Kurbel fehlt, ein weltbekannter Erfinder, Rosinen im Kopf sowie ein verzweifelter Gefangener – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
„Der Riese im Paradies“ von Joachim Nowotny“ – dieser Titel klingt fast nach einem Märchen. Es ist aber keins, sondern ein für die Zeiten seines Erscheinens Ende der 1960er Jahre für DDR-Verhältnisse überraschend kritisches Jugendbuch, dessen Verfasser die Finger in manche Wunde legt und nicht nur von den Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens schreibt, sondern auch vom zerstörerischen Umgang mit Natur und Kultur – ein früher „grüner Roman“ …
Gleich zwei Bücher von Jurij Koch präsentiert das E-Book „Die rasende Luftratte und Rosinen im Kopf“. Während es in dem einen um einen inzwischen weltbekannten Erfinder geht, fragt man sich bei dem anderen, wie denn eigentlich die Rosinen in den Kopf von Mathies kommen konnten. Und wird der Rosinen-Kopf seinen faulen Bruder Thomas retten können?
Eine nicht unumstrittene historische Gestalt war der römische Politiker und Volkstribun Cola di Rienzo, der von 1313 bis 1354 lebte, also nur 41 Jahre alt wurde. Seinem Leben widmet sich Sigrid Grabner in ihrem Historischen Roman „Traum von Rom“.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Heute geht es um einen Mann, dessen Name noch immer einen geradezu heiligen Klang hat und dessen Leben und Kämpfen noch immer für kräftigen Meinungsstreit sorgt, sorgen kann und soll. Schließlich dreht sich sein Leben und Kämpfen um eine zentrale strategische Frage aller politischen Auseinandersetzungen und Befreiungsbewegen: Wieviel Gewalt ist nötig und möglich? Und funktioniert eigentlich das Konzept des gewaltlosen Widerstandes? Und was können wir aus diesen historischen Erfahrungen für die Gegenwart lernen? Lässt sich Gewalt durch Gewalt stoppen oder auch durch gewaltlosen Widerstand?
Erstmals 1983 veröffentlichte Sigrid Grabner im Verlag Neues Leben Berlin die Biografie „Mahatma Gandhi – Politiker, Pilger und Prophet“: Mahatma – die große Seele – nannte ihn das indische Volk, und unter diesem Namen wurde er weltbekannt. Mohandas Karamchand Gandhi (1869-1948) studierte in England. In Südafrika fand er zu seiner Berufung, in Indien entflammte er den Freiheitswillen des ganzen Volkes gegen die britische Kolonialherrschaft. Churchill beschimpfte ihn als „nackten Fakir“, Einstein rühmte ihn als einen Mann, „welcher der Brutalität Europas die Würde des schlichten Menschenwesens gegenüberstellte“. Sanft und bescheiden im Auftreten, war er doch voller Kraft und Autorität. Er verkörperte einen eisernen Willen und die konzentrierte Leidenschaft, dem Unrecht zu widerstehen. Er konferierte mit Premierministern und teilte das Leben der Armen. Immer handelte er im Vertrauen auf die Kraft der Liebe und der rückhaltlosen Wahrhaftigkeit.
Wie kein anderer repräsentierte Gandhi Indien und den Geist dieses Landes. Er wollte das scheinbar Unmögliche – den gewaltlosen Kampf. Sein eigenes Leben in die Waagschale werfend, errang er überwältigende Siege. Doch die Tragik des Besiegten blieb ihm nicht erspart. Man feierte ihn als „Vater der indischen Nation“, aus deren Mitte aber auch sein Mörder kam. Und hier ein aufschlussreicher Auszug, der eines der großen Probleme von Ghandis Herkunftskontinent thematisiert:
„Ehe auf indisch
Für Mohandas rückte die Zeit des Erwachsenseins schneller heran, als er geahnt hatte. 1882 beschloss Karamchand Gandhi, den knapp dreizehnjährigen Mohandas und seinen älteren Bruder Karsandas zu verheiraten. Karamchand Gandhi war nun sechzig Jahre alt. Es dünkte ihn höchste Zeit, seine irdischen Angelegenheiten zu ordnen, wozu er auch die Verheiratung seiner beiden jüngsten Söhne zählte. Für Mohandas hatte er die gleichaltrige Kasturba zur Frau bestimmt. Sie war die Tochter von Gokuldas Makanji, einem Kaufmann aus Porbandar und guten Freund der Familie. Der Junge fügte sich in den Willen des Vaters nur allzugern, weil er so für einige Monate die Schule in Rajkot verlassen und nach Porbandar zurückkehren konnte.
Im Hause der Gandhis in Porbandar bereitete man eine dreifache Hochzeit vor – die der Gandhi-Brüder und eines ihrer Vettern. Die Gandhis waren keine reichen Leute und konnten es sich nicht leisten, jedem der Knaben eine kostspielige Hochzeitsfeier auszurichten.
Karamchand Gandhi hielten seine Amtspflichten bis zum letzten Augenblick in Rajkot fest. Die Tradition verlangte, dass der Vater auf der Hochzeit seiner Söhne anwesend war. Die Reise von Rajkot nach Porbandar dauerte gewöhnlich fünf Tage, Karamchand Gandhi aber trieb zur Eile, er musste die Strecke in drei Tagen zurücklegen. Kurz vor dem Ziel verunglückte der überstrapazierte Wagen. Rechtzeitig, aber mit schweren Verletzungen, erreichte Karamchand das Hochzeitshaus. Von diesem Unfall sollte er sich nie wieder erholen.
Am Hochzeitstag bestieg Mohandas zur festgesetzten Stunde ein mit Federbüscheln und vergoldetem Zaumzeug geschmücktes Pferd und ritt in feierlicher Prozession inmitten der Verwandten zum Haus seiner Braut. Dort erwartete ihn, auf einem Podest sitzend, die kleine Kasturba. Sie war ein hübsches Mädchen mit einem ovalen Gesicht, großen dunklen Augen, vollen Lippen und einem Kinn, das Willensstärke verriet. Mohandas setzte sich steif neben sie. Als die Kinder die vorgeschriebenen Gebete verrichtet hatten, erhoben sie sich, umrundeten mit sieben Schritten das heilige Feuer und sprachen dabei das Heiratsgelübde der Hindus:
„Tu den ersten Schritt“, begann Mohandas, „damit wir Willensstärke haben.“ – „Jedem deiner Schritte werde ich folgen.“ – „Tu den zweiten Schritt, damit Lebenskraft in uns einströmt.“ – „Jedem deiner Schritte werde ich folgen.“ – „Tu den dritten Schritt, damit wir in wachsendem Wohlstand leben.“ – „Deine Freuden und Sorgen werde ich teilen.“ – „Tu den vierten Schritt, damit wir immer voller Freude sind.“ – „Mein Leben soll dir geweiht sein. Ich werde Worte der Liebe zu dir sprechen und für dein Glück beten.“ – „Tu den fünften Schritt, damit wir dem Volk dienen.“ – „Ich werde dir immer folgen und dir helfen, dein Gelübde, dem Volk zu dienen, zu halten.“ – „Tu den sechsten Schritt, damit wir unseren religiösen Gelübden im Leben folgen.“ – „Ich werde dir folgen, unsere religiösen Gelübde und Pflichten zu erfüllen.“ – „Tu den siebenten Schritt, damit wir immer als Freunde leben.“ – „Es ist die Frucht meiner guten Taten, dich als Ehemann bekommen zu haben. Du bist mein bester Freund, mein religiöser Lehrer und mein unumschränkter Gebieter.“
Als sie so gesprochen hatten, schob Mohandas Kasturba ein Stück süßes Weizengebäck in den Mund und empfing ein ebensolches aus Kasturbas Händen. Nun waren beide nach dem Hinduritus Mann und Frau. Ungleich noch jüngeren Paaren, wo die Braut im Haus ihrer Eltern blieb, wurden Mohandas und Kasturba als reif genug angesehen, die Hochzeit auch körperlich zu vollziehen. Kasturba folgte Mohandas in das Haus der Gandhis, wo sie von nun an lebte. Vor der Hochzeitsnacht nahm die Frau des ältesten Bruders Lakshmidas Mohandas beiseite und klärte ihn in wenigen Worten über seine ehelichen Rechte und Pflichten auf.
So begann nach altem indischem Brauch eine der Ehen, die in vielen Fällen zu einem vorzeitigen körperlichen Verfall der jungen Inder führten. Zwei Kinder wurden in den Ozean des Lebens geworfen, ohne vorher die Fähigkeit erworben zu haben, sich in ihm zu behaupten. Sie kannten einander nicht. Niemand fragte danach, ob sie überhaupt zusammenpassten. Seit altersher suchten die Eltern für ihre Söhne die Bräute aus. Das Mädchen musste aus derselben Kaste stammen, eine gute Mitgift einbringen und gesund sein. Es war dazu erzogen worden, im Mann und in der Familie den Sinn seines Lebens zu sehen. Nach der Hochzeit folgte das Mädchen dem Ehemann in dessen elterliches Haus. Es stand auf der untersten Stufe der Familienhierarchie, und wenn es keinen Sohn gebar, wurde es oft schlechter behandelt als eine Dienstmagd. Eine Scheidung war unmöglich. Schutzlos lieferte das Gewohnheitsrecht die Braut dem Wohlwollen oder der Ungunst des Schwiegervaters aus. Er und nach seinem Tode ihr Mann bestimmten ihr Leben. Wenn der Mann starb, musste sie als Dienstmagd im Hause seiner Verwandten bleiben. Nach dem Hinduglauben hatte die Frau den frühen Tod ihres Mannes durch ihre Sünden in einem früheren Leben verursacht. Kehrte sie dennoch zu ihren eigenen Verwandten zurück, hörte sie dort dieselben Vorwürfe. Für eine kinderlose Frau oder eine Witwe konnte die Ehe zur Hölle werden.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:
Erstmals 1969 erschien im Kinderbuchverlag Berlin „Der Riese im Paradies“ von Joachim Nowotny: Der dreizehnjährige Klaus Kambor, Kurbel genannt, hat seine ganz persönlichen Schwierigkeiten. Die einen meinen, er wär schon erwachsen, und verlangen von ihm, dass er sich entsprechend benimmt, die anderen behandeln ihn wie ein halbes Kind, möchten ihm am liebsten jeden Schritt vorschreiben (täglich eine Stunde Schönschreiben üben zum Beispiel, wegen seiner entsetzlichen Klaue).
Wo lebt Kurbel? In Kattuhn, einem Dorf irgendwo in der DDR – genauer: im sorbischen Gebiet. Kattuhn steht plötzlich im Mittelpunkt aufregender Ereignisse. Zunächst nur ein Gerücht, vage, schwer zu greifen, verdichtet sich immer mehr, was mit Kattuhn und der ein wenig abseits gelegenen Buschmühle geschehen soll: Standort eines Großkraftwerkes soll es werden. Aber in der alten Buschmühle leben doch Menschen – der alte Schuster Jubke, Rodewagens, Familie Honko, Kambors .:.
Während sich das Leben der Buschmühlenleute ganz allmählich verändert, während die Männer vom Bau ihrerseits den Ton anzugeben versuchen, muss Kurbel sehen, wie er fertig wird – mit seinen Geheimnissen, wozu seine Verehrung für Daniela Greiner ebenso gehört wie sein Paradies, muss damit fertig werden, dass man ihn bei einer wichtigen Veranstaltung einfach außer Aktion setzt, denn Kurbel, das ist doch der, der den Waldbrand verursacht hat …
Fünf Jahre nach seinem Erscheinen wurde das spannende und für damalige Verhältnisse überraschend kritische Buch für Leser ab 13 Jahren von DEFA-Regisseur Rolf Losansky unter dem Titel „…verdammt ich bin erwachsen“ verfilmt. Zu den Mitwirkenden gehörten bis in die Nebenrollen so prominente DDR-Schauspieler wie Herbert Köfer (Schuster Jubke), Jutta Wachowiak (Kindergärtnerin Kandidel) , Jürgen Reuter (Kraftwerksbauarbeiter Jule Bucht) und Polizeiruf-110-Kommisar Wolfgang Winkler (Leo Javernki). Für die Filmmusik sorgten unter anderen die „Pudhys“. Wichtiger Unterschied zwischen dem Buch und dem zu Unrecht etwas in Vergessenheit geratenen DEFA-Streifen ist das Alter des Helden – im Buch ist Kurbel 13 Jahre jung, im Film dagegen schon 15. Und gleich im allerersten Satz des Buches von Joachim Nowotny erfahren wir, dass irgendwas nicht stimmt:
„ERSTES KAPITEL
1
Hier fehlt Kurbel. Denn: Paul Honko ist da, er steht schwarz und mit gefährlich funkelnden Augen vor der Durchfahrt, hat links neben sich ein altes Mühlrad, rechts eine Holzfeie, vor sich die Hundehütte mit Prinz an der Kette – dieser Paul Honko also zieht ein Scheit aus der Feie, so ein knorriges Kiefernscheit, an dem noch Aststumpen stehn, das schmeißt er jetzt zu Prinz hin. Der kann zwar ausweichen, jault aber trotzdem, springt auf die Hinterbeine, prügelt in seiner Angst die Luft mit den Vorderpfoten, das hilft ihm nichts, schon das nächste Scheit trifft ihn am Kopf.
Na gut, Prinz ist eigentlich kein ordentlicher Hund, mehr so eine Promenadenmischung aus Fox und Spitz, krumme Beine, bärtige Schnauze, ein Ohr hoch, eins lappig herabhängend und Haare wie ein schwarzes Lamm – aber Hund ist Hund, jedenfalls ein lebendes Wesen, dem so etwas weh tut. Man müsste eigentlich eingreifen, müsste der armen Kreatur helfen.
Wo ist denn bloß Kurbel? Ja doch, hier in der Buschmühle wohnen noch andere Leute, aber die sind alle unterwegs. Der Meister Jubke zum Beispiel, der Flickschuster, trägt die reparierten Schuhe aus. Herr Rodewagen steht vor dem breiten Backstubenfenster, träumt ein bisschen in die Sonne und knetet dabei langsam den Semmelteig durch.
Seine dicke Frau trinkt indessen die zweite Tasse Kaffee, denn der Konsum ist von eins bis drei geschlossen, da hat sie Pause.
Paul Honkos Frau Melanie dagegen hockt nichts ahnend zusammen mit Frau Kambor, Kurbels Mutter, in einem Erdloch vor dem Dorf Kattuhn. Beide lesen Saatkartoffeln aus der Miete, es ist höchste Zeit, dass sie in die Erde kommen.
Weit weg im Dubowitzer Forst rollt Peter Honko, der Sohn Pauls, ausgelängte und geschälte Riesenstämme auf den Rungenwagen; nicht mehr lange, und er donnert mit dem schweren Traktor auf den Ladeplatz des Dubowitzer Güterbahnhofes. Von dort ist es nicht weit zum Glaswerk, der kalte Ofen liegt gleich neben der Rampe, an ihm mauert Josef Kambor, Kurbels Vater, herum. Er teilt gerade einen Schamottstein kunstgerecht in vier ziemlich gleiche Viertel.
Bliebe noch Elisabeth. Elisabeth Honko, die hübsche Schwester Peters, der Stolz von Melanie, der Liebling von Paul Honko. Die sitzt im Augenblick mit ihrer Freundin in der kreisstädtischen Eisdiele und isst in aller Ruhe Halbgefrorenes. Die Schule ist aus, und der Zug fährt erst nach zwei zurück.
Kurz und gut: All die Buschmühlenleute haben ihre Beschäftigung, keiner weiß von dem betrunkenen Mann, niemand ahnt etwas davon, dass Paul Honko wieder einmal seinen Koller hat. Der Buschmühlenhof liegt weitab vom Dorfe Kattuhn in ziemlicher Einsamkeit, nahe am endlosen Kiefernwald, da kann der dicke Rodeländer Hahn ruhig empört spektakeln, die Ziege Meta kann meckern, wie sie will, der Hund Prinz noch so heulen und wimmern, das hört keiner.
Aber die Scheite fliegen. Und wie sie fliegen! Pauls langer Körper schwankt zwar auf steifen Beinen, die schwarzen Haare hängen ihm ins Gesicht, doch zielen kann er noch. Ein Scheit trifft Prinz am Hals, ein zweites an der Hinterpfote, ein drittes überm linken Ohr. Daneben geht keins.
Kurbel muss her! Vielleicht hockt er oben unter der Dachkappe des alten Mühlengebäudes. Das macht er manchmal, aber bloß abends, wenn die Sonne rot und rund hinter der Kiefernheide versinkt. Vielleicht steckt er auch am Mühlgraben, gegenüber der Stelle, an der sich früher das große Schaufelrad drehte. Dort steigen im stillen tiefen Wasser immer noch ein paar lichtscheue Schleie auf. Es kann auch sein, dass er sich in Meister Jubkes Schusterwerkstatt geschlichen hat, jetzt wäre es gerade günstig, Kurbel könnte endlich sein Taschenmesser an der elektrischen Schmirgelscheibe schärfen. Das wollte er schon immer mal tun, bloß der Meister Jubke lässt ihn da nicht ran, der traut sich ja selber kaum.
Ginge es nach Kurbels Mutter, der energischen Frau Kambor, dann müsste der Junge jetzt in der Wohnstube am runden Tisch sitzen und Schönschreiben üben. Vier Seiten jeden Nachmittag. Und wehe nicht! Frau Kambor traut sich ja nicht mehr ins Dorf, seit alle Welt weiß, dass ihr Sohn in letzter Zeit so eine Klaue hat. Aber Kurbel sitzt natürlich nicht in der Wohnstube am runden Tisch. Noch viel weniger übt er das Schönschreiben.
Irgendwo wird er wohl stecken. Josef Kambor, der Hüttenmaurer, bildet sich ein, dass sein Sohn im Augenblick im Schuppen hinter dem ehemaligen Pferdestall Holz hackt. Der wird schon die Bescherung sehn, wenn er heimkommt. Nicht ein Scheit ist gehackt, nicht eins. Der Herr Sohn drückt sich vor der Handarbeit, er will später bloß auf lauter Knöpfe drücken und die Maschinen mit einem Fingerschnipsen regieren, arbeiten will er natürlich nicht.
Also: Kurbel ist immer noch nicht gefunden. Der kleine Hähnel wartet auch auf ihn. Da hat man nun eine ganz passable Bude gebaut, aus Latten und Schalbrettern, ziemlich gut versteckt auf der schmalen Mühlteichkaupe, die dreiseitig von Wasser umspült wird, mitten im Buschwerk steht die Bude, wie gesagt, also kaum erkennbar. Aber wozu eigentlich? Jetzt könnte man allerhand anstellen, etwas stibitzen und hier verstecken, jemanden, der auf dem Mühlteich zu tun hat, könnte man heimlich beobachten, vielleicht hat wirklich mal einer hier was zu tun. Und wenn nicht, dann ließe sich die Bude zu einem Steuerhaus umträumen, die Kaupe zu einem Riesenschiff, der Teich zum großen Meer. Der kleine Hähnel würde sich ganz gern mit dem Rang eines Ersten Offiziers begnügen und das Kapitänsamt dem Kurbel überlassen, wenn der bloß da wäre.
Aber er ist nicht da. Nirgends ist er. Und der arme Prinz heult immer noch, die Scheite fliegen, Paul Honkos Augen flackern böse. Junge, Junge! würde Piepe Jatzmauk aus Kurbels Klasse sagen, der ist ganz schön blau. Aber auch Piepe Jatzmauk ist nicht da. Was soll bloß werden?“
Fünf Jahre Unterschied liegen zwischen den beiden gedruckten Vorlagen für das E-Book „Die rasende Luftratte und Rosinen im Kopf“ von Jurij Koch: Erstmals 1989 erschien im Kinderbuchverlag Berlin „Die rasende Luftratte“. Bereits 1984 hatte der Altberliner Verlag „Rosinen im Kopf. Eine unglaublich wahre Geschichte“ herausgebracht: Stephan erklärt an seinem 9. Geburtstag, dass er Erfinder wird. Ein Jahr später kennt ihn die ganze Welt, den Erfinder des Mäusemotors. Erst treibt er den Fahrraddynamo an, dann das Motorrad seines Urgroßvaters, dann ein altes Auto und schließlich baut er ein Flugzeug, die rasende Luftratte. Aber er hat nicht nur Freunde und Bewunderer.
Mathies sagt man nach, dass er Rosinen im Kopf habe. Er macht lauter unmögliche Sachen. Als sein fauler Bruder Thomas ein Stück Kuchen nach dem anderen verdrückt hat, ist er zu schwer für das Kettenkarussell. Seine Gondel reißt ab und Thomas fliegt in die Luft. Mathies kann ihn doch nicht allein lassen und katapultiert sich ebenfalls mit einer Gondel in den Himmel. Während sich Thomas in eine weiche Wolke legt und schläft, muss Mathies gefährliche Abenteuer bestehen, um seinen Bruder zu finden und zu retten. Wie aber kamen die Rosinen in den Kopf von Mathies? Fangen wir mit Stephan Möhring an, dem späteren weltberühmten Erfinder, über den der Autor als einziger wirklich Genaues zu berichten weiß:
„Die rasende Luftratte oder Wie der Mäusemotor erfunden wurde
Es gibt wohl keinen Menschen auf der Welt, der Stephan Möhring nicht kennt. Vor einigen Jahren war er ein Junge, den nur wenige kannten. Seine Schulkameraden, die Eltern, Oma, der Urgroßvater und vielleicht noch ein paar unwichtige Personen. Inzwischen aber schreiben Zeitungen über ihn. Er schaut uns von Bildern in Büchern, auf Wänden in Schulen und Ferienheimen an, wird von Präsidenten empfangen, darf Pfannkuchen essen und Limonade trinken, soviel er will.
Jedermann weiß, dass Stephan den Mäusemotor erfunden hat. Ich bin gebeten worden zu erzählen, wie es dazu gekommen war. Man kann über bekannte Leute nicht genug berichten. Außerdem bin ich der einzige auf der Welt, der über die Ereignisse genau Bescheid weiß.
An dieser Stelle wird sich der eine oder andere am Hinterohr kratzen. Dort liegt das Personengedächtnis. Bevor ihr nun zum Lexikon greift, muss ich der Ausführlichkeit wegen, mit der ich die Geschichte erzählen will, sagen, dass Stephan Möhring jetzt anders heißt. Nach seiner großen Erfindung hatte man ihm geraten, sich einen Namen zuzulegen, der seinen Erfolg nicht ins Lächerliche zieht. Eine Arbeitsgruppe, in der Schüler, Lehrer und Eltern mit einem Regierungsvertreter berieten, einigte sich auf den Namen Maus. Also Stephan Maus. Wenn ihr im Nachschlagewerk nachschlagt, müsst ihr … Ist doch klar!
Ich will mich beeilen und zur Sache kommen, denn ausführlich erzählte Geschichten laufen Gefahr, langweilig zu werden. Obwohl ich euch raten möchte, Bücher nicht gleich aus der Hand zu legen, wenn ihr auf langweilige Stellen stoßt. Ihr könntet die spannendsten versäumen.
Stephan ist trotz seiner Berühmtheit nicht eingebildet. Er wird mir daher nicht übel nehmen, wenn ich nur seinen Vornamen verwende.
Stephans Geschichte begann mit einem Ärger. Er wurde ständig von Erwachsenen gefragt, was er denn einmal werden wolle, wenn er die Schule hinter sich gebracht haben würde. Viele Jahre hob er bei solchen witzlosen Fragen die Schultern und spitzte die Lippen. An seinem neunten Geburtstag antwortete er seinem Onkel, er werde Erfinder. Nachdem sich das Lachen des Onkels, seiner Frau und der anderen herumstehenden Verwandten gelegt hatte, fügte er noch hinzu, dass er einen neuen Motor erfinden wolle, der ohne Gestank und Abgase arbeite. Nun lachten die herumstehenden Verwandten, während der Onkel die Lippen zu einem Fragezeichen verzog. Er vermutete nämlich, dass die Bemerkung gegen sein stinkendes Auto gerichtet war, mit dem er seit dreißig Jahren zu allen Geburtstagen und ähnlichen Feiern aufkreuzte. Das Auto war ein Eigenbau, der mehrere Typen in sich vereinigte, schrecklichen Krach verursachte und viele Löcher und Ritzen besaß, aus denen jeweils ein anderer Gestank drang.
„Erfinder, soso“, wiederholte der Onkel und löschte das Fragezeichen auf den Lippen. „Ich wollte auch einmal die Welt umschiffen.“ Er lachte über den eigenen Witz, von dem er dachte, dass er einer war. Die anderen Verwandten lachten nicht. Sie mochten den alten Isegrim nicht. Er ähnelte seinem Auto. Wenn er den Mund öffnete, verpestete er die Umwelt. Zum Beispiel behauptete er, dass die Welt bald untergehe. Dass es keinen Sinn habe, sich anzustrengen. Außerdem liebte er Kinder nicht. Weil sie immer Rosinen im Kopf hätten. Darüber war seine Frau traurig. Sie wollte gern einen Jungen wie Stephan.
„Du wirst schon sehn“, sagte Stephan.
Die Tante, also die Frau des Onkels, nickte beifällig. „Gib ihm Saures!“
Erfindungen lassen bekanntlich auf sich warten. Schon befürchtete Stephan, er könnte seinen zehnten Geburtstag nicht als Erfinder eines neuen Motors feiern. Da geschah es …
Bevor ich aber nun berichte, was geschah, muss ich eure Aufmerksamkeit auf eine Nebensache lenken. Wie ihr seht, wusste Stephan sehr zeitig, was er werden wollte. Das ist bei allen großen Leuten so. Glaubt nicht Erfindern, die behaupten, sie hätten in Physik Fünfen gehabt. Vor allem Schriftsteller neigen zur Flunkerei. Dass sie wegen liederlicher Schrift und mangelnder Rechtschreibung sitzen geblieben wären und so. Damit wollen sie sich interessanter machen, als sie sind. Erfinder wissen als Kinder, dass sie Erfinder werden wollen. Alles andere ist erfunden.
Zurück zur Hauptsache. Eines Tages brachte Stephans Vater eine weiße Maus nach Hause. Sein Freund, ein Verkehrspolizist, hatte sie ihm geschenkt. Der züchtete in seiner Freizeit weiße Mäuse. Die Zoohandlung, die er seit vielen Jahren belieferte, konnte nicht alle abnehmen. Auf diese Weise kam Karottchen ins Haus. Sie bewohnte einen viereckigen Glasbehälter. Karottchen durfte auf Sägespänen und Zeitungsschnipseln herumliegen. Das Faulenzen aber gefiel ihr nicht lange. Sie versuchte, an den Wänden hinaufzuklettern und auf den Hinterbeinen zu tanzen. Das war ein ganz schönes Getue im Behälter. Stephan konnte nicht einschlafen, wenn er hörte, wie die Maus rackerte. Eines Nachts war ihm, als hätte jemand mit der Hand auf den Fußboden geschlagen. Er machte Licht und erschrak. Karottchen war verschwunden. Wo war sie? Stephan sah unters Bett. Dort saß sie. Als er zugreifen wollte, sprang sie in den Pantoffel. Von dort unter den Schrank und so weiter. Ich will die Jagd nicht ausführlich wiedergeben. Eingefangen wurde die Maus schließlich mithilfe der ganzen Familie.
In dem Augenblick sagte Stephan seinen in der ganzen Welt und darüber hinaus bekannten Satz: „Hier muss ein Rad rein.“´
Erstmals 2002 veröffentlichte Sigrid Grabner im vacat verlag Potsdam „Vertraute Fremde. Essays, Porträts, Betrachtungen“: Sigrid Grabner hat für diesen Band all jene Essays, Portraits und literarischen Skizzen herausgesucht, in denen sie ihr Verhältnis zu den wenigen essentiellen Fragen dieser Welt offenlegt. Dabei scheut sie sich nicht, und das ganz unzeitgemäß und im besten Sinne des Wortes konservativ, die Frage nach Wahrheit, Glaube oder Macht anhand solch schillernder Figuren wie Gandhi, dessen erste deutschsprachige Biografin die Autorin ist, Henning von Tresckow oder Emmi Bonhoeffer zu stellen, um nur drei vor allem politische Persönlichkeiten hervorzuheben. Hier ein Auszug aus dem spannenden Buch:
„Vertraute Fremde
Wer in die Mark Brandenburg kommt, hat angesichts stiller Dörfer, englischer Parks, italienischer Villen früher oder später ein Dájù-vu-Erlebnis. Erinnern nicht die Ufer umwaldeter Seen, sich im Horizont verlierende Wege an verträumte Sommernachmittage der Kindheit? Irgendwann, irgendwo haben wir das alles schon einmal erlebt und gesehen.
Viele Gesichter hat die Mark Brandenburg. In manchem Sommer lässt flirrende Hitze, in manchem Winter klirrender Frost an die Weiten des kontinentalen Ostens denken, während im nächsten Jahr nicht enden wollende Regenwolken die Landschaft mit nordatlantischer Melancholie überziehen. Russische und ungarische Steppenpflanzen sind hier ebenso zu Hause wie die Stechpalmen der britischen Inseln. Nicht wenige alteingesessene Brandenburger tragen flämische und wendische, französische und böhmische, polnische und russische Namen. Jahrhundertelang rangen ihre Vorfahren dem kargen Sandboden Kartoffeln, Roggen und Futterpflanzen ab, kultivierten ihn hier und dort sogar zu Obst- und Gemüseplantagen, denn nur in wenigen fruchtbaren Landstrichen gediehen profitable Kulturen wie Weizen, Zuckerrüben und Tabak.
Zisterzienser-Klöster öffnen unvermutet dunkle Wälder zu einem übersonnten Raum. Seen blitzen auf, von deren einem namens Stechlin Theodor Fontane erzählt, er zeige Erschütterungen in der Welt durch einen aufsteigenden Wasserstrahl oder gar durch einen aus der Tiefe steigenden roten Hahn an. Die Türme mittelalterlicher Feldsteinkirchen und aufstrebender Backsteingotik grüßen weithin über die Felder zur Autobahn, deren eilige Benutzer nichts von den Mühen der Erbauer ahnen. Barocke Herrenhäuser und von einstmals bescheidenem Wohlstand kündende Landstädtchen liegen an schnurgeraden Alleen, die alle nur ein Ziel zu haben scheinen – Berlin.
Die erste große Reise meines bewussten Lebens unternahm ich in die Mark Brandenburg. Ich war damals zehn Jahre alt und fuhr allein mit dem Zug zu Verwandten, die der Flüchtlingsstrom in der Uckermark angeschwemmt hatte, wie meine Eltern und mich im Raum Halle–Leipzig. Die sommerwarmen Wege zwischen Feldern, aus denen Lerchen in den weiten blauen Himmel aufstiegen, und die Ahnung des nahen Meeres prägten meinen Begriff von Landschaft, heute weiß ich es, für immer. Meine Eltern registrierten erstaunt meine Vorliebe für Kartoffeln und Sandböden, die so gar nicht meiner Herkunft entsprach. Sie mochten lieber Semmelknödel und sehnten sich in das liebliche Hügelland Böhmens zurück. Da ihnen die Heimat verschlossen blieb, lebten sie ihre Sehnsucht durch Ausflüge ins Saaletal und nach Thüringen aus und konnten nicht verstehen, was mich in den Ferien immer wieder in das weltabgeschiedene Dorf nahe der Oder zog. Eine Liebe auf den ersten Blick kann eben keine Gründe benennen. Später fügte es der Zufall, den es nicht gibt, dass ich mich in der Mark Brandenburg ansiedelte, dass meine Kinder hier geboren wurden und aufwuchsen. Durch Geburt wurde ihnen geschenkt, worum ich mich seit jener durch die Vertreibung für immer ins Vergessen versunkenen Kindheit in Böhmen vergeblich bemühte – Heimat. Geprägt sein von einer Landschaft und ihrer Geschichte, sie einatmen, selbstverständlich irgendwo zu Hause sein. Auch wenn die Regierenden dieses Zuhause durch Mauern und Stacheldraht für alle Zeiten unentrinnbar machen wollten. Überstieg nicht der Himmel spielerisch leicht die Mauern der Gegenwart, reichte die Geschichte der verfallenden Schlösser und Klöster nicht tiefer als die Fundamente der Grenzanlagen, entdeckten die durch Fernsehnsucht geschärften und sensibilisierten Sinne nicht im Wassertropfen die Wunder der Welt? Wo Kinder sich angenommen fühlen und nicht vorzeitig aus dem Paradies des Urvertrauens vertrieben werden, erfahren sie unverlierbar Heimat.
So wurde mir die Mark Brandenburg – wie schon seit Jahrhunderten vielen Flüchtlingen – zur vertrauten Fremde, weil sie die Heimat meiner Kinder war. Die in drei politische Verwaltungsbezirke aufgeteilte Mark Brandenburg war zwar nicht komfortabel, aber von einer eigentümlich wehmütigen Schönheit.
Anfang der Achtzigerjahre gestatteten mir die „Organe“ der DDR einen zweiwöchigen „Ausgang“ nach Italien, damit ich dort Recherchen für ein Buch betreiben konnte. Die Begegnung mit Rom elektrisierte mich. Konfrontiert mit den Zeugnissen einer zweieinhalbtausendjährigen Geschichte, hatte ich jeden Tag meines kurzen Aufenthalts ständig und unabweisbar das Gefühl, auf vertrautem Boden zu gehen, all diese Gebäude schon einmal gesehen zu haben. Die in meinem bisherigen Leben so absolut gesetzten Grenzen von Zeit und Raum schmolzen zu einem Nichts zusammen. Meine Seele lernte fliegen.
Obelisken und Pyramiden, von weither nach Rom gekommen, Kirchen, Palazzi und Parks – kannte ich sie nicht schon aus der Mark? Freilich verhaltener, dem nördlichen Temperament entsprechend, auch leichter daher kommend, weil Sandboden nicht so belastbar ist wie felsiger Untergrund.
Von der Villa Medici die Stadt überblickend, überkam es mich wie eine Erleuchtung: Wenn ich in Rom meine Heimat erkannte, hatte ich sie auch in Brandenburg gefunden. Italien und Deutschland, das es als politische Einheit nicht mehr und noch nicht gab, aber zu dem Brandenburg gehörte, waren seit Jahrhunderten, gar Jahrtausenden durch unterirdische Ströme miteinander verbunden. Die nördliche Landschaft, in der ich wohnte, war Teil von einem Europa, dessen politische Grenzen so wenig für die Ewigkeit geschaffen waren wie die Ideologien von Diktatoren. Was der Krieg mir genommen hatte, indem er mich aus dem Land meiner Vorfahren vertrieb, schenkte mir die Begegnung mit Rom aufs Neue: Heimat.
Nach jener ersten Romreise begann ich in der Mark Brandenburg Wurzeln zu schlagen und hatte doch die Vierzig schon überschritten. Die Grenzanlagen, die Seen, Flüsse, Wälder, Parks und Städte durchschnitten, schienen mir nun in dem Bewusstsein, dass alles mit allem verbunden ist, dem Leben auf Dauer so wenig standhalten zu können wie die Mauern in Herzen und Köpfen. Fortan musste ich mich nicht mehr in einer fruchtlosen Opposition gegen die Dummheit der alles beherrschenden Parteibürokratie abarbeiten, sondern konnte, mich verwurzelnd in diesem Landstrich und seiner Geschichte, einfach ich selber sein. Der Widerstand brauchte keine Rechtfertigung mehr, er wurde selbstverständlich. Wo man wirklich zu Hause ist, lässt man sich nicht ohne weiteres vorschreiben, was man zu tun und zu lassen hat. Man denkt und handelt, wie es einem das Gewissen und gesunder Menschenverstand vorschreiben.“
Erstmals 1985 erschien im Buchverlag der Der Morgen Berlin „Traum von Rom. Historischer Roman um Cola di Rienzo“: Als Gefangener Karls IV. ist Cola di Rienzo (1313-1354), Sohn eines römischen Schankwirtes, vormals Volkstribun dieser Stadt, von der Kirche als solcher verfolgt, dem Fegefeuer seiner Gedanken und Zweifel ausgesetzt. Er, der das Beste für seine Heimatstadt gewollt hatte, war bitter enttäuscht worden. Resignation und Erbitterung wechseln mit dem „Traum von Rom“. Nach seiner Auslieferung an den Papst entgeht er nur durch dessen plötzlichen Tod dem Scheiterhaufen und kehrt im Auftrag des neuen Oberhauptes der katholischen Kirche als Senator nach Rom zurück. Und so begegnen wir Cola di Rienzo zum ersten Mal – in einer für ihn ziemlich blöden Situation, als verzweifelter Gefangener:
„I
Die schwere Tür schlägt zu. Cola hört, wie man den Riegel vorlegt. „Nein“, flüstert er, schreit dann: „Lasst mich heraus!“ Er donnert gegen das Holz, bis er, aufweinend vor Schmerz, zu Boden sinkt.
Durch eine Mauerluke fällt Licht in das enge Verließ. Ein roher Holztisch, ein Schemel, eine Bettstatt aus Stroh. Cola widersteht dem Verlangen, sich auf dem Lager auszustrecken. Er stellt den Schemel vor die Luke und zieht sich an der Mauer hoch. Die Öffnung ist zu schmal, als dass er sich hindurchzwängen könnte. Gelänge es ihm dennoch, stürzte er in eine tödliche Tiefe.
Wohin haben sie ihn gebracht?
Fünf Schritte zur Tür, fünf Schritte zurück – auf und ab gehend beruhigt sich Cola. Heute Morgen glaubte er, König Karl entließe ihn in die Freiheit, man holte ihn aus dem Gefängnis der Prager Burg und hieß ihn, ein Pferd zu besteigen. Doch dann umringten ihn bewaffnete Reitknechte, die Hände wurden ihm gebunden. Der Weg führte nicht nach Süden, sondern in dieses Burgverlies.
Warum? Will ihn der König entgegen seinem Wort nach Avignon ausliefern? Ist der Prager Erzbischof Ernst von Pardubitz ein Lakai des Papstes und nicht der tolerante Kirchenfürst, als den man ihn preist?
Hoffend und vertrauensvoll kam Cola di Rienzo im Juli 1350 nach Prag, um König Karl zu bitten, seine Pflichten als römischer König zu erfüllen und Rom nicht länger dem Verderben preiszugeben. Aber ehe ein Monat verstrichen war, sperrte man Cola in ein Gefängnis der Prager Burg. Das focht ihn nicht an, denn er durfte Besuche empfangen und litt keinen Mangel. Außerdem hatte das Orakel des Cyrill ihm diese Prüfung verheißen.
Cola schreitet schneller aus. Das Orakel des Cyrill …! Seit einem halben Jahr bestimmen die Prophezeiungen des Mönchs Cyrill vom heiligen Berg Karmel sein Tun und Denken. Wie eine Erleuchtung war es damals über ihn gekommen, als er in der Schriftrolle von den Schrecken las, die über die Stadt am Tiber hereinbrechen würden, weil der Antichrist die Welt beherrsche und das Imperium sinke. Rettung erstünde der Welt in dem kühnen Sol, der nach triumphalem Aufstieg, nach Fall, Buße und Gefängnis einem Kaiser aus dem Norden den Weg nach Rom öffnen würde. Dann stiege ein neues Imperium auf, in dessen Licht sich die Schrecken der Gegenwart gleich Schatten verflüchtigten.
Das Orakel sprach wahr: Das römische Reich ist zerfallen, in Avignon regiert der Papst als Antichrist. Alle Zeichen deuten darauf hin, dass Karl der verheißene neue Herrscher ist und er, Cola di Rienzo, der kühne Sol. Dies zu verkünden, war er nach Prag gekommen. Hier glaubt man nicht an Prophezeiungen, man hält sie für Teufelswerk. Karl ist ein frommer Mann, doch seiner Frömmigkeit fehlt es an Mut.
Ein Geräusch an der Tür reißt Cola aus seinen Gedanken. Jäh springt Hoffnung in ihm auf. Sie kommen ihn holen, er wird frei sein. Doch es ist nur der Wärter, der eine Schüssel Suppe bringt. Cola kann das Gesicht im verdämmernden Licht nicht erkennen. Der Gestalt und dem Gang nach muss es ein alter Mann sein. Er schleift das rechte Bein ein wenig nach, die Schultern krümmen sich nach vorn.
Colas Frage, wo er sich befinde, bleibt unbeantwortet. Mühsam besinnt er sich auf ein paar böhmische Worte. Als er sich in Prag noch frei bewegen durfte, war er durch die Straßen gestreift und hatte mit den Händlern auf dem Markt und mit den Handwerkern auf der Burg zu sprechen versucht. Eine konsonantenreiche Sprache, bedächtig und schwerfällig wie die Menschen hier.
Der Wärter stellt schweigend die Suppe auf den Tisch. Erst an der Tür sagt er, und es klingt wie das Bellen eines Hundes: „Raudnitz“.
Cola ist wieder allein. Ruhelos geht er auf und ab, dreht und wendet das fremde Wort, spricht es laut aus, um hinter seinen Sinn zu kommen. Raud – nitz, so muss dieser Ort heißen. Raud – nitz, das klingt dunkel, hart und gnadenlos.
Das Licht in der Maueröffnung verlischt. Es ist September. Die Tage werden kürzer. Wenn in den Kirchen das Fest der Kreuzerhöhung gefeiert wird, hat er wieder in Rom sein wollen. Die Freunde werden vergeblich warten. Die Stadt wird weiter das Joch der Barone tragen, weil ein kleinmütiger, engherziger König nicht wagt, dem Willen des Papstes zuwiderzuhandeln, und ihn, Cola di Rienzo, einsperrt wie einen Verbrecher.
Ist Karl wirklich der Mann, der Europa das Heil bringen kann? Hat ihn je eine Idee begeistert, ein Traum ihn getragen, eine göttliche Berufung ihn geführt? Wo sind der Edelmut seines Großvaters Heinrich des Siebenten, das Draufgängertum seines Vaters Johann von Böhmen geblieben? Hat sich die Kraft der Luxemburger in diesen beiden verzehrt? List, Verschlagenheit und Berechnung ziemen dem Kaufmann, nicht einem König. Karl besitzt vielleicht die Klugheit des Politikers, aber nicht die Kühnheit des Denkers, welche die Welt verändert. Die Spinne in Avignon saugt ihm die Manneskraft aus den Adern.
Von dorther kommt alles Unglück. Seit fast einem halben Jahrhundert residieren die Päpste am Ufer der Rhone, während der Sitz Petri am Tiber verfällt. Beschränkte sich das Papsttum auf seinen geistlichen Auftrag und gäbe es, wie das Evangelium es gebietet, dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist, dann säße der Oberhirte der Christenheit noch im geheiligten Rom. Aber den Päpsten sind Geld und Macht wichtiger als das Seelenheil der Gläubigen. Die Gefangenschaft, in die sie die Kirche geführt haben, macht sie nicht einsichtiger. Ihr Anspruch auf die Universalgewalt stürzt Rom und die christliche Welt ins Verderben.
1302 hatte der letzte Papst in Rom, Bonifaz der Achte, verkündet, dass der römische Papst aus Notwendigkeit des Heils über jede menschliche Kreatur herrsche, ihm sei absolute Machtfülle über Könige und Königreiche gegeben. Er wies den französischen Klerus an, König Philipp keine Steuern mehr zu zahlen. Der selbstbewusste französische König zeigte Bonifaz alsbald die Grenzen päpstlicher Macht. Philipps Verbündete unter dem römischen Adel nahmen den Papst in seinem eigenen Palast nahe Roms gefangen. Als der widerspenstige Greis kurz darauf starb, erzwang Philipp, dass Kardinäle seiner Wahl zu Päpsten gekrönt wurden. Keiner von ihnen betrat jemals mehr italienischen Boden. Clemens der Fünfte, Johannes der Zweiundzwanzigste, Benedict der Zwölfte – alle waren sie Franzosen wie der jetzt regierende Papst Clemens der Sechste und willige Werkzeuge des französischen Königshauses. Aber noch immer verkündet man in Avignon, dass dem Papsttum die weltliche Macht ebenso zustehe wie die geistliche. Wer diesem Satz widerspricht, gilt als Ketzer.“
Tatsächlich: Je mehr man sich in diesen historischen Roman von Sigrid Grabner einliest, umso mehr zieht er ihn in seinen Bann und umso lebendiger werden die damaligen, von der Gegenwart weit entfernten Zeiten. Zugleich aber drängen sich der Leserin und dem Leser aufschlussreiche Parallelen auf: Gibt es nicht auch heute Leute, die zuerst das Volk hinter sich und dann gegen sich (auf)bringen? Und wie funktionieren eigentlich Demokratie, Populismus und Tyrannei? Wer die Geschichte nicht kennt, der sei dazu verdammt, sie zu wiederholen, sagte einmal ein berühmter Historiker. Auch insofern lohnt es sich, den „Traum von Rom“ zu Hand zu nehmen und in das Avignon, Prag und Rom des 14. Jahrhunderts zu reisen – zumindest im Geiste …
Viel Vergnügen beim derartigen Reisen und Lesen, weiter einen schönen Juni und einen möglichst vielversprechenden Sommeranfang, bleiben auch Sie weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.
Ach, und sind Sie eigentlich ein Wagner-Freund? Dann könnten Sie vielleicht zur Lektüre des Rienzo-Romans eine Schallplatte mit der Musik aus der Wagner-Oper „Renzi“ auflegen, für die der Komponist übrigens nicht nur die Musik lieferte, sondern wie bei ihm meist üblich auch das Libretto. „Relativ reibungslos“, wie es heißt, uraufgeführt worden war die wie ebenfalls bei Wagner üblich überlange Oper am 20. Oktober 1842 am Königlichen Hoftheater in Dresden – also fast 500 Jahre nach dem gewaltsamen Tode des tragischen Helden.
Schallplatten sind ja inzwischen wieder mächtig in Mode …
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