,7 Millionen, mittlerweile sind wir schon bei 3,7 Millionen angelangt. Mehrkosten schlagen natürlich auch beim Betreuungsgebäude an der Gerhart-Hauptmann-Schule in Alsfeld, das gerade entsteht, zu Buche, vor allem aber wirkt sich die Preissteigerung am Beispiel Oberwaldschule in Grebenhain aus: Zunächst mit 15 Millionen geplant, gehen wir nun von 21 Millionen aus.
9 Millionen haben wir zusätzlich in die digitale Ausstattung unserer Schulen investiert. Da sind wir im Vergleich zu anderen Kreisen ganz weit vorn und entsprechend gut vorbereitet. Wir haben sehr früh damit begonnen, unsere Schulen entsprechend auszustatten, die erste Generation unserer Aktivboards muss bereits ersetzt werden. In einem ersten Schritt werden 125 dieser interaktiven Displays angeschafft, alleine das kostet 900.000 Euro.
Blieb ob dieser Summen eigentlich noch Geld und Zeit für andere Dinge?
Görig: Wir haben viele Dinge angestoßen und umgesetzt in den letzten zehn Jahren – das reicht von der Fachstelle für gesundheitliche Versorgung, die auf meine Initiative hin hauptamtlich eingerichtet wurde, über die Sanierung der Kreisstraßen mit eigenem Geld bis zum geförderten Ausbau des Breitbandnetzes, ebenfalls eine Mammutaufgabe, die viel Einsatz und Energie gekostet hat.
Und schließlich galt es drei große Krisen zu meistern – ein straffes Programm für zehn Jahre Dienstzeit
Görig: Ja, das waren wirklich herausfordernde Zeiten. Los ging es 2015 mit der Flüchtlingskrise. Ich kann mich noch genau an den Donnerstagabend erinnern, an dem der Anruf des Innenministers kam: Bis zum Montag mussten wir 1000 Betten für Flüchtlinge bereitstellen. Wir mussten vier Turnhallen zu Unterkünften umgestalten, wir mussten Security finden, Caterer, wir mussten Babywindeln besorgen und Hygieneartikel. Und Bauzaun. Es gab nirgends mehr Bauzaun, um das Gelände rund um die Unterkünfte absperren zu können. Irgendwo in Nordrhein-Westfalen sind wir dann fündig geworden… Unser Krisenstab hat damals täglich mehrfach getagt, ich bin nachts zu den Unterkünften gefahren und habe die ankommenden Flüchtlinge in Empfang genommen. Das waren verdammt kurze Nächte und sehr lange Tage!
Im März 2020 dann hatten wir unseren ersten Corona-Fall und Ende des Jahres bauten wir unser Impfzentrum auf. Ich hätte nicht gedacht, dass uns dieses Virus mehr als zwei Jahre später immer noch beschäftigen wird.
Und seit Februar schließlich noch der Krieg in der Ukraine. Wieder gab es einen Einsatzbefehl des Landes, wieder mussten 1000 Betten bereitgestellt werden. Irgendwie haben wir wohl schon ein wenig Routine: Innerhalb weniger Tage stand die Unterkunft – zunächst in der Hessenhalle, jetzt neben dem Pferdezentrum.
Und zum Abschluss ein Blick in die Zukunft…
Görig: Der fällt schwer, nicht zuletzt die Krisen zeigen uns ganz deutlich, wie unvorhersehbar doch alles ist. Ich glaube aber, sagen zu können, dass wir vor großen Herausforderungen stehen. In den letzten sieben Jahren haben wir erlebt, dass wie als Behörde immer gefordert sind, wenn es um die Umsetzungen von welchen Maßnahmen auch immer geht. Der Landrat ist immer mehr als Krisenmanager gefragt.
Was die Finanzen angeht: Die Erhöhung der Baukosten sprach ich bereits an. Hinzu kommen steigende Zinsen und erwartbare höhere Personalkosten durch höhere Tarifabschlüsse. Richtig weh tun wird uns zudem die Erhöhung der Energiepreise. Wir haben alleine 38 Schulstandorte, hinzu kommen unsere Verwaltungsgebäude. Da müssen wir mit vielen Millionen Mehrkosten rechnen. Das wird unseren Handlungsspielraum wieder einmal sehr stark einschränken. Demgegenüber stehen außerdem höhere Anforderungen wie zum Beispiel beim Klimaschutz und beim Zivilschutz.
Der Vogelsberg selbst, die Region, wird sich weiterhin positiv entwickeln. Menschen entdecken das Landleben für sich und wir bieten ihnen attraktive Orte zum Leben und Arbeiten. Schon jetzt haben wir mehr Zuzug als Wegzug in den Gemeinden, die eine gute Verkehrsanbindung haben. Von daher müssen wir bei allen Sparzwängen in den nächsten Jahren vor allem auch darauf achten, dass wir die sogenannten „weichen Standort-Faktoren“ und die nötige Infrastruktur nicht vernachlässigen – von der Kinderbetreuung bis zum Breitbandanschluss für das Homeoffice.
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