documenta fifteen: Sturheit, Ignoranz und Abwehr
Künstlerische oder kuratorische Positionen sind auch gesellschaftliche Positionierungen. Sie stehen für Haltungen und Werte, sie können Diskurse prägen. Wer für eine Ausstellung, eine Aufführung, das Verlegen eines Buches oder eines Musikwerks oder anderes verantwortlich zeichnet, muss die Verantwortung für die präsentierten Arbeiten und die damit intendierten Haltungen übernehmen und sich der Kritik stellen.
Aufgrund der Diskussion um antisemitische Werke bei der documenta fifteen wurde eigens ein fachwissenschaftliches Begleitgremium eingerichtet, „um als antisemitisch identifizierte bzw. diskutierte Werke zu analysieren, den Umgang der documenta fifteen mit antisemitischen Vorfällen zu untersuchen und Vorschläge zu entwickeln, wie ähnliche Vorgänge zu verhindern sind.“
Aktuell haben sich Mitglieder des Gremiums zur fachwissenschaftlichen Begleitung der documenta fifteen zu Wort gemeldet. Sie gehen in ihrer Stellungnahme auf drei Ebenen ein: die der ausgestellten Werke, Filme und Archivmaterialien, die der künstlerischen Leitung und die der Organisation der documenta ein. Diese erste Stellungnahme aus dem fachwissenschaftlichen Begleitgremium stellt der documenta fifteen ein verheerendes Zeugnis aus.
Mit Blick auf die Werkebene wird insbesondere das „Tokyo Reels Film Festival“ in den Blick genommen. Das Kollektiv „Subversive Film“ hat pro-palästinensische Propagandafilme aus den 1960er-1980er Jahren zusammengestellt. Das fachwissenschaftliche Begleitgremium kommt zu dem Schluss: „Hoch problematisch an diesem Werk sind nicht nur die mit antisemitischen und antizionistischen Versatzstücken versehenen Filmdokumente, sondern die zwischen den Filmen eingefügten Kommentare der Künstler:innen, in denen sie den Israelhass und die Glorifizierung von Terrorismus des Quellmaterials durch ihre unkritische Diskussion legitimieren. Das historische Propagandamaterial wird nicht – wie es ohne Zweifel geboten wäre – kritisch reflektiert, sondern als vermeintlich objektiver Tatsachenbericht affirmiert. Dadurch stellen die Filme in ihrer potentiell aufhetzenden Wirkung eine größere Gefahr dar als das bereits entfernte Werk „People’s Justice“.“ Zumindest eine Kontextualisierung der Filme wird dringend angemahnt.
Hinsichtlich der Ebene der künstlerischen Leitung wird in der Stellungnahme ausgeführt, dass die einseitigen Positionen zum arabisch-israelischen Konflikt das Ergebnis des kuratorischen Konzepts ist, welches auf Kontrolle über die Zusammenstellung der Ausstellung verzichtet hat. In der Stellungnahme heißt es: „Der Eindruck einer kuratorischen Unausgewogenheit wird dadurch verstärkt, dass in der Ausstellung weder Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus und der Shoah und ihren Folgen noch jüdischen Perspektiven auf den Nahostkonflikt Raum gegeben wird und die künstlerische Leitung mit der Kuratierung immer auch ein eigenes politisches Projekt verbunden hat. Ebenfalls problematisch erscheint uns die fehlende Auseinandersetzung der künstlerischen Leitung mit den antisemitischen Vorfällen, deren Kritik als „Zensur“ diskreditiert wird.“
Mit Blick auf die Organisation der documenta fifteen wird in der Stellungnahme festgehalten: „dass die Verfahrensabläufe und Kommunikation in Reaktion auf die Diskussionen unzureichend bis kontraproduktiv gestaltet sind. Für den Umgang mit problematischen Werken scheint die documenta kein Verfahren vorzuhalten, das über die Prüfung der Strafbarkeit eines Exponats hinausgeht. Die Organisation der documenta scheint nicht darauf eingestellt zu sein, im Falle interner oder öffentlicher Kritik an dem Projekt oder der künstlerischen Leitung zu vermitteln.“
Abschließend kommen nach der Betrachtung der genannten drei Ebenen die Unterzeichner der Stellungnahme zu dem Schluss: „Nimmt man diese drei Ebenen zusammen, wird deutlich, dass die gravierenden Probleme der documenta fifteen nicht nur in der Präsentation vereinzelter Werke mit antisemitischer Bildsprache und antisemitischen Aussagen bestehen, sondern auch in einem kuratorischen und organisationsstrukturellen Umfeld, das eine antizionistische, antisemitische und israelfeindliche Stimmung zugelassen hat.“
Mit Blick auf die Werke „Tokyo Reels“ schließen sich die Gesellschafter der documenta fifteen, also das Land Hessen und die Stadt Kassel, dem „Votum der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an, wonach die Tokyo Reels des Kollektivs Subversive Films nicht mehr gezeigt werden sollen, mindestens bis eine angemessene Kontextualisierung vorgenommen wurde. Die aktuelle Kommentierung der Filme ist dazu nicht geeignet, da sie die teils antisemitischen und terroristische Gewalt verherrlichenden Propagandafilme gerade nicht historisch einordnet.“
Die Reaktion von Seiten der künstlerisch Verantwortlichen, des Kollektivs ruangrupa, ist der Vorwurf des Rassismus gegenüber dem Fachwissenschaftlichen Begleitgremium.
Der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann, sagte: „In zwölf Tagen endet die documenta und fast muss man sagen, endlich. Ich hätte mir nach den monatelangen Debatten nicht träumen lassen, dass auch weiterhin mit solcher Sturheit, Ignoranz und Abwehr auf die Diskussion um antisemitische und israelfeindliche Werke reagiert wird. Ein Kuratorenteam, das mit dem Anspruch auf Dialog antritt, muss sich daran messen lassen, ob es zum Dialog tatsächlich bereit und fähig ist. Wenn die documenta fifteen in zwölf Tagen ihre Tore schließt, darf die Diskussion nicht enden. Der Kultursektor wird die Frage beantworten müssen, wie künftig unter konsequenter Wahrung der Kunstfreiheit vermieden werden kann, dass sich eine Ausstellung wie die documenta fifteen mit antisemitischen, antizionistischen und israelfeindlichen Exponaten wiederholt.“ Zum Weiterlesen:
- Die aktuelle Ausgabe von Politik & Kultur, der Zeitung des Deutschen Kulturrates, widmet ihren Schwerpunkt dem Fall documenta fifteen. Hier kann der Schwerpunkt gelesen werden.
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