Hochkarätige Fachtagung – Austausch wissenschaftlicher Erkenntnisse und Therapiestudien zu den Langzeitfolgen einer SARS-CoV-2-Infektion
Der erste Long-COVID-Kongress wird gemeinsam ausgerichtet vom Ärzte- und Ärztinnenverband Long COVID und der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des UKJ. Welche besonderen Schwerpunkte haben Sie als Kongresspräsidenten gesetzt?
Dr. Vilser: Long COVID ist ein ausgesprochen komplexes Krankheitsbild. Es erfordert wie kaum eine andere Erkrankung die Zusammenarbeit sowohl von Forschungsgruppen zur Entschlüsselung der Pathomechanismen als auch von versorgenden Ärzten unterschiedlichster Fachdisziplinen bei der Behandlung der multiplen Symptome. Dies in unserem Programm widerzuspiegeln, war uns ein wichtiges Anliegen. Von zentraler Bedeutung war es auch, die Betroffenen zu involvieren. Diskussion über Versorgung müssen im Konsens mit den Patienten geführt werden, nicht an Ihnen vorbei. Wie wichtig uns Organisatoren dies ist, zeigt auch, dass die gleichen Ressourcen für den Ärztekongress wie für den parallel laufenden Betroffenenkongress zur Verfügung gestellt werden – von der Raumgröße bis zum Catering. Betroffene erhalten außerdem kostenfrei Zugang zu der Veranstaltung.
Erkrankte gelten nach überstandener COVID-Infektion als genesen. Woran merken sie, dass sie nicht gesund sind, sondern an Long-COVID leiden? Was sind typische Symptome?
Prof. Walter: Menschen, die vorher zum Teil sehr leistungsfähig waren, schaffen es auch nach Monaten nicht, Anforderungen im Beruf und im Privatleben zu meistern, die vorher kein Problem waren. Dies können körperliche Anstrengungen wie Treppensteigen sein, aber auch geistige, bei denen zum Beispiel eine leichte Vergesslichkeit oder eine geringere emotionale Belastbarkeit zum Problem werden. Schlimm wird es, wenn bei einer leichten Überforderung dann im Nachhinein eine verzögerte und längere Verschlechterung, zum Beispiel am nächsten Tag auftritt und Menschen so immer wieder neue Rückschläge erfahren.
Dr. Vilser: Ich bin Kinderarzt, aber in diesem Fall muss man gar nicht unterscheiden zwischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, da Betroffene in allen Altersgruppen über ähnliche Beschwerden klagen. Im Zentrum steht dabei meist die Fatigue, eine krankhafte Erschöpfung. Da sprechen wir nicht von nachmittags mal etwas müde sein, sondern von Patienten, die absolut nicht in der Lage sind, ihren Alltag zu meistern, bis hin zur Bettlägerigkeit. Häufig sind auch noch Schmerzen wie Kopf-, Brust-, Bauch- oder Gliederschmerzen. Eine Vielzahl der Betroffenen kann sich nicht konzentrieren oder leidet unter Störungen des Gedächtnisses, sogenanntem „Brainfog“. Luftnot, Schlafstörungen, Probleme beim Sprechen, Riechen oder Schmecken, Haarausfall – die Liste ist fast endlos. Über 200 Symptome sind im Zusammenhang mit Long COVID beschrieben.
Long-COVID kann jeden treffen, Langzeitfolgen einer SARS-CoV-2-Infektion sind gefürchtet. Auch wenn vieles noch unklar ist – gibt es inzwischen schon erste Erkenntnisse für die Behandlung?
Dr. Vilser: Wir sind mittlerweile relativ sicher, dass es nicht den einen Pathomechanismus gibt, also eine einzige Ursache, die alles erklärt. Es wird verschiedene Cluster von Patienten geben. Damit ist auch klar, dass es nicht die eine, alles heilende Methode geben wird. Stand jetzt muss man leider sagen, es gibt noch gar keine validierte kausale Behandlung. Wir können bei einigen der Patienten schon gut symptomatisch helfen, indem wir zum Beispiel Schmerzen oder Schlafstörungen behandeln. Es gibt auch kausale Behandlungsansätze, die sich in Erforschung befinden, und wir haben neu entwickelte oder auch schon bekannte Medikamente, die bisher für andere Erkrankungen benutzt wurden. Ein Teil dieser Medikamente und neuen Verfahren wird auf dem Kongress vorgestellt und diskutiert. Aber nur, weil derzeit schon etwas bei verzweifelten Patienten ausprobiert wird und es einzelne Berichte der Besserung gibt, heißt es noch lange nicht, dass es auch sicher und wirksam ist! Dazu bedarf es wissenschaftlicher Untersuchungen und ich bin wirklich gespannt auf die Ergebnisse, die uns dazu präsentiert werden.
Prof. Walter: Wichtig ist es neben möglichen neuen Therapien vor allem auch, den Patienten einen bestmöglichen Umgang mit ihrer Beeinträchtigung zu ermöglichen. Hierbei ist es wichtig, dass Betroffene mit Unterstützung lernen, welches Verhalten zu einer Verschlechterung der Symptome führt und wie man mit einigen Tricks dagegen angehen kann. Weil es eine Breite von Symptomen gibt, ist es wichtig, mit den Patienten die individuelle Situation möglichst gut zu erfassen. Vor allem auch, weil uns aktuell kaum etablierte Heilverfahren zur Verfügung stehen.
Angesichts der Bandbreite von Pathomechanismen, die beim Kongress vorgestellt und diskutiert werden – welche Möglichkeiten bietet die Grundlagenforschung?
Dr. Vilser: Die Grundlagenforschung ist von höchster Wichtigkeit. Nur wenn wirklich verstanden wird, wie eine Erkrankung entsteht, kann man gezielte Therapien entwickeln. Außerdem fehlen uns derzeit auch immer noch Biomarker, also Signale im Blut, welche eindeutig die Diagnose Long COVID erlauben. Das führt dazu, das viele Patienten um Glaubwürdigkeit kämpfen müssen, als Simulanten oder arbeitsscheu bezeichnet werden. Die Grundlagenforschung hat hier auch schon einiges geliefert, aber leider bisher noch wenig, was in der Praxis gut einsetzbar wäre.
Prof. Walter: Auch wenn das Long-COVID-Problem ein neues ist, so sind ähnliche Symptome auch nach anderen durchlaufenen Entzündungen bekannt. Durch die Erforschung möglicher gemeinsamer Ursachen und Therapieansätze könnten noch gezielter Erfahrungen aus diesen anderen Erkrankungen genutzt werden und natürlich auch Erkenntnisse in der Behandlung von Long COVID für solche Krankheitsbilder übertragen werden.
Welche weiteren notwendigen Schritte werden diskutiert, um die Versorgung von Patienten analog zum aktuellen Wissensstand zu verbessern?
Prof. Walter: Wichtig wird aus meiner Sicht sein, dass möglichst rasch viele ärztliche Kollegen mit dem neuen Krankheitsbild vertraut gemacht werden. Nur so können Betroffene schnell erkannt und, falls nötig, auch an spezialisierte Behandler weitergeleitet werden. Mittelfristig müsste aber auch eine breite Versorgung jenseits von spezialisierten Zentren ermöglicht werden, vielleicht in einer engen Kooperation mit solchen Einrichtungen, die den schnell wachsenden Wissenszuwachs dann auch fortlaufend in diese Ebene tragen können und durch eine Zusammenarbeit mit den Primärversorgern ein bestmögliches Bild über die Krankheit und ihre Verläufe erhalten.
Dr. Vilser: Ein paar Dinge, mit denen wir Patienten helfen, sind ja schon bekannt. Aber das nutzt den Betroffenen nicht, wenn dieses teilweise in Studien erworbene Wissen nicht bis zu ihren behandelnden Ärzten kommt. Die Haus- und Kinderärzte sind diejenigen, die 90% der Patienten sehen. Diese müssen wissen, wie sie in verschiedenen Situationen reagieren sollen, welche Medikamente Sinn machen, welche Patienten zu Spezialisten weitergeschickt werden müssen und wo sie diese überhaupt finden. Long-COVID-Patienten sind aufwendig. Die Ärzte, die sich mit ihnen beschäftigen, müssen dringend unterstützt werden. Weitere Anlaufstellen und Behandlungszentren müssen geschaffen werden. Dazu braucht es die Unterstützung von Politik und Krankenkassen.
Auch wenn über Häufigkeit und Ausmaß der Beschwerden bisher noch zu wenig aussagekräftige Untersuchungen vorliegen – wo steht die Versorgungsforschung? Inwiefern ist Long COVID eine Herausforderung für das Gesundheitswesen?
Prof. Walter: Die Versorgungsforschung steht aufgrund der nur sehr lückenhaften Versorgungsstrukturen wohl noch mehr in den Kinderschuhen als so manche Grundlagenforschung. Das Versorgungsproblem ist erkannt, es gibt aber erst sehr wenige Ansätze, anhand derer sich Erkenntnisse über geeignete Versorgungsformen gewinnen lassen könnten. Modellvorhaben werden daher dringend benötigt. Insbesondere, da die Erkrankung bislang keiner einzelnen Fachrichtung „zugeordnet“ ist, muss sich vor allem die Zusammenarbeit zwischen den Fachdisziplinen erst einspielen. Auch wird sich herausstellen müssen, in welchem Umfang unser Gesundheitssystem in der Lage sein wird, diese große Zahl von neu aufgetretenen, zum Teil schwerwiegenden Beeinträchtigungen zu versorgen. Tragischerweise treten diese neuen Fälle nun auch zu einem Zeitpunkt auf, zu dem wir zunehmend die Kollateralschäden der Pandemie, zum Beispiel durch eine reduzierte medizinische Versorgung in der Hochphase der Infektionswellen, erkennen und behandeln müssen.
Dr. Vilser: Etwa 10% der der mit SARS-CoV2 infizierten Erwachsenen und 1-3% Kinder leiden auch Wochen nach der Infektion noch unter Symptomen, welche durch diese verursacht wurden und erfüllen damit die Kriterien von Long COVID. Auch wenn es glücklicherweise, besonders bei Kindern und Jugendlichen, eine hohe Rate an spontanen Besserungen im Laufe der Zeit gibt, bleiben noch hunderttausende Betroffene, die unter teils massiven Einschränkungen ihrer Lebensqualität leiden. Auf die Versorgung dieser zeitaufwendigen Patienten ist unser Gesundheitssystem derzeit nicht gut eingestellt.
Die Stärkung der interdisziplinären und transsektoralen Zusammenarbeit ist erklärtes Ziel beim ersten Long-COVID-Kongress. Weshalb ist das – auch mit Blick auf die Patienten – so wichtig?
Dr. Vilser: Das erklärt sich zum Beispiel an einem der häufigsten Symptome ganz gut. Die Fatigue, über welche viele Patienten klagen, kann Symptom von verschiedenen Erkrankungen sein. Wird der Patient nur zu einem Kardiologen geschickt, welcher eine isolierte Herzerkrankung ausschließt, so ist dem Patienten noch nicht geholfen Gleiches trifft auf Pneumologen, Psychologen oder Neurologen zu, wenn sie isoliert ihr Behandlungsfeld betrachten. Die Symptome bei Long COVID können jeden Organbereich betreffen und dort Funktionseinschränkungen verursachen. Teilweise sind diese messbar mit unseren derzeit verfügbaren Methoden, teilweise nicht. Wichtig ist aber, dass die Expertise aller Spezialisten und der primär behandelnden Hausärzte zur Betreuung nötig ist.
Inwiefern profitieren alle Beteiligten von der „partizipativen Komponente“ der Tagung – der Kombination eines wissenschaftlichen Fachkongresses, eines Austauschs für den täglichen klinischen Einsatz für Hausärzte und eines Patientenforums?
Prof. Walter: Wir erhalten heute immer wieder Berichte von Patienten, die auf eine sehr geringe Sachkenntnis bei ihren Behandlern gestoßen sind. Demgegenüber beschäftigen sich manche Betroffene sehr intensiv mit der sich schnell verändernden Datenlage. Demgegenüber wussten die meisten Ärzte bis vor kurzen noch so gut wie nichts von der Erkrankung. Damit sich beide Seiten zunehmend besser verstehen und auf Augenhöhe konstruktiv miteinander die Probleme und Lösungen angehen können, wird es wichtig sein, dass jeder sich bestmöglich mit seinen Ressourcen einbringen kann. Ich kann mir gut vorstellen, dass der Austausch mit gut informierten Betroffenen für interessierte Ärzte hierbei mindestens genauso wichtig ist wie der Kontakt mit kritischen Forschern, die Patienten ein möglichst gutes Bild von der derzeitigen Evidenz einzelner Therapieverfahren geben können, und zwar in einer verständlichen Sprache, die inhaltlich genauso eindeutig und exakt bleibt, wie es in Fachkreisen verlangt wird.
„Long COVID – Gemeinsamer Aufruf zum Handeln: Was haben Gesundheitswesen und Politik bisher getan, was müssten und was können sie tun?“ – die hochkarätig besetzte Podiumsdiskussion, unter anderem mit Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach und Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow, ist ein wichtiger Schritt mit Blick auf verbesserte Versorgungsmöglichkeiten…
Prof. Walter: Die Teilnahme von unterschiedlichen Diskussionspartnern sowohl aus Bund- als auch aus Länderebene, ebenso aus Behandler- wie Patientensicht und dass neben sehr prominenten Long-COVID-Experten zum Beispiel auch die Sicht der Krankenkassen in einen gemeinsamen Dialog einfließt, steht nicht nur symbolisch für die hohe gesellschaftliche Bedeutung, die der Erkrankung inzwischen zugesprochen wird, sondern auch für die Erkenntnis, dass wichtige und dringliche Schritte zur Verbesserung der Lebenssituation nur gemeinsam erreicht werden können.
Dr. Vilser: Nur mit Hilfe von Politik und Krankenkassen sind Mängel in der Versorgung langfristig zu verbessern. Wir freuen uns sehr, dass dieses Thema in der obersten Riege der Verantwortlichen angekommen ist. Die Besetzung der Podiumsdiskussion zeigt, dass die Sorgen der vielen Menschen, die noch Wochen nach der Infektion unter dieser leiden, gehört werden. Wir hoffen, dass dies ein Signal dafür ist, auch in den bestehenden Strukturen etwas für die Patienten zu zun.
Im Rahmen des Kongresses spielt auch der DZPG-Standort Jena eine Rolle. Wann wird es erste Anhaltspunkte geben, wie sich die Arbeitsweise des Gehirns während oder nach Infektionen verändert und wie sich das auf die Psyche und das zwischenmenschliche Verhalten auswirkt?
Prof. Walter: Wir stehen hier erst ganz am Anfang der Forschung. Long-COVID hat uns aber einmal mehr die Relevanz dieser Zusammenhänge aufgezeigt und hat uns einmal motiviert, diesen Wechselbeziehungen auf den Grund zu gehen. Wir erhoffen so nicht nur wichtige Erkenntnisse über körperliche Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten bei den sehr häufigen psychischen Erkrankungen wie zum Beispiel Depressionen zu erhalten, sondern wir glauben auch, dass unsere Forschung dazu beitragen kann, die psychische Gesundheit auch im Rahmen von körperlichen Erkrankungen oder gesundheitlichen Gefährdungen besser zu schützen. Wichtige Schritte werden für uns darin liegen, dass wir über die bereits bestehenden Erkenntnisse zu Korrelationen zwischen den einzelnen Symptomen und zum Beispiel Blutmarkern hinaus genauer auf die Mechanismen und Ursachen schauen werden.
Wir bedanken uns herzlich für das Interview!
Alle Informationen und das wissenschaftliche Programm sind auf der Kongress-Homepage www.long-covid-kongress.de abrufbar.
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