Eine Weihnachtsgeschichte aus schwerer Zeit
HERMANN BOKELMANN
Das Herdfeuer als Adventslicht
Immer in den dunklen Tagen vor Weihnachten erinnere ich mich an ein Erlebnis in der Adventszeit des Jahres 1946. Die Post hatte nach dem Krieg erst im Februar 1946 ihren Betrieb wieder aufgenommen. Da der Posthalter in Dünsen als Soldat den „Heldentod fürs Vaterland“ in Russland gestorben war, wurde ich als 17-Jähriger als Briefträger für Dünsen und Klosterseelte eingestellt.
Die Masse an Post, die es heute gibt, gab es damals nicht. Es gab noch keine Tageszeitungen und Zeitschriften, keine Rechnungen und Werbepost. Umso mehr warteten die Menschen auf Briefe von Angehörigen.
Im Sommer waren die Heimatvertriebenen aus Schlesien und Pommern gekommen und vielfach notdürftig untergebracht. Oft nur in einem Zimmer. Teilweise in alten Speichern, auf denen der Wind durch Fenster und Türspalten pfiff. Sie warteten alle auf Nachricht vom Suchdienst des DRK, um zu erfahren, wohin es ihre Angehörigen verschlagen hatte.
Viele Männer waren noch in der Kriegsgefangenschaft. Die Briefe aus England und Amerika kamen oft, die Karten aus Russland seltener. Viele Frauen und Mütter haben sogar jahrelang gewartet – und bekamen nie Nachricht. Ich vergesse ihre Fragen nicht: „Hast du noch keine Post von unserem Jungen?“
Es waren ehemalige Schulkollegen, die nur zwei Jahre älter waren als ich. Wir sollten mehr daran denken, wenn auf einem Grabstein „Unbekannter Soldat“ steht, dass die Angehörigen nie etwas vom Schicksal des Toten erfahren haben.
Ich schicke die Schilderung der damaligen Zeit voraus, damit man mein Erlebnis richtig versteht, an das ich mich immer in der Adventszeit erinnere.
Ich war an einem späten Nachmittag, am Ende der Tour, bei den letzten Häusern im Dorf Klosterseelte angelangt. In der hereinbrechenden Dämmerung musste ich mich auf Ordemanns Hof der Angriffe des Ganters erwehren, der mir zischend an die Hosenbeine wollte. Als ich beim nächsten Hof ankam, lag das ganze Dorf im Dunkeln – das Überlandwerk Syke (Vorläufer von Eon) hatte wieder den Strom abgeschaltet.
Die Kraftwerke hatten in der Nachkriegszeit nicht genügend Kohle, um den erforderlichen Strom zu produzieren, obwohl er nur für Glühlampen, Radios und wenige Motoren gebraucht wurde. Es gab ja noch keine Fernsehgeräte, Waschmaschinen, Geschirrspüler, Tiefkühltruhen und PCs. Heute bricht gleich die Welt zusammen, wenn der Strom ausfällt – damals passierte das täglich mehrmals, wenn das Netz überlastet war.
Bei Döpkes tappte ich über den dunklen Flur zur Küche hin. Dort war auch kein Licht, nur ein kleiner Schimmer kam vom Herdfeuer. „De Kerls sind mit de Petroleumslampen in Staal und fort dat Veeh“ (Die Männer sind mit der Petroleumlampe im Stall und füttern das Vieh), meldete sich Mutter Döpke aus der Dunkelheit.
Ich wusste, dass ich gute Post für sie hatte, die ich aber erst in meiner Zustelltasche finden musste. Dabei half mir das Feuer im Herd, auf dem schon in der großen Pfanne die Bratkartoffeln für das Abendessen brutzelten. Ich öffnete das Feuerungstürchen, ging in die Hocke – das ging mit 17 Jahren besser als im Alter – und zog die Karte mit dem Roten Halbmond hervor: Es war eineinhalb Jahre nach Kriegsende die erste Nachricht von Döpkes Sohn Heinrich aus dem Kriegsgefangenenlager in Russland.
Die Karte aus Russland und der Feuerschein aus dem Herd brachten in der Adventszeit 1946 mehr Licht als tausende von Lampen und Lichterketten, die heute in der Vorweihnachtszeit so stark leuchten, dass die Menschen das wahre Licht zu Weihnachten kaum noch erkennen.
Lasst uns dankbar sein, dass wir weiterhin Weihnachten in Frieden, Freiheit und Wohlstand erleben dürfen.
Die Geschichte hat der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. im Band 4 der Reihe „Weihnachtsgeschichten in schwerer Zeit“ veröffentlicht. Sein Titel: „Licht in der Dunkelheit“ (2022). Das Buch ist über www.volksbund.de/mediathek oder per Mail über bestellungen@volksbund.de kostenfrei erhältlich. Der Volksbund ist ein gemeinnütziger Verein und finanziert seine Arbeit über Mitgliedsbeiträge und Spenden.
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