Schlaflose Nächte, ein Glückskind sucht eine Frau und eine Pistole in der Innentasche – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
Eine alte Märchensammlung neu aufpoliert präsentiert „Die Gräfin und der Spielmann. Märchen aus der Bahnhofstraße“ von Karl Otto und Dietmar Beetz.
Zu hintergründigen Geschichten laden die Krimi-Etüden „Der Alte und das Biest“ von Dietmar Beetz ein.
Ebenfalls von Dietmar Beetz stammt der Roman „Das Goldland des Salomo“, in dem er dem Leben eines hierzulande noch immer recht unbekannten deutschen Afrikaforschers, Goldsuchers und Kartografen nachspürt.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Im heutigen Beitrag spielen zwei traurige Themen eine große Rolle – der Zweite Weltkrieg und der Holocaust, der nationalsozialistische Völkermord an 5,6 bis 6,3 Millionen europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs. Ziel dieses von 1941 bis 1945 in die Tat umgesetzten Menschheitsverbrechens war es, alle Juden im deutschen Machtbereich systematisch zu ermorden, ab 1942 auch mit industriellen Methoden. Das aber setzte die Bereitschaft voraus, auch im kleinsten daran zu glauben und an diesen verbrecherischen Aktionen mitzuwirken oder zumindest die Augen davor zu verschließen. Und genau letzteres – das nicht Sehen-wollen eines aktuell wieder aufflammenden Antisemitismus – sollte zur Wachsamkeit Anlass geben. Denn zu den historischen Voraussetzungen des Holocaust hatte der moderne Antisemitismus gehört, der seit etwa 1870 in Europa entstand. Und von diesen Gedanken waren es dann nur noch wenige Schritte bis zu der Vorstellung, dass man Europa „judenfrei“ machen wolle.
Bereits im November 1923 hatte Adolf Hitler erklärt, sämtliche Juden Deutschlands umzubringen, „wäre natürlich die beste Lösung“. Auch heute und erst recht heute sollte man also genau hinhören und lesen, wer wo was sagt. Sonst sind es vielleicht wieder nur wenige Schritte …
Erstmals 1979 erschien im Eulenspiegel Verlag Berlin der Roman „Unterm Hut in der Sonne oder Das neue Buch Nickel“ von Rainer Lindow: Auf der Erde ist der Mensch geworden, der Leuchtewitzer genauso wie der Sparkaner. Hat mit sich gekämpft das Leben lang, dass er besser werde, oder mit anderen. Er ist immer noch erschüttert, wenn die Erde wackelt und mit ihren Ozeanen schwappt, lacht und weint, wenn er glücklich ist, furzt auch mal, wenn er muss, oder verkneift es sich. Wahr ist: Zilla und Nickel werden Runzeln kriegen wie andere auch durch Kämpfe und bei Hochzeiten, vom Kindergeschrei und auf Lehranstalten, vom Lieben und durch Enthaltsamkeit, vom Fressen und vom Hungern, durch Krankheit, Gewalttaten, Lügen, Schlangestehen und Arbeitshast, wie die alte Mutter Erde selbst, auf der die beiden stehen, in wollnen Socken, unterm Hut in der Sonne, im elften Jahr nach Nickels Flucht aus dem letzten großen Krieg, weil er nicht mehr kämpfen wollte.
Der Roman erschien 1980 erst zehn Jahre nach seiner Vollendung, nachdem Rainer Lindow mit anderen Autoren und Lektoren infolge der Biermann-Affäre den Aufbau-Verlag verlassen musste, in dem der Roman ursprünglich erscheinen sollte. Der Eulenspiegel Verlag konnte das Buch bis 1989 in drei Auflagen mehr als 55 000-mal verkaufen. Und so beginnt er, der Bericht über das Leben des Nickel, der wie jeder Mensch auch seine Ahnen hat:
„Der erste Abschnitt
im Leben des Nickel ist seine Geburt, der erste Zahn, die Kindheit und die Jugend, besonders die Pubertät. Dinge, die es nicht lohnen, beschrieben zu werden, weil die Vorfahren mehr über ihn sagen können.
Dies ist der Anfang des Buches Nickel, das mit den Vorfahren beginnt, weil jeder abstammt und ein Stamm sich nicht leugnen lässt. Die Geschichte ist bekannt, Nickel nicht.
Aus all den Kriegen, die deutsche Fürsten machten, um Reiche zu haben, ist von Nickels Vorfahren nur überliefert, dass sie nie reich wurden, weil sie ziemlich eigensinnig waren. Sie blieben arm, wenn Kaiser und Päpste miteinander zankten und aus politischen Gründen barfuß liefen, und wurden auch in Stadtluft nicht frei, wie Jeremias, der Knecht, der im Suff einen Sohn Alomar zeugte, in die Stadt Bremen zog und dort als Dieb gehängt wurde.
Und wenn die Nickels mal zu was gekommen waren, wie Konrad zu einem Pferd, ging auch das vor die Hunde, weil es verhungern musste, nachdem Konrad von seinem Herrn und Ritter am Wegrand erschlagen worden war, weil er die Abgaben lieber seinen Kindern ins Maul stopfte. So liebten sich die Nickels und pflanzten sich fort durch die Generationen; eine Maria ging heimlich ins Heu mit Martin, dem Priester, und empfing dort ihren Sohn Baldemund, was hiermit bekannt wird. Der schlug sich tapfer durch den Bauernkrieg und starb am Rad.
In rascher Folge zeugten und starben die Nickels bis in den Dreißigjährigen Krieg hinein, wo ein Ewald in sackfinsterer Nacht auf der Flucht vor den Schweden unter ein Weib geriet und ihr beischlief bis zum Westfälischen Frieden, an der Ruhr starb und vier Söhne hinterließ, von denen keiner mehr sagen kann, wie sie unterm Joch schwitzten, um ihre Scholle zu brechen.
Durch den Spanischen Erbfolgekrieg geriet ein Juan in den Stamm, seine Mutter war eine katalonische Witwe. Juan war klar bei Verstand und schnell mit dem Messer, das er in jeden Wanst steckte, der Geld trug, und er starb jung an der Lues. Erst im sechsten Glied danach gelang es dem starken Bürger Clodwig, die heimtückische Krankheit aus der Familie zu schütteln. Das war, als sich das Kapital einen festen Platz erobert hatte und Bürger Clodwig bis auf seinen Sohn alles verlor.
Heinrich, der Kaufmann, zeugte nun Frieda, die schwanger wurde von einem Franz, der Sozialist war und seinen Sohn Fritz zur höheren Schule schickte, auf dass er Bischof werde. Doch der Student wurde Anarchist und baute Bomben, die lediglich Löcher in die Reihen der Freunde rissen, bis er Maria aus Leuchtewitz im Steinbruch traf. Sie legten sich zueinander, zeugten Nickels ältesten Bruder Johannes und übernahmen die Kirche von Sparka.
Fritz, der Pfarrer, zeugte noch einen zweiten Sohn Joachim, bevor er Nickel schuf, von dem im Weiteren die Rede ist.
Als Maria, die Mutter, schwanger war mit ihrem dritten Kind, betete sie inbrünstig, dass es eine Juana werde. Sie wollte so gerne ein Mädchen haben, damit sich viele ihrer Geburt erfreuten. Aber sie gebar einen Sohn und gab ihn uns in der Hoffnung, dass nach den vergangenen Tiefen einmal über die Hochzeit eines Nickel geschrieben werde.
In der Sparkaner Kirchenchronik wird nach längerer Wachstumsruhe noch die Geburt eines Mädchens aus dem Hause Nickel geführt: Marie-Louise. Nickels Schwester war sanft und verständig und machte den Eltern wenig Kummer, sodass jeder sie liebte. Sie erfuhr niemals, dass ihr ältester Bruder im Norden Afrikas bei Alexandria fiel, der andere in einem Dorf vor Murmansk erfror und Nickel in Lubischitz die Lust zum Kämpfen verlor und sich in die unkriegerischen Abschnitte seines Lebens aufmachte. Marie-Louise starb von einer Bombe, die nach ihrem Gebet um Frieden vom Himmel fiel.
Jedes Teil hat sein Gegenteil, und wenn an einem Ende der Erde am Abend einer das Feuer löscht, wird am anderen eben eines entfacht, und ein Nickel muss sehen, wie er damit zurechtkommt.
Sicherlich gäbe es noch einiges über die Vorfahren im Leben eines Nickel zu sagen, wenn nicht der zweite Abschnitt drängte, geschrieben zu werden.
Der zweite Abschnitt
im Leben des Nickel ist ein dunkles Kapitel, weswegen gleich auf die Umstände eingegangen wird, wie Nickel und seine Freunde an das Ende dieses Abschnitts geraten und was sie sich dort vornehmen.
Die Umstände sind bekannt, denn es wurde Nickel und seinen drei Freunden ein Rohr in die Hand gegeben und manchem mehrere, einige davon riesengroß mit Riesenkraft, und es wurde ihnen gesagt: Steht auf und macht einen Krieg, was nicht neu ist.
Da machten sie den Krieg, siebzehnjährig etwa und alle vier anders.
Matthias, Sohn eines Kolonialwarenhändlers aus Hamburg-Barmbeck:
Der Großvater hatte einen unscheinbaren Laden in der Wilhelmstraße gekauft, der einigen Gewinn brachte. So wurde der einzige Sohn Ladenbesitzer, und auch Matthias verkaufte Markenbutter und Eier, wie es beliebte, und ging nach der neunten Klasse nicht mehr in die Schule, weil er dort immer müde war. Statt nach Amerika, wohin es ihn zog, ging er in den Krieg und war auch dort immer müde. Nur das Englische trieb er heimlich weiter, und er trennte sich nirgends vom Wörterbuch, erst recht nicht auf den Latrinen der Welt, wohin der Krieg ihn setzte. Jetzt steigt er in löchrigen Stiefeln über die Wurzeln, und die Feldflasche beklatscht seine Backen. Die Maschinenpistole hat er einer Leiche von der Brust geschnitten, nun kann er das schwere Rohr nicht umhängen, weil der Riemen fehlt.
Matthias ist von schwächlicher Natur und hasste im Krieg die Anstrengung mit dem Gepäck. Am liebsten hätte er den Krieg nackt gemacht, aber das ging nicht wegen der Kälte in Lubischitz und weil die dunklen Haare im Schnee ein zusätzliches Ziel boten, was er einsah, nachdem einem Kameraden beim Kacken die Hoden abgeschossen worden waren.
Dies und die Plackerei veranlassten Matthias, beim Gemetzel um Lubischitz sich tot zu stellen und, als er fror, durch einen Sumpf dem Kessel zu entkriechen. Das alles weiß Nickel.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:
Erstmals 2014 veröffentlichte Sonja Voß-Scharfenberg im freiraum-verlag Greifswald die Erzählung „Eisblumen“: Thea, Jahrgang 1957, ist in Mecklenburg geboren, aufgewachsen und dort geblieben. In schlaflosen Nächten blickt sie auf ihr bisheriges Leben zurück. Erinnerungen an ihre gescheiterte Ehe und an Schicksalsschläge während ihres Alltags in der DDR drängen sich wieder in ihr Bewusstsein. Sie denkt an glückliche, aber auch schwierige Momente mit ihren Kindern und versucht rückblickend, Gründe für das heute eher komplizierte Verhältnis zu ihnen zu finden. Zwischen all das mischen sich Bilder ihrer Liebe zu Reida, mit der Thea nach der Wende ihres Lebens das ersehnte Glück und ihre Unabhängigkeit gefunden hat. Schnörkellos und mit klarem Blick auf die Dinge erzählt Thea von den Einschränkungen und Einsichten ihrer Lebensjahre. Und so beginnt diese spannend erzählte Lebensnachdenklichkeit:
„1
Es ist eine Stunde nach Mitternacht, als Thea wach wird. Der Rauchmelder an der Decke blinkt kurz auf, und zeigt damit seine Dauerfunktionsbereitschaft an. Eigentlich war Thea gegen die Installation dieser Geräte, aber die Wohnungsgenossenschaft ließ ihr keine Wahl und beteuerte eifrig deren Nützlichkeit. Thea fühlt sich immer, wenn sie diese Stand-by-Einstellung wahrnimmt, beobachtet und abgehört. Flächendeckend verwanzt, denkt Thea, ganz offiziell und verfassungsgeschützt, genehmigt und vom Opfer noch selbst finanziert. Das hätte das verlorene Land sich in seinen besten Zeiten nicht träumen lassen. Sie schaltet das Licht ein und sieht seufzend auf den Wecker. Einuhrfünf. Auf ihrem Nachtschrank stehen der Wecker und die Leselampe, liegen ihr Handy und ein Tonscherben, auf dem ein Frauengesicht eingeritzt ist und die Aufforderung „Pflücke den Tag“.
Den Scherben hat Reida ihr bei einem Weihnachtsmarktbesuch gekauft. Eine Rummelrose liegt noch daneben. Die kitschigste wohl, die Menschen sich ausdenken können. Rote Blütenblätter, die mit silbrigen Glimmersternchen besprüht sind, was ganz zweckmäßig ist, weil man dadurch auf den ersten Blick nicht ausmachen kann, wie eingestaubt sie manchmal sind.
Die Rose hat Theas Gefährtin ihr nicht gekauft, sondern geschossen. Reida schießt gut und ringt den Schießbudenbesitzern, die in ihrer Branche von einer Frau nichts weiter erwarten, immer ein erstauntes „Alle Achtung“ ab. Zehn Schuss — zehn Treffer. Zumeist. Unter acht nie.
2
Thea erhebt sich und stöhnt auf dabei. Sie stützt sich mit der Hand auf den Tisch, um dem schmerzenden Fuß nicht gleich das gesamte Körpergewicht zuzumuten, um einen Ausgleich zu schaffen, bis sie in die Gänge gekommen ist, wie sie es nennt.
Auf dem Tisch liegen Bücher und Zeitschriften, Stifte und Blöcke, Zettel mit Notizen, ein paar Hühnergötter, die Thea in den Jackentaschen vom Meer mit nach Schwerin genommen hat, und unzählige Lesezeichen von einem Kalender. Zum Fenster hin steht eine Vase mit Sommerastern. Ein Foto von Reida lehnt daran.
Und an einer Ecke des Tisches, an die Thea, auf dem Bett sitzend, ohne dass sie aufstehen muss, herankommt, lauert der Anfang vom Alter: Eine Packung Schmerztabletten, die schon zur Hälfte aus der Folie gedrückt sind, ein Glas Mineralwasser und eine Flasche Franzbranntwein zum Einreiben. Manchmal ergänzt noch eine auf dem Boden liegende Wärmflasche, die Thea dann im Halbschlaf aus dem Bett gelegt hat, das Bild der beginnenden Gebrechlichkeit, die die Gesellschaft im eifrigen Bemühen um Verdrängung Fünfzig Plus nennt.
Nebenan hört Thea den Fernseher ihres Sohnes. Also ist Henning da, was sie beruhigt und ihr Hoffnung macht, schnell wieder einschlafen zu können. Zumindest wird sich die Sorge, wann der Junge wohl endlich nach Hause kommt, erübrigen.
Draußen baut sich langsam ein Gewittersturm auf. Am Vorabend hat es im Anschluss an die Nachrichten eine Unwetterwarnung gegeben. Seit Tagen schon steht der Sommer schwer und drückend in der Luft, schlingt sich wie eine Zwangsjacke um die Stadt, und lässt sie mit gefesselten Armen und in phlegmatischer Dumpfheit durch die staubigen Tage torkeln, als habe sie alles Aufbegehren schon hinter sich und füge sich nun müde in ihr Schicksal.
Andernorts haben sich längst Gewitter entladen, haben die Himmelsgeister getobt und gewütet, ihre Ungunst ausgeschüttet und dieses und jenes Unheil angerichtet, zur Strafe wohl, dass der Mensch ihnen so viel Druck macht. Wieder einmal. Aber nachdem sie sich erschöpft und später zurückgezogen haben, sind die Orte erholt und belebt aus der Nacht hervorgekommen, haben durchgeatmet und es war, als habe die Gegend beschlossen, landesweit in wind- und wetterfrischer weißer Bluse in den Tag zu gehen.
In Ungeduld auf einen solchen erquickenden Morgen erwartet Thea zunächst einmal das Unwetter, ohne dass es die Abkühlung nicht geben wird und das schon seine sommerstürmischen Vorboten durch das Laubwerk der Bäume vor ihrem Fenster rauschen lässt. Und natürlich finden die Bewegungen der Äste sofort ihren vertrauten Tanzboden auf Theas Schranktüren.“
Erstmals 2002 erschien in der EDITION D.B. Erfurt „Die Gräfin und der Spielmann. Märchen aus der Bahnhofstraße“ von Karl Otto und Dietmar Beetz: Beetz, Karl Otto, hat vor mehr als 100 Jahren erstmals eine später viel gelesene Märchensammlung veröffentlicht, Dietmar Beetz, sein Urgroßneffe, hat jetzt 10 Märchen dieser Sammlung neu gefasst, zum Teil auch neu gestaltet. Entstanden sind so Texte, die da und dort entfernt an Vertrautes erinnern, dabei aber durchaus Eigenständigkeit besitzen. Und die im Übrigen voller Spannung sind – und nicht ohne Humor. Hier der Anfang des ersten der zehn Märchen:
„GLÜCKSMICHEL
„Du bist ein Glückskind“, sagte die Mutter zu Michel, ihrem einzigen Sohn, „und du hast mir immer gehorcht. Bitte, tu’s auch jetzt! Geh ins Dorf und such dir eine ordentliche Frau!“
„Wird gemacht“, erwiderte Michel und wandte sich zur Tür.
„Moment noch!“, rief die Mutter. „Dass du mir aber nicht rumstehst oder rumhockst und bloß gaffst! Tüchtig zugegriffen und gegessen, wenn sie dir was anbieten sollten!“
„Zugegriffen und gegessen!“, wiederholte Michel und marschierte los – auf Brautschau.
„Na“, fragte die Mutter, als er munteren Schrittes zurückkam, „wie war’s?“
„Nicht schlecht“, gab er zur Antwort. „Dumm eigentlich nur, dass ich Gras essen musste wie eine Kuh.“
„Gras – essen?“
„Ja doch! Den Blumenstrauß, den das Gretel mir gegeben hat, lauter Margeriten, Arnika, Vergissmeinnicht … Hab ich gekaut und geschluckt und gekaut!“
„Aber, Michel, Blumen zu verspeisen – wer hat dich denn auf die Idee gebracht?“
„Na, du, Mutter! ‚Tüchtig zugegriffen und gegessen, wenn man dir was anbieten sollte!‘ hast du gesagt, und ich hab’s gemacht.“
„Hm … Und das Gretel, die – Grete?“
„Die hat gelacht, mich ausgelacht.“
„Lass sie!“, sagte die Mutter nach einem Seufzer. „Musst halt noch eine Menge lernen. Blumen – das merk dir! – einen Strauß, den man auf Brautschau geschenkt kriegt, den isst man nicht, den steckt man sich an den Hut. Verstanden?“
„Klar, Mutter. Nicht essen – an den Hut stecken!“
„Gut. Und nun los und ein paar Häuser weiter dein Glück versucht!“
Diesmal klopfte Michel an bei der Liese, die er noch immer „Liesel“ nannte, obwohl sie mittlerweile zu einer jungen Frau herangewachsen war. Sie kochte gern und gut und servierte ihm deshalb nach einigem Gesprächsgeplänkel einen Mehlkloß mit herrlich duftender Zwetschkenbrühe.
Michel schnupperte, leckte sich die Lippen und griff nach der Gabel, besann sich dann aber.
„Denkst wohl, ich weiß nicht, was sich schickt?“, sagte er zu Liese, die ihn erwartungsvoll ansah. Und ohne eine Erwiderung abzuwarten, spießte er den Kloß auf die Gabel, steckte sich dieselbe an den Hut und goss die Brühe auf die Krempe.
Liese hatte die Handgriffe mit wachsendem Befremden verfolgt. Nun lief sie kreischend davon, verschwand und ließ Michel ratlos zurück.
Doch erst der Empfang daheim! Die Mutter schlug die Hände über dem Kopf zusammen, lachte und weinte beim Anblick ihres Sohnes, klagte.
„Was soll nur aus dir werden? – Steckst dir einen Kloß an den Hut, an den Hut einen Kloß! Wenn ich da an deinen Vater denk, dem ich, als er um mich anhielt, gleichfalls Klöße serviert hab … Halbiert hat er jeden und die Hälften nochmals sorgsam geteilt und jedes Viertel manierlich verspeist wie ein feiner Herr.“
Das kann ich auch, sagte sich Michel, und tags darauf ging er wieder auf Brautschau, abermals ein paar Häuser weiter, zu Katrin, die er schon als „Trinchen“ gekannt hatte. Diesmal brachte ihm die Umworbene ein Linsengericht – Linsen, von denen es hieß, wer sie esse, dem gehe nie das Geld aus.
Michel mochte Linsensuppe zwar nicht sonderlich, doch riss er sich zusammen und fragte verschmitzt: „Meinst wohl, ich könnte nicht speisen wie ein feiner Herr?“
Katrin guckte verständnislos.
Da schob Michel den Löffel beiseite, langte nach Messer und Gabel und begann, jede Linse in Viertel zu schneiden.
Er gab erst auf, als Katrin ihm lachend riet: „Geh, Michel, bitte, geh! Such dir die feine Dame, die zu dir passt!“
„Bist zwar ein Glückskind“, stellte daheim die Mutter bekümmert fest, „aber zum Heiraten offenbar noch zu dumm. Ich habe dich, meinen Einzigen, stets vor Widrigkeiten geschützt, doch nun musst du wohl oder übel in die Welt gehn, dich gründlich umsehn und lernen, dich endlich allein durchzuschlagen.“
Michel nickte. „Wenn’s sein muss …“
Die Mutter seufzte und füllte für ihn drei Töpfe mit Proviant. In den ersten drückte sie Butter, in den zweiten Quark, den dritten goss sie voll Milch.
„Nun wende alles gut an!“
„Werd ich schon“, versicherte Michel – und marschierte los, auf Wanderschaft.
Bald kam er an ein Wegstück, das von einem Gewitterguss aufgerissen worden war.
Was, wenn jemand in diesen Spalt tritt, stolpert und stürzt? ging es ihm durch den Kopf, und er griff in sein Bündel, öffnete den ersten Topf und strich die Butter in den Riss, damit das Wegstück wieder gefahrlos passierbar war.
Bald darauf gelangte er an einen schilfgesäumten, von dichtem Gestrüpp umstandenen Teich.
Dort probte gerade ein Frosch-Chor. „Quak, quak!“, schallte es dem Wanderburschen entgegen.
„Wenn ihr sonst nichts wollt“, erwiderte der, holte den zweiten Topf aus dem Bündel und warf eine Handvoll Quark nach der anderen ins Wasser, zwischen die verwundert verstummenden, weghüpfenden, abtauchenden Frösche.
„Gell, das schmeckt? – Na, wohl bekomm’s!“
Da es schon dämmerte, beschloss Michel, hier am Ufer die Nacht zu verbringen, und weil es kühl zu werden begann, suchte er dürres Holz zusammen und zündete sich ein Feuer an. Bald prasselten die Flammen, und bei einem Blick in die Glut sagte sich Michel: Eigentlich habe ich mich bisher allein ganz manierlich durchgeschlagen.
Schlief er ein dabei? Träumte er dann?
Plötzlich sah er eine weiße Schlange aus dem Schilf gekrochen kommen. Sie näherte sich ihm, hob den Kopf und züngelte, züngelte ihn an.
„Armes Tier“, sagte Michel im Traum oder tatsächlich im flackernden Schein seines Feuers, „hast sicher Durst. Wenn du magst – hier ist Milch, ein ganzer Topf voll. Trink nur, trink dich satt!“
Und sie trank, trank, bis sie gesättigt im Gras lag, reglos, wie erstarrt.
„Ist dir kalt?“, fragte Michel. Er berührte sie, spürte, wie kühl sie war, griff zu und sagte: „Komm, ich wärme dich; sonst erfrierst du mir noch.“
Da aber entglitt sie ihm und fiel …
Er schrak auf, hielt die Luft an, erstarrte.
Ins Feuer war sie gefallen, ins Feuer hier am Ufer dieses Teiches, und nun – nun stiegen Dämpfe auf, weiße Dämpfe, die dicht und dichter wurden, bis plötzlich ein Donnerschlag erdröhnte.
Vor Schreck fiel Michel auf den Rücken und schloss die Augen.
Als er sie wieder aufschlug, stand vor ihm ein Mädchen, eine wunderschöne, junge Frau. Sie hielt ihm die Hand hin, sagte: „Komm, Michel, steh auf!“
„Wer bist du?“, fragte er. „Wo kommst du her?“
Sie wies in die Runde, zu Gärten und zu einem Park, die im Mondschein lagen, zu einem Schloss mit hell erleuchteten Fenstern, aus denen Licht auf Kutschen und Pferde, auf geschäftige Menschen fiel.“
Erstmals 1998 erschien SPOTLESS-Verlag Berlin „Der Alte und das Biest. Krimi-Etüden“ von Dietmar Beetz: Auch wer kein Freund von Kriminalromanen ist, wird die Geschichten, die Dietmar Beetz geschrieben hat, mit stillem Vergnügen lesen. Er hat sie nicht im Milieu der Mafia oder schießwütiger Ganoven angesiedelt, sondern im Alltag der Gegenwart. „Manches ist so makaber, wie unser Leben“, bekannte ein Schriftstellerkollege in einem Brief an den Autor, der schon zu DDR-Zeiten zahlreiche Bücher veröffentlichte. Damals fuhr er als Schiffsarzt auf den Weltmeeren, heute betreibt er auf dem thüringischen „Festland“ eine kleine Praxis, die ihm Zeit lässt, zu schreiben. Manchmal könnte man glauben, die Wut über so manche Um- und Zustände geht mit ihm durch. Deshalb der Hinweis auf seinen humanistischen Beruf. Und gleich in der ersten dieser Krimi-Etüden ist eine der handelnden Personen, eine die wirklich und gewissermaßen am konsequentesten handelt, von Beruf – Arzt:
„ABSCHIEDSVISITE
Wie die Ermittlungen ergaben, war Dr. Z. mit seinem Wagen, einem älteren Wartburg, gekommen und hatte das Fahrzeug auf dem noch markierten – einst für ihn reservierten – Streifen rechts neben dem Werktor geparkt. Erwiesen ist, dass er ausstieg, die Tür hinter sich zuschlug und ohne abzuschließen, auf die Pforte zuging. Und vermuten lässt sich, dass ihm dabei die Tatwaffe sanft an den Brustkorb schlug.
Er trug die Pistole wohl in der Innentasche seines Jacketts, wo später ein Brief der Treuhandgesellschaft und eine Ansichtskarte aus Stuttgart gefunden wurden und wo sich zudem, wie Herr S. zu Protokoll gab, beim Erscheinen an der Pforte eine Schachtel mit Herztabletten befand.
S., Willi, Pförtner vom Dienst, der, seinen Aussagen zufolge, über das „Auftauchen“ des Arztes erfreut und verwundert war. Das Gespräch, das sich anspann, ja, die gesamte Begegnung verlief angeblich „wie unter Kumpels“. Hier ein Rekonstruktionsversuch:
„Mensch, Doktor, wie kommt’s denn? Klappt’s nun doch mit der Niederlassung hier?“
Der Arzt musste schlucken. „Hier?“, fragte er und wies zu den Werkhallen, die grau und verödet im Licht des Vormittags lagen.
Daraufhin nickte der Pförtner, seufzte und schüttelte den Kopf. „Trotzdem, Doktor … Nach all den Jahren!“
„Stimmt, Willi. Nach dreiundzwanzig Jahren, fünf Monaten, drei Tagen.“
Ein älterer Herr kam herein, schritt vorbei. Wallender Trenchcoat, Krawatte, hochgezogene Brauen …
„Treuhand“, raunte der Pförtner. „Heute setzt er den Schlussstrich.“
„Da werd’ ich mal hinterhergeh’n“, sagte der Arzt gepresst, „ihm meine Aufwartung machen. Vorausgesetzt, du lässt mich hoch.“
„Aber Doktor!“
Er zögerte, zerstreut, wie es schien, und fügte dann so locker wie möglich hinzu: „Na ja, ohne gültigen Ausweis …“
„Jetzt langt’s aber, Doktor! Den Ausweis – von Ihnen?!“
„Und die ‚Wachsamkeit’?“, erwiderte der Arzt mit belegter Stimme. „Keine Kontrolle wie früher manchmal? Wenn ich nun …“
Er brach ab, denn der Pförtner machte sich an dem verschlossenen, einst zusätzlich versiegelten Wandschrank neben seinem Fenster zu schaffen. Demonstrativ öffnete er die Tür, nahm die Schlüssel der Sanitätsstelle von einem der Haken, reichte sie heraus. „Wenigstens etwas einfacher.“
Der Arzt rührte sich nicht, wirkte wieder „wie weggetreten“.
„Nehmen Sie schon, Doktor! Sie können sich ja revanchieren, mit einem Rezept. Meine Herztabletten …“
Da holte er tief Luft, griff zu, starrte auf die Schlüssel in seiner Hand.
„Mit Rezepten ist nichts mehr. Ohne Niederlassung keine Zulassung, und ohne Zulassung …“
Er verstummte, steckte die Schlüssel in die Innentasche des Jacketts, zog kurz entschlossen jene Herztabletten heraus und gab die angebrochene Schachtel dem Pförtner.
„Hier … Weiter dreimal täglich! Und rechtzeitig für Nachschub sorgen!“
Der Pförtner, bei seiner Vernehmung anfangs beinah geschwätzig, war wortkarg geworden.
„Und sonst?“, bohrte der Kommissar. „Was wurde noch gesagt oder getan von Ihnen oder von ihm?“
„Nichts weiter. Bedankt hab ich mich, ihm was von Dank und so hinterhergerufen.“
„Und er?“
„Hat abgewunken und mir alles Gute gewünscht.“
„Alles Gute?“
„Ja.“
„Hm … Und keine Äußerung über diesen „Herrn“ von der Treuhand, nichts, wie seine „Aufwartung“ aussehen sollte?“
„Kein Wort.“
„Und Sie selber? Hat Sie nichts an ihm stutzig gemacht? Eine seiner Bemerkungen vielleicht, etwas an seinem Auftreten, seinem Verhalten?“
„Jetzt, nachträglich, schon, aber damals – nein, nichts.“
„Auch nicht, dass er Ihnen seine eigenen Herztabletten gegeben hat?“
„Auch nicht. Woher sollte ich denn wissen, dass es seine eigenen sind, dass er Herztabletten schluckt? Außerdem war das seine Art. Er hat nie was auf die lange Bank geschoben, mit Termin und „Vorbestellung“ und so; bei ihm ist man am selben Tag drangekommen, egal, wie spät es war, und wenn es um eine Dauerbehandlung ging, brauchte man bloß die Schwester oder ihn anzurufen oder anzureden, schon hat man seine Tabletten gekriegt oder wenigstens ein Rezept. Mir hat er mal auf dem Postamt in der Warteschlange was gegen Grippe aufgeschrieben.“
„Ein dynamischer, anpassungsfähiger Arzt also“, konstatierte der Kommissar.
„Na ja“, erwiderte der Pförtner. „Auf alle Fälle ein Doktor, wie man ihn sich wünscht.“
„Und wie erklären Sie sich, was passiert ist, wie er dazu fähig war?“
Willi S. zuckte die Schultern, versank, wieder spürbar zurückhaltend, in Schweigen, und dem Kommissar blieb nur, sich anderen Zeugen zuzuwenden.
Da war zunächst Mandy M., Sekretärin des Werkdirektors und das, was üblicherweise „Vorzimmerdame“ heißt; der Kommissar nannte sie, als er ihrer ansichtig wurde, sofort in Gedanken „Vorzimmerbombe“.
Als er eintrat, tippte sie gerade auf einer elektronischen Schreibmaschine. Ganz schön flott, ging es ihm durch den Kopf, und im Blick ihr Profil, dachte er: Die könnte es schaffen.
Seit er selber „überprüft“ wurde, ertappte er sich des Öfteren bei solchen Einschätzungen. Willi S. beispielsweise würde es vermutlich nicht schaffen, und auch er selbst war wohl den neuen Herrschaften zu alt und nicht genehm.
Er hatte gegrüßt und sich ausgewiesen, und nun kamen ihm erste Zweifel an den Perspektiven der Mandy M.
„Von der Kripo, wegen dem Doc? Da sind Sie bei mir richtig. Ich höre noch jetzt den Schuss und seh’ das Blut vor mir und denk’: Du spinnst; das ist nicht wahr. Dabei hab ich gewusst, dass so was kommen muss, hab es gespürt.“
„Wie das?“, erkundigte sich der Kommissar und zog sich einen Stuhl heran, irritiert sowohl durch den üppigen Mund wie durch das Summen der Schreibmaschine, die nicht abgestellt worden war.
„Was haben Sie gewusst, was gespürt?“ „Na, dass er fix und fertig ist, zu allem fähig. Das war mir klar, als er zur Tür reingekommen ist; da hat mir ein Blick genügt, und wenn er nicht so zugeknöpft gewesen wär’, hätt’ ich ihm das auch gesagt und das Schlimmste vielleicht verhindert. Aber so war er nun mal: immer Lord, unnahbar, eigentlich richtig schüchtern, nicht wie andere, die gleich nach dir grapschen, und wenn so einem das wie mit der Johanna passiert …“
„Johanna?“, hakte der Kommissar ein.
„Na, die Schwester, die ihn alleingelassen hat und sich, als hier die Lichter ausgegangen sind, nach drüben abgesetzt hat.“
Der Kommissar sah jene Ansichtskarte aus Stuttgart vor sich – seines Erachtens und nach Meinung anderer Kriminalisten ein ziemlich belangloses Dokument: Grüße, geschrieben mit fester Hand, und die sachliche Mitteilung, Arbeit auf einer Pflegestation gefunden zu haben.
„Sie glauben also“, fragte er die Sekretärin, „zwischen ihm und seiner Sprechstundenhelferin habe eine besondere Beziehung bestanden?“
Die vollen, kräftig geschminkten Lippen verzogen sich spöttisch. „Besondere Beziehung? Geschlafen, wenn Sie das meinen, haben die zwei nicht miteinander.“
„Woher wollen Sie das so genau wissen?“
„Das hätt’ man doch mitgekriegt in diesem Betrieb! Nein, da war nichts, aber sonst waren die zwei, wie man so sagt, ein Herz und eine Seele: sie – seine rechte Hand, und er ein Chef, wie man sich ihn nur wünschen kann.“
„Und ihre Abwanderung“, resümierte der Kommissar, „demnach für ihn ein harter Schlag.“
Die Sekretärin nickte.“
Erstmals 1993 erschien im Verlagshaus Thüringen Erfurt der Roman „Das Goldland des Salomo“ von Dietmar Beetz: Er hatte den Großteil seiner Ausrüstung zurückgelassen. Nicht nur die Tauschwaren, die er noch besaß, auch das meiste von seinem eigentlichen Gepäck, so den Schnappsack, die Wolldecke, den Regenschirm. Behangen mit einem gefüllten Wasserschlauch und mit der doppelläufigen Flinte, marschierte er in die empfohlene Richtung. Ringsum war es still wie oft in der Mitte des Tages. Kein Vogelgezwitscher, kein menschlicher Laut, nur das Zirpen einzelner Zikaden. Hätte Mauch nicht gewusst, dass sich da und dort eine Siedlung befand, der Landstrich wäre ihm trostlos entlegen und öde erschienen. Und plötzlich verspürte er wieder Zweifel: In dieser toten Gegend – das einstige Ophir, das Goldland des Salomo? Die Expeditionen des legendären biblischen Königs sollten vor nahezu dreitausend Jahren, nachdem sie das Rote Meer passiert hatten und bis in die Höhe von Madagaskar gesegelt waren, auf dem afrikanischen Kontinent noch einmal Hunderte Kilometer vorgedrungen sein, hierher, um Gold einzutauschen oder zu erbeuten und es schiffladungsweise nach Jerusalem zu schaffen?
Während Karl Gottlieb Mauch in Südafrika als „Vater des Bergbaus” in die Lehrbücher einging, geriet er in Deutschland fast völlig in Vergessenheit. Vielleicht kann dieser spannende Roman da Abhilfe schaffen? Hier lesen wir von Ankunft des Goldsuchers in Afrika, die nicht ohne Schwierigkeiten verläuft:
„Erstes Kapitel: EIN SEGELSCHIFF VOR PORT NATAL
Gut sechseinhalb Jahre vorher, am Abend des 11. Januar 1865, näherte sich die „Leeuwenhoek”, ein Dreimastschoner aus Rotterdam, der Reede vor Durban. Das Schiff war gezeichnet von den Strapazen der Fahrt entlang der westafrikanischen Küste und vom Kampf mit den Stürmen am Kap, doch sah es zu diesem Zeitpunkt noch leidlich intakt aus.
Karl Mauch, Steward und Hilfskoch, pendelte seit Stunden zwischen Kombüse und Deck hin und her. Sobald das Schiff anlegen würde, war seine Heuer, die Arbeit für Kost und freie Fahrt, zu Ende, aber nicht nur deshalb trieb es ihn jetzt wieder zum Kapitän, mit dem er sich während der Reise angefreundet hatte.
„Geschafft!“
Van Rijk wiegte den Kopf. „Abwarten!”
„Du meinst die Brise, die aufgekommen ist?”
„Genau. Eine Brise. Noch.”
Er warf einen Blick voraus, wo bereits drei Schiffe, heftig dümpelnd, vor Anker lagen. Dahinter, versperrt durch eine von Gischt markierte, bei Ebbe unpassierbare Barre, begann die Einfahrt zum Hafen, links flankiert von einem steilen, üppig bewachsenen, wie ein Bollwerk vorragenden Berg.
Zwischen den Klippen an seinem Fuß – das Wrack eines Schiffes. Mauch starrte hin, bevor er den Blick hob. Den Leuchtturm auf der Kuppe des Berges und den Mast der Signalstation hatte er schon von See aus bemerkt. Nun aber stutzte er. Es war, als lege sich ein Schleier auf die Farben der Flagge, als verschwimme der weiße wuchtige Turm in dunstigem Grau.
Das Barometer am Kompasshaus war, den Worten des Rudergängers zufolge, in der letzten Stunde zwei Strich gefallen.
Ein Kommando des Kapitäns, und Matrosen refften die Segel, soweit sie das Tuch nicht schon vorher eingeholt hatten. Über ihren Köpfen, dicht über Rahen und Toppen, jagten Wolken, die der Wind böig-peitschend von See herantrieb.
Der Kapitän befahl, den Anker zu werfen. Er musste dabei die Stimme heben, um den Aufruhr in den Lüften zu überschreien, und dann ging das Rasseln der Ankerkette unter in Fauchen und Donnergrollen.
Bald folgten Blitz auf Blitz, Schlag auf Schlag. Über der See barst die Wolkendecke, entleerte sich sturzartig – eine Wand aus schrägen Güssen, die sich heranschob.
„Na, noch der Meinung, wir hätten’s geschafft?”
Der Kapitän, in Ölzeug, war stehengeblieben bei Mauch, und der erwiderte: „Was kann uns hier schon groß passieren?”
„Hast du eine Ahnung! Überhaupt: Geh lieber unter Deck! Oder zieh dir wenigstens was über!”
Sturmböen, Vorreiter des Wolkenbruchs, rissen ihm die Worte vom Mund, und Mauch beeilte sich, den Rat zu befolgen. Er lief zum Niedergang, sprang, drei, vier Stufen auf einmal nehmend, hinab, griff in der Kajüte, wo sich seine Hängematte und seine Habseligkeiten befanden, nach Südwester und Ulster. Ein Ruck ließ ihn wanken, sich abstützen. Sekundenlang krängte das Schiff nach Backbord. Irgendwo Klirren, Gepolter, Geschrei …
Mauch stülpte sich den Südwester auf den Schopf und zog, zurückhastend, den leinölgetränkten, wasserabweisenden Mantel über. Er fühlte sich zwar als Laie in Sachen Schifffahrt, glaubte aber zu ahnen, was eben passiert war. Und dann stand er an Deck im niederpeitschenden Regen, hörte Befehle des Kapitäns, sah Matrosen an den Wanten und an den Rahen.
Wo waren die anderen Schiffe? Von Reede verschwunden? Er erblickte sie achtern; vorn, trotz der Regenschleier und trotz der einsetzenden Dämmerung erkennbar, erhob sich jener Berg, ragte das Wrack, bedrohlich nah schon, aus brodelnder Gischt.
Die Ankerkette gerissen, also doch, und nun trieb die „Leeuwenhoek”, trieb, geschoben vom Sturm, Richtung Klippen.“
Und doch kommt Mauch unbeschadet an Land und kann versuchen, sich seinen großen Traum zu erfüllen. Allerdings stößt er dabei immer wieder auf neue Hindernisse. Dennoch gibt er nicht auf – bis er eines Tages wieder dorthin zurückgeschickt wird, wo er knapp sieben Jahre zuvor hergekommen war – nach Deutschland.
Dietmar Beetz hat einen spannenden Roman geschrieben, in dem nicht zuletzt auch die große Politik eine gewisse Rolle spielt
Viel Vergnügen beim Lesen, weiter einen schönen Herbst und bleiben Sie auch weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.
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