Eine Chance für Anja, zwei Jahre Beurlaubung vom Schuldienst sowie Phantastik von 1968 – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
Um ihren Lebenstraum, um ihre Selbstbestätigung und um ihre Liebe zu ihrem Mann geht es einer jungen Frau in „Laternentraum“ von Hildegard und Siegfried Schumacher.
Sechs Wissenschaftlich-Fantastische Erzählungen aus dem Jahre 1968 sind in „Krakentang“ von Carlos Rasch wiederzuentdecken.
Märchen aus Pinnow und aus Godern präsentiert „Die Burg im See“ von Hans Stamer.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Heute geht es wieder einmal um die dreckigen Gesichter von Ausländerfeindlichkeit und Rassismus. Wie sehen sie aus? Was hat sich seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts verändert? Wie sehen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus heute aus? Was sind die Ursachen? Und vor allem wie kann man sich dagegen wehren – gründlich und grundsätzlich?
Erstmals 1998 erschien im Arena Verlag Würzburg „Big City Rap“ von Maria Seidemann: An diesem Nachmittag beschlossen wir eine Band zu gründen, Simon und ich. Natürlich kam nur HipHop in Frage, was sonst.
Simon dachte sich die Rhymes aus, er konnte besser rappen als ich, jedenfalls am Anfang, und er machte perfekt Beat Box. Ich war fürs Mixen zuständig und für die Scratches.
Tame Birds sollte unsere Band heißen. Denn Tame Birds hieß der Song, den Simon gemacht hat, bevor er das erste Mal bei unserer Gang auftauchte.
Zahme Vögel singen von der Freiheit. Wilde Vögel fliegen.
Ein vielschichtiger und authentisch erzählter Roman, in dem es um Musik, Freundschaft, Nächstenliebe, Verantwortung und den Wunsch nach Freiheit geht. Und ein Junge, der nicht versetzt werden soll, erlebt die wahrscheinlich aufregendsten Ferien seines Lebens. Zunächst aber hat er noch etwas zu erklären – vor allem seiner Mom:
„1. Kapitel
Wir haben unsere Zeugnisse eingesteckt und sind nach Hause gegangen, Silly und ich. Unterwegs haben wir kein Wort geredet. Gab sowieso nichts zu sagen. Freitag, vierter Juli. Unabhängigkeitstag – haahaa. Abhängigkeitstag hätte besser gepasst. Der Fahrstuhl war wieder mal kaputt. Wir stiegen die acht Stockwerke hoch. Oben holten wir unsere Schlüssel raus. Jeder schloss seine Türe auf. Silly rechts und ich links.
Mom war noch nicht da. War heiß in der Wohnung. Auf dem Tisch stand ein Kuchen. Der war für mich, sah ich sofort, weil er mit lauter Schokolinsen bestreut war. Mindestens hundert Schokolinsen. Neben dem Kuchen lehnte das kleine Nebel-Bild, das Mom vorige Woche gemalt hatte. Ich hatte ihr gesagt, dass es mir gefiel, und jetzt stand es hier auf dem Tisch, für mich, zum Abschluss der Neunten. Ich schluckte, meine Kehle war trocken. Auf dem Zettel stand: Herzlichen Glückwunsch, Abel! Den Rest schaffen wir auch noch. Und unter dem Zettel lag ein Geldschein für die Party in der Glasfabrik. Das Bild roch nach frischem Firnis, der Kuchen roch nach warmer Schokolade. Mir wurde schlecht.
Ich machte alle Fenster auf und ging unter die Dusche. Danach war mir besser.
Ich trug das Bild in mein Zimmer und stellte es auf mein Regal. Lange starrte ich auf die verschwimmenden Farbflächen, ohne etwas zu sehen. Ich erinnerte mich an den Nachmittag, als das Bild fettig geworden war. Damals fragte mich Mom, wie ich es nennen würde. Ich überlegte, und dann sagte ich: „Klee vertreibt den Nebel.“
Ich dachte, Mom würde mich auslachen oder irgendeine Erklärung verlangen. Aber sie nahm den dünnsten Rundpinsel und schrieb mit winziger Spinnenschrift dicht über den unteren Bildrand: Klee vertreibt den Nebel. Das war ein besonderer Augenblick. Einer von denen, wo ich mich mit meiner Mom ohne ein einziges Wort total verstehe. Als wir so standen und schwiegen und das Bild anschauten, kam Gernot. Er wollte wissen, was das werden sollte, auf dem Bild. Er tut immer so, als ob ihn Moms Bilder interessieren. Vielleicht interessieren sie ihn ja wirklich, was weiß ich.
„Gerri! Das Bild ist doch fertig!“, sagte Mom und lachte. Gernot guckte von einem zum anderen und fragte, ob wir ihn vielleicht verschaukeln wollten. Dann entzifferte er den Titel.
„Ich sehe auf dem ganzen Bild kein bisschen Klee, und neblig ist es da auch nicht“, sagte er.
„Klee war ein Maler, Mann!“, stöhnte ich. Und vorsichtshalber erklärte ich ihm auch, dass Paul Klee schon lange tot ist. „Das Bild heißt so, weil man sich an ihn erinnert, wenn man das Bild sieht. Und dass irgendwie Klarheit herrscht.“
„Irgendwie Klarheit, klar!“ Gernot grinste. „Ich warte ja immer noch darauf, Suse, dass du ein einziges Mal etwas malst, was ein einfacher arbeitender Mensch wie ich verstehen kann.“
Suse, so heißt meine Mom. Susanne Abel. Der Name passt zu ihr. Damals hatte sie noch die langen Haare. Rotblond und wellig, bis über die Schultern.
Sie sollte nicht nur Linien und bunte Kleckse malen, meinte Gernot, sondern irgendwas, was so aussieht wie die Wirklichkeit. Dann würde sie vielleicht als Künstlerin berühmt und müsste nicht mehr Kulissen pinseln.
Na ja, Gernot hat keine Ahnung. Dafür kann er nichts. Ist eben ein Bulle, und Bullen verstehen nichts von Bildern. Ich konnte mir einfach nicht erklären, was Mom an ihm fand. Ich dachte, sie braucht ihn, um sich zu trösten. Weil sie nicht allein sein wollte, nur mit mir. Aber sie hätte sich ’n besseren Typen raussuchen können. So wie sie aussieht, und wie sie denkt und redet. Sie ist ’ne Superfrau. Ausgerechnet einen von der Polizei, ’n Spießer mit Bausparvertrag und Kegelabend. Ätzend. Gernot ist vierzig, fast so alt wie Sillys Vater. Und Sillys Eltern haben gegen Mom schon immer wie ’n Rentnerehepaar gewirkt.
Als ich an Silly dachte, fiel mir die Schule wieder ein. Und natürlich das Zeugnis. Das war so ein Tag, an dem nicht mal Klee den Nebel vertreiben konnte, ehrlich. Ich ging auf meinen Balkon und stützte mich auf die Brüstung. Als wir vor zwei Jahren in die größere Wohnung gezogen waren, hatte ich das Balkonzimmer bekommen. Fand ich echt Klasse. Bei allen anderen Familien, die ich kannte, war das Kinderzimmer das kleinste. Auch Konrads hatten Silly den mickrigsten Raum gegeben. Bei uns war das kleine Zimmer neben der Küche das Malzimmer, das Atelier. Dort war genau das Licht, das Mom zum Arbeiten braucht.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:
Erstmals 1988 veröffentlichten Hildegard und Siegfried Schumacher im Verlag Neues Leben Berlin „Laternentraum“: Auf der Insel fing es an, oder begann es während der großen Reise? Anja und Kay schmieden Päne für eine gemeinsame Zukunft. Aber können Laternenträume stärker als der Alltag sein? Es scheint schon etwas zu kriseln:
„1. Kapitel
Anja empfand es wohltuend, dass im Bus nach Freienbruch noch ein paar Plätze frei waren. Sie fühlte sich abgespannt und zerschlagen wie nach einer schweren körperlichen Anstrengung. Dabei kam sie nur von einer Sitzung. Mit dem Freundschaftsrat hatte sie das Schuljahr ausgewertet und die ersten Pläne für das neue überdacht.
Ich hätte nicht schweigen dürfen, warf sich Anja vor, ich habe versagt. Sie sah sie vor sich, sah die Gesichter von Jens und Uta, von Ronald, Vera, Karin, von allen, die um den großen Tisch gesessen hatten. Wieder hörte sie Jens sagen, du kannst dich auf uns verlassen, mit dir schaffen wir das, und sie hörte sich antworten, klar, warum nicht, das ist zu schaffen, und die vielen Worte, die sie verbraucht hatte, Worte zwischen Wahrheit und Lüge, bei denen sie das Ich vermieden hatte. So konnte sie noch immer abspringen. Jedes Mal, wenn sie sich zur Wahrheit entschlossen hatte, verließ sie wieder der Mut.
War es denn so schwer zu sagen, hört her, Leute, im nächsten Jahr bin ich nicht mehr eure Pionierleiterin. Ihr müsst das verstehen. Ich habe die Chance, in Freienbruch als Unterstufenlehrerin zu arbeiten. Jetzt habe ich diese Chance. Kein weiteres Wort wäre nötig gewesen. Vielleicht hätte Ronald in seiner bedächtigen Art genickt. Wenn sie es auch alle verstanden hätten, enttäuscht wären sie doch gewesen. Daran hätte Ronalds Nicken nichts ändern können.
Anja erinnerte sich genau, damals, als sie in der Falkensteiner Schule anfing, hatte sie sich vorgenommen, ihre Pioniere nie zu enttäuschen. Und wenn ich es gesagt hätte? Anja kannte ihren Freundschaftsrat gut genug, um sich die Reaktion vorzustellen. Kein Ausweichen zulassend, doch leise, wie es seine Art war, hätte Ronald gefragt, warum hast du uns das nicht früher gesagt. Kein Laut sonst wäre zu hören gewesen. In solch einer Stille können leise Fragen laut, sehr laut werden. Und dann Uta mit ihren großen dunklen Augen. Wie sollte man unter solch einem Blick eingestehen, dass man im nächsten Jahr nicht mehr dabei wäre.
„Ich habe mich gedrückt“, hörte Anja sich sagen, und es kam ihr vor, als stünde sie neben sich, als wäre nicht sie es, die gesprochen hatte.
„Wie bitte?“, fragte der Mann neben ihr, der im „Sportecho“ las.
So beiläufig die Frage war, riss sie Anja in die unmittelbare Gegenwart hinein. Sie nahm nun alles überdeutlich wahr: den Mann, der wieder hinter seiner Zeitung verschwunden war, die abgegriffene Oberkante der Rückenlehne vor ihr, das Stimmengemurmel über dem Motorengeräusch und die verbrauchte Luft.
Der Bus bremste. Haltestelle Papierfabrik. Leute stiegen ein. Es waren so viele, dass der Bus zu bersten schien. Der Mann schaute noch intensiver in sein „Sportecho“. Wer nichts wahrnahm, brauchte nicht zu reagieren. Auch nicht auf die beiden Arbeiterinnen, die herangedrängt wurden und sich an den Haltegriff der Sitzbank klammerten. Anja war sonst immer aufgestanden. Sie kannte die Frauen seit Langem, so, wie man sich kennt, .wenn man oft den gleichen Bus benutzt. Die Mühe des Tages war ihnen vom Gesicht abzulesen. Anja fand nicht die Kraft aufzustehen. Ihr wurde heiß auf ihrem Sitzplatz. Sie hatte keine Zeitung, um sich dahinter zu verstecken, nicht einmal eine Sonnenbrille, deren dunkles Glas vor jedem Blick schützt. Auch vor Utas Augen. Ja, könnte man sich seine Probleme abschütteln, wie sich ein Hund das Wasser aus dem Fell schüttelt, dann störte weder Utas Blick noch Ronalds Frage, dann würde man leicht solch einen Satz hinsagen, ich höre auf. Oder man sagt gar nichts und bleibt einfach weg. Sie aber hatte sich vorgenommen, ihre Leute nie zu enttäuschen. Nie!
Und Kay? Konnte sie Kay enttäuschen? Für Anja war es selbstverständlich, Mann und Frau gehören zusammen. Wo du hingehst, will auch ich hingehen, wo du bleibst, da will auch ich bleiben. In guten wie in schlechten Tagen. Meine Sorgen sind deine Sorgen. Alte Sätze waren das. Sie hörten sich so einfach an, so klar.
Wieder hielt der Bus. Viele Leute stiegen aus, auch die beiden Arbeiterinnen. Ein frischer Luftzug wehte durch die Tür. Bei der nächsten Haltestelle musste Anja hinaus, Milch und Brot kaufen und den Jungen aus der Krippe abholen. Ihr kleiner Jan. Der Gedanke an ihn war wie ein Atemholen. Oder war es nur das Wasser–aus–dem–Fell–Schütteln?
Das Leben mit Kay und ihre Arbeit in der Falkensteiner Schule hatten nichts miteinander zu tun, aber die Zeit hatte ihr beides gleich wichtig gemacht. Oder machte sie sich etwas vor? Wenn sie Falkenstein aufgab, konnte sie trotzdem als Lehrerin weiter mit Kindern arbeiten, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Es gab dann nicht länger das Hin und Her zwischen Wohn– und Arbeitsort. Sie hatte nur eine einzige Klasse. Fast den ganzen Vormittag war sie mit ihren Schülern zusammen und konnte sich ihnen weit mehr zuwenden als eine Pionierleiterin den Kindern einer ganzen Schule. Halt! Das waren Kays Argumente. Schon einmal hatte sie sich von seinen Argumenten überzeugen lassen. Als Jan da war, hatte Kay sie überredet, ihren Studienplatz in Berlin nicht anzutreten. Der Kleine in einem Studentenwohnheim, die Unruhe, ob sie das verantworten könne. Kay hatte sie zuerst auf ein Jahr später programmiert und ihr bald die Anstellung als Pionierleiter in Falkenstein besorgt. Das Glück war damals vollkommen und die Liebe so neu und schön, und ihr Sohn brauchte sie, der hilflose kleine Sohn. Also hatte sie nachgegeben. Sollte sie wieder nachgeben?“
Erstmals 1974 erschien im Mitteldeutschen Verlag, Halle und im Damnitz Verlag München der Roman „Triptychon mit sieben Brücken“ von Max Walter Schulz: Der Roman „Wir sind nicht Staub im Wind“ von Max Walter Schulz, erstmals 1962 erschienen, wurde zu einem der erfolgreichsten Bücher in der DDR.
In diesem folgenden, in sich abgeschlossenen Buch führt der Autor die Gestalten, die mit einem „Unmaß an Hoffnung“ aus der Handlung entlassen wurden, in den dramatischen Augusttagen des Jahres 1968 wieder zusammen. Jetzt gilt es zu überprüfen, ob jene „unverlorene Generation“ den Weg in ein erfülltes menschliches Dasein gefunden hat, ob sie die inzwischen errungene Einheit von Macht und Geist im Sinne des Menschen zu gebrauchen weiß. Dabei hat die Entscheidung zu fallen, ob die Angst der früheren Welt überwunden und praktische Verantwortung aus inzwischen gewonnener Erkenntnis gewachsen ist. Mit einer ungewöhnlichen Episodenfülle, die der Autor ausbreitet, um seine nur wenige Tage umfassende Fabel poetisch umzusetzen, ist eine außerordentlich dichte Romanstruktur entstanden, die bis zur letzten Szenerie, einem Triptychon mit sieben Brücken, Charaktere und Handlungsabläufe zusammenhält. Halten Sie sich fest! Es erwartet Sie eine packende Handlung:
„Und doch habe ich nie einen Menschen getroffen, der wiederum so weise gewesen wäre, dass er nicht trotzdem gern erfahren hätte, wohin diese Geschichte steuert und welche guten Lehren sie darbietet. Nun, sie wird sich nie scheuen, sowohl zu fliehen, wie zu jagen, zu entweichen und zurückzukehren, zu schmähen und zu ehren. Wer mit allen diesen ‚Chancen‘ umzugehen versteht, der allein ist ein rechter und kluger Mann. Der versitzt sich nicht und vergeht sich nicht, sondern er erkennt seinen rechten Platz. Die Gesinnung, die sich in der Gemeinschaft falsch ausrichtet, ist reif für das Höllenfeuer und wie ein Hagelschlag für die rechte Würde des Menschen. Ihre Treue hat einen so kurzen Schwanz, dass sie schon den dritten Stich nicht abzuwehren vermag, wenn sie in den einsamen Wald läuft und von Bremsen überfallen wird.“
Aus dem Parzival
Prolog in der Morgenstunde
Außer Johna nichts Unerwartetes
Sie ist davon wach geworden. Zwischen Tau und Tag, als es in der Ferne einsetzte und vorerst nur schwach und unbestimmbar zu hören war, ist sie schon davon wach geworden. Für eine Weile hat sie geglaubt, ein Volk von Mühlenderleins Bienen hätte sich in absurder Verspätung zum Schwärmen aufgemacht und hätte sich irgendwo in der Nähe draußen vor den offenen Fenstern der Loggia niedergelassen. Als es aber immer näher kam und als es bestimmbar wurde und als es in immer neuer Woge andrang, wenn die vorherige verebbte, da wusste sie, was dieses Dröhnen in der Luft bedeutete. Da hat sie nach seiner Hand getastet und ihn gerufen. „Rux!“ hat sie ihn gerufen. Nicht laut, aber gerade so scharf, als ob er dieses Widersinnige herbeibeschworen hätte. Er und kein anderer. Er ist gleich wach geworden und wäre auch gleich auf den Beinen gewesen, den feuchtkalten Umschlag zu bereiten, der ihr bei solcher Schwüle noch immer am besten hilft gegen das Klemmen und Jagen des Herzens. Sie lässt ihn aber nicht aufstehen. Sie hält ihn unwillig bei der Hand zurück. Ob er’s denn nicht höre! Da hört er’s auch. Erst jetzt hört er es auch. Und begreift sofort, was es ist. Begreift es in der Geschwindigkeit, in der eine Erleuchtung begreifen macht. Und hat die Möglichkeit einer solchen Lösung noch gestern Abend vor ihr bestritten. Sanft nachdrücklich, als spräche er zu einem Kind, hat er es gestern Abend noch vor ihr bestritten. Nun nimmt sich das Unmögliche von gestern Abend dröhnend zurück. In den Lärm schwerer Motoren mischt sich das Rasseln und Scheppern von Raupenketten auf gepflasterter Straße. Das hört man deutlich bis hier herauf nach Siebenhäuser. Die Straße, die unweit des Dorfes, tiefer gelegen, zwischen den Höhen über die Grenze führt, ist eine Pflasterstraße.
Der Morgen ist angebrochen. Der sanften Nachtigall ist alles vergangen. – Nichts hat sie gesagt. Nur keine Worte machen, die sich bilden wie Blasen über unsicherem Grund. Schon „Rux“ war da zuviel gesagt. Da gehören Steine darüber geschüttet, eine ganze Last. Das wird sie wohl auch tun müssen. Er schweigt. Er stemmt die Fingerknöchel der geschlossenen Faust in die Kerbe der Nasenwurzel. So denkt er, wenn es ihn anstrengt, zu denken. Ihm geht das Bild vom Gordischen Knoten durch den Kopf. Bilder liegen seinem Denken manchmal doch am nächsten, werfen sich in Worte wie in alte Kleider. Erscheinen, bewegen sich, geben Sinn, geben keinen. Darüber muss der Denkende entscheiden. Wer den Riemenknoten zwischen Deichsel und Joch des Wagens zu lösen vermochte, dem war das Königreich ge- weissagt. Alexander zerhieb den Knoten mit dem Schwert. Alexander der Große… Er lässt das Bild ein altes Bild sein. Er entscheidet sich dagegen. Es ist ihm zu klein. Es deckt sich ihm nicht mit dem Sinn des unerhörten Ereignisses. Nicht doch, denkt er, nur nicht mehr diesen penetranten Einmannsgeruch dieser alten Bilder. Was jetzt zu sagen ist, denkt er, muss aufs Ganze zutreffen. Er sieht seine Frau an. Er sagt zu ihr:
„Es ist das Notwendige, Johna. Ich denke, jetzt können wir wieder aufatmen.“
„Ja“, sagt sie, „mir schnürt es die Kehle zu.“
Aber sie haben Zutreffendes miteinander gesprochen. Jeder hat das Seine gesagt. So ist wenigstens Helligkeit aufgebrochen. Zunächst fällt sie als Zwielicht in die Szene. Das leuchtet und blendet gleichermaßen. Doch so geht es zunächst einmal ganz natürlich zu. Zunächst einmal. Auf die Dauer, das ist ihnen bewusst, lässt sich in der bloßen Natürlichkeit des Zwielichts nichts Genaues, Zutreffendes erkennen. Weder im Leben noch in der Liebe, noch in der Wissenschaft, noch nicht einmal in der Kunst. Immerzu blinzeln oder glotzen oder durch die Finger sehen, beschädigt als Gewohnheit bekanntlich die Charaktere. Denn es verursacht das Zwinkern. Was sie und ihn angeht, die beiden Leute, die da früh beizeiten hellwach geworden sind: zugezwinkert haben sie sich nicht.
Und was sie gesagt haben, ist auch nicht der Überraschung geschuldet. Sie hat außer Johna von ihm nichts anderes erwartet. Und er trotz dieses Wortes, das ihnen beiden mehr als bloße Zärtlichkeit bedeutet, auch nichts anderes von ihr. Für den Augenblick ist von ihr nichts anderes zu erwarten gewesen. Damit wird auch ausgetan, dass sie beide dem unerhörten Ereignis des Tages nicht völlig unvorbereitet gegenüberstehen. In den letzten Wochen, als sich entgegen den Erwartungen der voraufgegangenen gemeinsamen Erklärungen die Lage in Prag immer mehr verwirrte, als sich in- und ausländische Liquidatoren mit behördlicher Genehmigung schon stabsmäßig in der Stadt einrichteten, da hat er, da hat auch sie begonnen, mit der Möglichkeit, die nun Tatsache geworden ist, als mit der Ultima Ratio zu spielen. Er vertrat in diesem Gedankenspiel die Theorie und das Prinzip, sie ihre Weltempfindung. Zurzeit ist sie sehr weltempfindlich. Miteinander darüber gesprochen haben sie aber nicht. Er fürchtete ihre erregte Fantasie, sie fürchtete die zu erwartende, ihrem Empfinden hart zuwiderlaufende Konsequenz. Und wenn sie stattdessen seine sanft täuschende Nachsichtigkeit in Kauf nahm, so geriet sie nichtsdestoweniger dabei mit ihm und mit sich selbst ins Arge. Die Unfairness der Nachsichtigkeit geht zu ihren Lasten. Denn sie hat sie geduldet. Dabei hätte sie ihm helfen können, ihrem Theoretiker, ganz praktisch durch ihren Widerspruch. Er weiß doch, dass ihr Widerspruch zu jenem Ganzen strebt, zu dem er auch unterwegs ist. Wenn er das nicht wüsste! Und sie, hat sie denn nicht bemerkt, dass er im letzten Monat mit der Arbeit am aktuellen Teil seines Forschungsthemas nicht mehr weitergekommen, dass er noch einmal zurückgegangen ist auf die historischen Traditionen? Er schreibt in einem Kollektiv über Macht und Geist der herrschenden Arbeiterklasse. Die Mitarbeit bedeutet eine Auszeichnung für ihn, bedeutet auch für zwei Jahre keine regelmäßigen Lehrverpflichtungen, bedeutet zum anderen, dass er zu Hause arbeiten, sich um die täglichen Dinge kümmern und für sie da sein konnte während ihrer sicherlich langwierigen Genesung. Hatte sie ihm denn nicht versprochen, seine Arbeit aufmerksam zu verfolgen, die Kapitel mit ihm zu diskutieren, zu entwerfen, ihm zu helfen nach ihren Kräften? Es geht ihr nicht gut.
Es geht ihr aber schon wieder besser. Besser, als nach dem Grad der Ermattung der Herzkranzgefäße zu erwarten gewesen wäre. Sie spürt tatsächlich, dass es ihr besser geht, als zu erwarten gewesen wäre. Und trotzdem ist eine nachhaltige Unsicherheit über sie gekommen, wo stabile Hoffnung das Folgerichtige gewesen wäre. Füßlers unerwarteter Tod in der vorigen Woche hat das Seine noch dazu beigetragen. Die Ursache sitzt tiefer. Wie von ungefähr – oder weil es ihr tatsächlich besser geht als erwartet – fiel es ihr bei, an den Motiven ihrer zweijährigen Beurlaubung vom Schuldienst zu zweifeln. Ein halbes Jahr wäre die übliche Rekonvaleszenz gewesen. Ihr hat man zwei Jahre empfohlen, eingeredet nachgerade! „Spann mal ordentlich aus. Nimm dir Zeit, viel Zeit. Komm doch mal zu dem, wozu du nie gekommen bist: Fertigst paar gute Übersetzungen an! Neue sowjetische Lyrik: poetisch, kämpferisch, klar in der optimistischen Aussage. Eine Schulausgabe. Die könnten wir wieder mal gebrauchen. Aber ein halbes Jahr wird gar nichts gemacht, nur ausgeruht. Und dann vorsichtig den Riemen auf die Orgel. Und wenn er nicht ’runterspringt, was wir ja alle hoffen, dann fängst du mit kleinen Tagesprogrammen an. Der Musenkuss soll ja ’ne Momentsache sein. Und wenn du wiederkommst – Ergebnis unterm Arm -, singt der Chor an der Pforte …“
So hat Redlich zu ihr gesprochen. Redlich, seit siebzehn Jahren unentwegt Direktor an verschiedenen Schulen nacheinander. Und er, ihr Mann, hat ihm beigepflichtet. Und Josef Sagan hat’s wahrscheinlich eingerührt. „Ums Geld braucht ihr euch doch keine Sorgen zu machen. Dein Mann verdient nicht schlecht. Und du hast deine VdN-Rente immer noch nebenbei …“ Nur Hladek schrieb damals vor einem Jahr: „Mir scheint’s zu lange, gleich zwei Jahre. Je länger du aussteigst, um so schwerer wird es dir fallen, wieder einzusteigen. Wenn es sein muss, dann steige lieber ganz aus und erobere dir was Neues, wenn du dich wieder so wohlfühlst. Flieg nicht auf die Art von Eitelkeit herein, du wärst unersetzbar. Da tätest du mit dem abenteuern, was wir schon fest und gewiss haben: Arbeit und Nachwuchs. Aber du musst dich selber entscheiden. Entscheidung kann dir überhaupt keiner abnehmen. Das weißt du doch, Töchterchen …“ Aber da hat es noch ein anderes Gespräch mit Redlich gegeben, ein Vierteljahr zuvor etwa. Es fand nach jener Zensurenkonferenz statt, in der sie durchsetzen wollte, dass der Beate Schellhammer ins Abgangszeugnis geschrieben würde, sie habe eine Neigung zu intellektualistischem und asozialem Verhalten bisher nicht entschieden genug bekämpft. Damit hatte sie im Kollegium eine scharf geteilte Meinung hervorgerufen. Redlich war gar nicht damit einverstanden gewesen. Er hatte mit dem Vertrauen in unsere jungen Menschen argumentiert und immer wieder mit dem Vertrauen und besonders in unsere Arbeiter- und Bauernkinder und hatte sie, seine Kollegin, sogar gerügt, dass sie nach jugendlichen Flapsigkeiten zu schießen gedenke wie mit der Kanone nach Sperlingen. Danach stand sie mit ihrer Meinung allein da. Redlich war es nicht geheuer, dass sie mit ihrer Meinung plötzlich allein dastand und darauf beharrte.“
Erstmals 1968 veröffentlichte Carlos Rasch als Band 81 der Reihe „Spannend erzählt“ im Verlag Neues Leben Berlin „Krakentang. Wissenschaftlich-fantastische Erzählungen“: Hunderte Meter unter das Packkeis am Polarkreis, zehntausend Meter hoch in den Jet-Sturm über dem Atlantik, auf die Mondoberfläche und weit über unser Sonnensystem hinaus in die Galaxis führt uns der Autor in diesen wissenschaftlich-fantastischen Erzählungen. Der Kampf Marlies van Treddenkamps gegen die fehlmodulierten Mortis-Polypen, der Rekordflug Kuba-Bagdad mit einem Unterschallflugzeug, das im Jet-Orkan im Überschall fliegt, und die Aufklärung einer unterseeischen Katastrophe sind sicher Probleme der nächsten Jahrzehnte: Was hier an fantastischen Möglichkeiten geschildert wird, kann morgen schon Wirklichkeit sein. Mit dem „Untergang der ,Astronautic“, dem „Unirdischen Raumschiff“ und der „Mondstaubbarriere“ hat Carlos Rasch Raumfahrtthemen der ferneren Zukunft gestaltet. Bei aller Fantastik des Geschehens bleibt er auch hier den sich heute abzeichnenden Entwicklungslinien in Wissenschaft und Technik treu. Das E-Book entspricht der unveränderten Originalausgabe von 1968. Und wir sind gleich mittendrin in der Katastrophe:
„Krakentang
- Kapitel
Werner Wagenburg verzog ärgerlich sein Gesicht und schimpfte: „Verdammtes, ekelhaftes schwarzes Teufelspack!“
Mit einem Sprung war er am Bullauge, zog die lange Rutenantenne zu sich in die Funkkajüte zurück und schlug dann hastig das runde Fenster mit dem dicken Glas zu.
Fast wäre auch noch diese letzte Sendeantenne abgerissen worden. Draußen vor dem Bullauge pendelte ein langer geschmeidiger Arm hin und her; wenige Augenblicke später waren es schon vier und schließlich ein ganzes Bündel, die sich tastend wanden und bogen. Einer davon lag quer über dem Glas und presste es. Werner Wagenburg konnte deutlich die doppelte Reihe kleiner Saugtrichter an der Unterseite erkennen. „Brrr.“ Er schüttelte sich. Wollte das Biest das Bullauge eindrücken?
Der Funker überlegte, ob er das Bullauge erneut spaltbreit öffnen sollte, um den Kraken dort draußen mit dem heißen Lötkolben zu vertreiben, als der Ponton der Tangfarm unter einem Brecher erbebte und eine Spritzfontäne gegen seine Kajütenwand schäumte. Der Krake verschwand.
Bisher hatte Werner Wagenburg in seiner behäbigen Art die ganze Krakeninvasion immer noch als eine interessante, aber nicht sehr gefährliche Kuriosität angesehen. Er hoffte, dieser Spuk werde, wie schon in den Monaten zuvor, nach wenigen Stunden wieder verschwinden. Aber alle Anzeichen deuteten darauf hin, dass die Farm dieses Mal von dem Phänomen der Krakenwanderung schwerer als die vorangegangenen Male betroffen wurde.
Plötzlich schrillte das LF-Gerät.
Werner Wagenburg schnellte herum. Seine Sinne waren durch den Krakenüberfall so wach, dass ihn dieses unerwartete Läuten hinter seinem Rücken wie ein Peitschenhieb traf.
„Verdammt noch einmal. Mehr ruhig Blut, alter Junge“, redete er sich zu. „Ein Telefon ist noch lange kein Krakerich.“
Aus dem eingebauten Lautsprecher ertönte die Stimme Peter Skagens, des Ersten Offiziers: „Hallo, Werner! Wie steht’s bei dir? Hast du inzwischen eine Verbindung zum Festland herstellen können?“
„Nichts zu machen, Peter! Die schwarze Bande hat sämtliche Antennen demoliert, und ich wette, dass sie auch noch euer Radar klein bekommt. Vorhin habe ich so einen Krakerich auf dem Radarmast Karussell fahren sehen..
„Du hast eine gehörige Portion Humor. Hör auf, mich zu verkohlen. Die Lage ist viel zu ernst“, schimpfte der Erste Offizier. „Das Festland, Werner“, mahnte er. „Du musst eine Verbindung herstellen, egal, zu wem.“
„Ja doch, ja. Die Seefunkstelle auf Teneriffa und auch die auf den Bermudas rufen uns fortwährend. Der Empfang funktioniert, sogar ohne Antennen. Aber Senden, das ist augenblicklich fast unmöglich. Ich versuche es ja schon immerzu. Doch die Kraken erlauben es nicht. Sie passen höllisch auf. Noch nicht einmal ein anständiges SOS brächte ich heraus, wenn es notwendig wäre.“
„Bewahre uns der Himmel davor. Soweit wird es gar nicht erst kommen. – Höre! Du musst eine Antenne fit bekommen. Ich schicke dir einen zweiten Funker zur Hilfe und ein paar Matrosen zum Schutz.“
„Bist du verrückt? Ich werde wie eine Festung belagert. Zu mir kommt niemand durch. Die Biester sitzen schon vor meiner Tür.“
Der Cheffunker auf der Seefunkstelle Teneriffa drehte kopfschüttelnd drei Blatt Papier in seinen Händen hin und her.
„Was es doch alles so gibt“, murmelte er.
Die Meldungen waren innerhalb der letzten eineinhalb Stunden eingegangen. Die Texte stammten alle drei von dem deutschen Sargassofänger „Kelb 2“, der zur Zeit eintausendsechshundert Meilen weit entfernt auf See stand, sich also etwa über den unterseeischen Felsabhängen der Nordatlantischen Schwelle befand.
Das erste Blatt war ein für die Deutsche Farmreederei bestimmtes Funkfernschreiben, das mitten im Satz abbrach:
„Funkstation ,Kelb 2‘ – Sturm im Abflauen. Verarbeitung der Tangstränge des Kelb wegen zu großer Wellenhöhe vorläufig nicht möglich. Infolge Sturm keine Algeninseln und keine Tangstränge. Seit heute morgen wieder Krakentang. Etwa zwanzig Polypen auf Deck angeschwemmt. Ihr Verhalten ist harmlos, aber zunehmend unruhig. Farmleitung rechnet mit Zunahme der …“
„Trägerfrequenz erloschen“, lautete die Anmerkung des diensttuenden Fernschreibers, mit Rotstift eingetragen.
Das zweite Blatt war das Stenogramm einer Bandaufnahme, die etwas später in der Sprechfunkabteilung der Seefunkstelle gemacht worden war. Einer der Funker auf der „Kelb 2“ hatte offenbar unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse gesprochen, denn die Sätze hatten mehr den Charakter einer spontanen Schilderung als den eines offiziellen Berichtes:
„Hallo, Teneriffa! Hier ,Kelb 2‘, Station B. Verbindung stehen lassen. Dauerkontakt zum Mitschneiden. Bei uns tun sich nämlich merkwürdige Sachen.“
Dann, nach einer kurzen Pause, teilte er mit: „Eine zweite Gruppe von Kraken ist auf die Farm geschwemmt worden. Sie ist über den ersten Trupp hergefallen. Augenblicklich tobt eine richtige Krakenschlacht auf unseren Decks. Beide Seiten sind dabei erstaunlich intelligent. Die erste Gruppe hat sich zu den Aufbauten zurückgezogen und zur Verteidigung einen Halbkreis gebildet. Ich habe nicht gewusst, dass Kraken so raufsüchtig sind und mit solcher Wut aufeinanderlosgehen. Bisher waren die Biester immer ziemlich harmlos. Da, die erste Gruppe hat Verstärkung erhalten. Das sind die Treddenkampschen Gummikraken.
Hallo, Teneriffa! Wie versteht ihr mich?
Brecher über Brecher überspült die Farm. Also das ist doch die Höhe! Reißen schon wieder solche Biester an meinen Antennenkabeln. Die Kraken haben eine Vorliebe für die Technik, scheint mir. Wo sie das nur herhaben, einfach erstaunlich. Als wenn sie wüssten, wie man eine Funkstation lahmzulegen hat. Vorhin haben sie schon den Peilrahmen abgebrochen und das Kabel zur Fernschreibantenne zerrissen. Wenn sie jetzt auch noch die Sprechfunkverbindung unterbrechen, dann …“´
2014 gab die Gemeinde Pinnow „Die Burg im See. Märchen aus Pinnow und aus Godern“ mit Illustrationen von Ines Höfs heraus – und zwar sowohl als gedruckte Ausgabe wie auch als E-Book: Das Buch enthält 11 Märchen aus Pinnow und aus Godern, die sich Hans Stamer ausgedacht und seinen Kindern in der Nachkriegszeit an langen Winterabenden erzählt hat. Dazu noch zwei Adventsgedichte.
Sie spielten alle an Orten, die den Zuhörern bekannt waren, wie z.B. die Geschichte von dem Zwerg auf der Insel. Gemeint ist der Fischer- oder Burgwerder. Auf seinem baumbestandenen Hügel an der Nordseite der Insel wuchsen (und wachsen vielleicht immer noch?) auch die Äpfel, Birnen und Kirschen, die in der Geschichte eine Rolle spielen, tatsächlich, allerdings in ihrer winzigen, ziemlich bitteren und sehr sauren Wildform. In der Not nach dem Krieg wurden sie mit Fleiß geerntet und verspeist. Hunger treibt`s rein!
Die Geschichte von der Riesenburg ist ebenfalls dem Burgwerder gewidmet und nimmt Bezug auf die vielen Steine auf dem Seegrund ringsum und auf die Reste einer Brücke zwischen der Insel und dem Steinernen Tisch am gegenüberliegenden Ufer, an denen nur allzu häufig die Netze der Fischer hängen blieben und zerrissen. Die alten Sagen deuten an, und die jüngsten Ergebnisse archäologischer Forschungstaucher weisen nach, dass in uralten Zeiten wohl wirklich eine Brücke die Insel mit dem Ufer am späteren Steinernen Tisch verbunden hat. Die Pfahlreste, die die Taucher fanden, stammen zweifelsfrei aus slawischer Zeit. Dass der Sohn des Großherzogs, der den damaligen Gerüchten nach die Brücke für seine heimlichen Rendezvous auf dem lauschigen Eiland habe bauen lassen, erweist sich so als schöne Sage.
Die Jungfrau an der Quelle spielt an der „Tremünz“, der großen Quelle am Waldweg zwischen Godern und dem Steinernen Tisch, etwa auf Höhe von Burgwerder. Rings um den Pinnower See gibt es eine ganze Reihe von Quellen, die von den umgebenden mehr oder weniger hohen Hängen in den See rieseln. Da niemand etwas mit dem Namen verbinden konnte und bis heute nicht kann, hieß die Quelle bei allen eben einfach nur „die Quelle“ und jeder wusste, was gemeint war. Der Platz an dem lichten, sanft abfallenden Ufer zog besonders die Kinder des Dorfes an. Wann immer Zeit und Witterung es zuließen, ging es an „die Quelle“ zum Spielen. Hier wurden Sümpfe trockengelegt, Wasserfälle und Staudämme gebaut. Es gab Mühlen, Brücken und … nasse Füße. Es war herrlich, damals wie heute.
Sagen oder Anekdoten gibt es von dieser Stelle nicht. Das wollte dem Autor anscheinend nicht so recht gefallen. Und so erfand er kurzerhand dieses Märchen.
Die Anregung für das Märchen von der Schlüsselblumeninsel lieferte das fantastische Schlüsselblumenmeer auf der Insel Flakenwerder – auch Priesterwerder genannt, da sie zur Pinnower Pfarrgemeinde gehört -, das noch weit in die 1960er Jahre hinein im Frühsommer die Insel bedeckte. Inzwischen ist es, warum auch immer, verschwunden und nur hier und da erinnert ein vereinzeltes Primelchen an die einstige Pracht.
Ob die Entstehungsgeschichte des „modderigen“ Binnensees und des kleinen, inzwischen stark verlandeten Hilligen-Sees in den Kindern die Abneigung gegenüber dem einen und die Scheu vor dem anderen befestigte oder erst weckte, bleibt offen. Fest steht, dass beide nicht besonders beliebt waren und dem Vergleich mit der klaren Weite des Pinnower Sees nicht Stand hielten.
Die Vertrautheit (der Dorfjugend) mit den kleinen Unterirdischen aus dem Peters- oder Petermännchenberg wurde durch die Geschichten zumindest befestigt. Hier der Anfang eines aufschlussreichen Textes über den Schweriner Schlossgeist und wie er überhaupt dahin gekommen sein könnte:
„Wie das Petermännchen ins Schweriner Schloss kam
Im Hof des Schweriner Schlosses herrscht große Aufregung. Aufgezäumte Pferde tänzeln unruhig an der festen Hand der Pferdeknechte. Hunde kläffen, toll vor Erwartung. Der Herzog will zur Jagd. Soeben tritt er mit seinem Gefolge aus dem Schloss. Prächtig sieht er aus in seinem grünen Jagdrock, den hohen Stulpenstiefeln und dem großen Federhut auf dem Kopf. Er ist ein stolzer Mann und ein begeisterter Jäger. Leichtfüßig schwingt er sich auf sein Pferd. Die Pagen und Hofleute folgen seinem Beispiel. Und fort geht es, über den fest gestampften Lehmboden des Schlosshofes durch das Tor und dann linker Hand direkt am Seeufer entlang Richtung Süden. Ihr Ziel ist der große Forst, der sich auf der Ostseite des Schweriner Sees bis in die Nähe des kleinen Ackerbürgerstädtchens Crivitz hinzieht. Der Herzog jagt dort besonders gerne, denn es gibt in der Gegend gutes Wild.
Den ganzen Tag vergnügten sich die Reiter in den dichten Waldungen und machten reiche Beute. Dabei kamen sie auch in die Nähe des Petersberges am Pinnower See. Hier geschah es, dass der Herzog bei der Verfolgung eines besonders flinken Rehbockes den Kontakt zu seinem Gefolge verlor, immer tiefer in den Wald hineingeriet und fürchtete, sich verirrt zu haben. Da sah er plötzlich seitlich vor sich heftige Bewegungen. Vielleicht eine weitere Beute? Vorsichtig ritt er näher und entdeckte eine wild flatternde Krähe, die mit einem kleinen Männchen in grauem Arbeitskittel um eine rote Zipfelmütze kämpfte. ‚Einer von den Unterirdischen aus dem Berg!’, durchfuhr es den Herzog. Welch seltener Glücksfall! Der Herzog wusste, dass die Unterirdischen über viele wunderbare Kräfte verfügten, und es nicht ganz ungefährlich war, sich ihnen zu nähern, besonders, wenn sie eine böse Absicht befürchteten. Dieser hier war aber ganz und gar ungefährlich, jedenfalls solange er ohne seine Mütze war, die ihn unsichtbar machte und ohne die er nicht zurück in seinen Berg konnte. Andererseits sagte man ihnen auch Großherzigkeit und Hilfsbereitschaft nach. Sie galten als geschickte Schmuck- und Waffenschmiede und viele hielten sie ihres hohen Alters und ihres sagenhaften Ursprungs wegen für klug und sehr weise, nicht zuletzt der Herzog selbst. Und da kam ihm eine Idee.
Schon seit längerem suchte er für seinen siebenjährigen Sohn einen geeigneten Gefährten und Lehrmeister. War das hier nicht ein Wink des Schicksals? Einen besseren als diesen hier würde er kaum finden und eine so günstige Gelegenheit auch nicht wieder.
Mit einem kräftigen Peitschenhieb vertrieb er die Krähe, sprang vom Pferd, griff blitzschnell nach der Mütze und steckte sie in die Tasche, noch bevor der Kleine sie erwischen und wieder aufsetzen konnte, denn im selben Moment wäre er für den Herzog nicht mehr sichtbar und damit unerreichbar gewesen. Das Männchen flehte ihn an, er möge sie ihm doch wiedergeben. Ohne sie sei es verloren. Doch der Herzog rückte sie nicht heraus. „Ich gebe dir einen Beutel Gold“, bat der Kleine. Der Herzog schüttelte den Kopf. „Oder ein schönes Geschmeide für deine Gemahlin. Ich bin der beste Goldschmied in unserem Berg.“ Doch auch das war nicht im Sinne des Herzogs.
„Was willst du denn dann?“, rief der Kleine verzweifelt.
„Ich will dich“, sagte der Herzog. Der Zwerg wich erschrocken zurück. „Nicht für immer“, fuhr der Herzog besänftigend fort, „nur für ein Jahr. Ich möchte, dass du ein Jahr lang der Gefährte meines Sohnes wirst und ihn alles lehrst, was du weißt. Nach Ablauf des Jahres bekommst du deine Mütze zurück und kannst heimkehren in deinen Berg. Vorher nicht!“
Der Wicht senkte traurig den Kopf. „Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig“, murmelte er. „Ich bin einverstanden“. Da hob der Herzog ihn freudig vor sich auf das Pferd und ritt mit ihm eilig zurück nach Hause.
Zu Hause angekommen lief er mit seinem Fang auf dem Arm ins Schloss und rief nach Frau und Sohn. Seine Ungeduld wurde auf eine harte Probe gestellt, denn es dauerte eine Weile, bis die beiden erschienen. Die Großherzogin, eine sehr vornehme und schöne Dame, trat gemessenen Schrittes auf ihren Gatten zu und begrüßte ihn: „Du hättest wirklich einen Diener nach mir schicken sollen, mein Lieber“, meinte sie mit einem leisen Lächeln, das dem Tadel, der in ihren Worten lag, die Schärfe nahm. Das Ungestüme im Wesen ihres Mannes war Stein des Anstoßes und Basis ihrer Zuneigung zugleich. Seine schnelle Entschlusskraft war es ja unter anderem, was ihr an ihm so gefiel, auch wenn er dadurch häufiger gegen die Etikette verstieß.
Ihr Blick fiel auf den kleinen Unterirdischen. „Oh, wen hast du denn da mitgebracht?“ Von der anderen Seite kam nun auch die Kinderfrau mit dem Sohn an der Hand herbeigeeilt. Der Knabe wollte auf seinen Vater zustürzen, bremste aber, als er seine Mutter erblickte. Höflich begrüßte er den Herzog und betrachtete ebenfalls neugierig das Mitbringsel auf dem Arm des Vaters. „Schau mal“, sagte der und stellte den Kleinen, der knapp so groß war wie der Junge, auf die Erde. „Dieser würdige Herr wird ab heute dein Gefährte und Lehrmeister sein. Er wird dir alles beibringen, was er kann. Und du wirst ihm in allem gehorchen.“
Der Knabe wurde rot im Gesicht und wollte protestieren. Doch mit einer kurzen Geste schnitt der Herzog ihm jede Widerrede ab. „Versuche es erst“, meinte er dann freundlich. „Wenn ihr euch nicht vertragt, darfst du dich melden.“ Damit überließ er die beiden den Frauen und zog sich zurück
Der Kleine vom Petersberg wurde nun erst einmal standesgemäß eingekleidet mit farbenprächtigen Pluderhosen, einem Lederwams und einem blütenweißen, weitärmeligen Hemd. Für festliche Anlässe bekam er noch eine weiße, gefältelte Halskrause, großmächtige Stulpenstiefel und einen schmucken Federhut. Dann ließ die Herzogin für ihn ein Bett in das Zimmer des Knaben stellen, und bei Tisch bekam er einen Platz neben dem jungen Prinzen. Dieser war kein bisschen begeistert. Denn bisher hatte sein Leben aus den kurzweiligen Spielen unter der Obhut der Frauen bestanden. Von jetzt ab sollte er zum Mann erzogen werden und das, wusste er, bedeutete harte Arbeit. Aber sein Lehrer machte ihm die Veränderung leicht, so dass dem kleinen Bürschchen die neuen Beschäftigungen eher als Kurzweil erschienen denn als Mühe. Und in ihrer Freizeit hatte der Fremde so viele lustige Einfälle, dass der Junge meinte, noch nie in seinem Leben soviel Spaß gehabt zu haben. Die beiden verstanden sich von Tag zu Tag besser. Schon bald war von einer baldigen Trennung nicht mehr die Rede, und der Herzog beglückwünschte sich insgeheim zu seinem Einfall.
Auch die Herzogin war äußerst zufrieden und tat alles, um dem Fremdling das Leben im Schloss angenehm zu machen. Trotzdem sah man niemals ein Lächeln in dem faltigen Gesichtchen. Bei aller Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit blieb es immer ernst und verschlossen. Auch der junge Herzog merkte bald, dass sein neuer Freund traurig war. Irgendetwas drückte ihm auf die Seele. Und eines Tages fasste er sich ein Herz und fragte ihn, warum er denn immer so still sei, ob irgendjemand im Schloss unfreundlich zu ihm sei.
„Oh nein“, antwortete der Kleine. „Ich habe noch niemals ein so bequemes Leben gehabt. Zu Hause, in meinem Berg, muss ich von früh bis spät arbeiten. Es gibt eine Menge zu tun für uns. Und trotzdem würde ich viel darum geben, wenn ich nur ein einziges Mal dort sein und alle meine Leute wiedersehen und mit ihnen sprechen könnte. Mir wird die Zeit so lang. Ich habe schreckliches Heimweh.“ Während er sprach, traten ihm die Tränen in die Augen.
Das schnitt dem Herzogssohn ins Herz. Sein Freund weinte, während er dank seiner der glücklichste Junge auf der Welt war! Das durfte nicht sein. „Ich werde meinen Vater bitten, dir Urlaub zu geben“, sagte er. „Er wird es dir bestimmt nicht verweigern. Du musst mir aber versprechen wiederzukommen. Das wirst du doch, nicht wahr?“ Voller Vertrauen schaute er seinen Lehrer an.
Dessen Augen leuchteten auf. Er nickte. „Ich verspreche es. Hier mein Ehrenwort.“ Er gab dem Jungen die Hand. Gemeinsam traten sie darauf vor den Herzog und trugen ihm ihr Anliegen vor. Der zögerte. Er fürchtete für die Standhaftigkeit des kleinen Bergbewohners. Doch schließlich siegten die Bittenden, und er willigte ein.“
Und damit wissen wir jetzt zumindest ein bisschen Bescheid, wie das Petermännchen ins Schweriner Schloss kam. Und auch die anderen Märchen und Geschichten des Hans Stamer lesen sich mit viel Freude und machen sogar ein bisschen Lust darauf, sich selber solche fantastischen Geschichten auszudenken (und anschließend aufzuschreiben), in denen es doch immer noch eine Lösung auch für die größten Schwierigkeiten gibt und in denen das Gute am Ende über das Böse siegt – Märchen eben. Trotzdem schön und beruhigend.
Viel Vergnügen beim Lesen und beim Nachdenken über Märchenhaftes im Alltag, weiter einen schönen Übergang vom Sommer zum Herbst und bleiben auch Sie weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.
Und können Sie sich eigentlich noch an die Aufregung um die erste Mondlandung am 21. Juli 1969 erinnern? Neil Armstrong berichtete damals, die Oberfläche sei fein wie Puder …
Was wohl Carlos Rasch damals gedacht haben mag?
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