Häusliche Gewalt in Partnerschaften – und die vergessenen Kinder
Wohl nicht zufällig wählten sie den heutigen Tag dafür aus, denn im Jahr 1999 bestimmte die UN-Generalversammlung den 25. November zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen.
Danach gab es 2021 rund 143.604 Fälle häuslicher Gewalt in Deutschland, bei denen 108 Frauen und 12 Männer gewaltsam zu Tode kamen. Rund ein Drittel der Taten erfolgt nach einer Trennung. Mindestens in jedem zweiten Fall häuslicher Gewalt gehören Kinder zum Haushalt, die die Gewalt miterleben mussten. Aus Sicht der Deutschen Kinderhilfe – Die ständige Kindervertretung e. V., ein Umstand, der viel stärker als bisher in den Fokus gerückt werden muss.
Warum, zeigt ein Blick auf die folgende Statistik. Im Jahr 2021 wurde 4.465 Kindern unter 14 in der Mehrzahl von ihren Eltern/Elternteilen schwere und schwerste Gewalt angetan. Bis heute bezeichnet der Gesetzgeber diese schwerwiegenden Delikte als „Kindesmisshandlung“, für die Deutsche Kinderhilfe in schlimmer Weise verharmlosend.
Hinzu kommt: Die Zahlen der erfassten Körperverletzungsdelikte gegen Kinder sind nicht repräsentativ. So werden etwa Körperverletzungen, die keine Spuren hinterlassen oder Spuren, die verdeckt werden können, häufig nicht angezeigt, auch wegen der Einflussmöglichkeit der Täter*innen innerhalb der Familie. Ob und wie viele erfassten Körperverletzungsdelikte mit häuslicher Gewalt zu tun hatten, wird nicht gesondert erhoben. Aus Sicht der Deutschen Kinderhilfe ist dies ein schweres Versäumnis, das dringend behoben werden muss, um überhaupt ein Bild der Zusammenhänge zwischen häuslicher Gewalt und Gewalt an Kindern zu erhalten. Eine weitere Zahl belegt die Notwendigkeit entsprechender statistischer Erhebungen deutlich: Im vergangenen Jahr starben 145 Kinder durch Gewalt, 118 von ihnen waren unter 6 Jahre alt.
Untersuchungen zufolge starb mindestens jedes vierte Kind, das durch Gewalt zu Tode kam, in Zusammenhang mit einer Trennung der Erziehungspersonen bzw. einem Streit um das Sorge- oder Umgangsrecht (vgl. hierzu u. a. Haug, M. & Zähringer, U., Tötungsdelikte an 6- bis 13-jährigen Kindern in Deutschland. Eine kriminologische Untersuchung anhand von Strafverfahrensakten (1997 bis 2012), KFN-Forschungsbericht No. 134, KFN Hannover 2017).
Problematisch ist, die Haltung vieler Jugendämter, häusliche Gewalt, bei der die Kinder nicht unmittelbar betroffen waren, sei keine Kindeswohlgefährdung. Miterlebte Gewalt durch einen Elternteil gegen den anderen Elternteil t verunsichert und verstörte Kinder zutiefst, nicht zuletzt, weil die Familie für sie ja gerade ein Schutzraum sein soll, in dem sie sich sicher fühlen wollen. Sie verlieren Vertrauen, nicht selten geben sie sich die Schuld, weil sie den geschlagenen Elternteil nicht schützen konnten und versuchen dies durch Hilfskonstruktionen zu kompensieren, z. B., indem sie dem geschlagenen Elternteil die Schuld zuweisen. Es kommen Zweifel an der Autorität des geschlagenen Elternteils auf, indem vermeintlich der Beweis angetreten wurde, dass derjenige, der Gewalt ausübt, die Macht über das Opfer hat.
Hinzu kommt, dass häusliche Gewalt in der Regel nicht nur einmal ausgeübt wird, sondern Teil eines länger andauernden Prozesses ist. Kinder in derartigen Familien stehen unter Dauerstress (vgl. hierzu: Stiller, A. & Neubert, C. Handlungsempfehlungen für das Jugendamt zum Umgang mit Fällen partnerschaftlicher Gewalt in Familien mit Kindern, KFN Hannover, 2021). Welche finanziellen Auswirkungen Traumata von Kindern für die Gesellschaft haben, belegt die folgende Zahl eindrucksvoll: die jährlichen Kosten für Traumafolgen durch Kindesmisshandlung, sexuellen Missbrauch und Vernachlässigung betragen in Deutschland 11 Milliarden Euro.
Die Istanbul-Konvention, die auch in Deutschland ratifiziert wurde, verpflichtet ihre Vertragsparteien zu gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Ausübung des Besuchs- oder Sorgerechts nicht die Rechte und die Sicherheit des Opfers oder der Kinder gefährdet. Dem entgegenstehend ist es in Deutschland trotzdem sehr häufig gängige Praxis der Jugendämter und Familiengerichte, vom gewaltbetroffenen Elternteil zu verlangen, Umgänge mit dem schlagenden Elternteil zu ermöglichen, obwohl noch nicht einmal die strafrechtlichen Ermittlungen abgeschlossen sind.
Einem Elternteil, das sich zum Schutz des oder der eigenen Kinder dagegen wehrt, wird oftmals Bindungsintoleranz oder Eltern-Kind-Entfremdung vorgeworfen. „Die ist dabei dem Grunde nach bei Trennungen nach häuslicher Gewalt sogar geboten, wenn das Elternteil sich nicht wegen Verletzung der Fürsorgepflicht strafbar machen will“, meint Rainer Becker, Ehrenvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe. „Die Betroffenen befinden sich in einem von Amts wegen oder von Gerichts wegen erzeugten Dilemma“, so Becker, „denn: wenn sie keine Anzeige erstatten, laufen sie aus den genannten Gründen Gefahr, ihr Sorgerecht zu verlieren und wenn sie aber Anzeige erstatten, wird ihnen vorgeworfen, sich im Verfahren Vorteile verschaffen zu wollen, sich rächen zu wollen und ihnen werden deshalb Bindungsintoleranz oder Eltern-Kind-Entfremdung vorgehalten.“
Nachdenklich stimmen erste internationalen Studien, denen zufolge rund viermal so häufig Frauen von dieser Vorgehensweise betroffen sind (vgl. hierzu Meier et al.: https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3448062, S. 13, 15-18, 22 und 23, entnommen am 13.11.2022).
Aus Sicht der Deutschen Kinderhilfe ist hervorzuheben, dass es nicht um die Interessen der Mütter oder Väter gehen darf, sondern allein das Wohl der Kinder im Mittelpunkt aller gerichtlichen Würdigungen zu stehen hat:
„In familienrechtlichen Sorge- oder Umgangsrechtsverfahren habe ich in Bezug auf die Istanbul-Konvention und den bestmöglichen Schutz der betroffenen Kinder vor Gewalt ehrlich gesagt den Eindruck, dass Deutschland noch immer ein Entwicklungsland ist“, erklärt Rainer Becker, Ehrenvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe – Die ständige Kindervertretung e. V.
Weitere Einzelheiten zum Thema können folgendem Interview unter https://youtu.be/c71UxQlJCac entnommen werden.
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